„Wer glaubt, hat keine Zweifel“ – so heißt es in mancher Predigt. Der Zweifel erscheint als Gegner des Glaubens, der die Gewissheit des Glaubenden in Gefahr bringt. Tatsächlich wäre es ein Traum, die vielen Zweifel am Glauben loszuwerden und Gewissheit zu haben. Viele Glaubende weisen deshalb jede Ungewissheit von sich, lassen Zweifel gar nicht erst aufkommen und weisen jede Kritik – meist brüsk – von sich.
Dabei ist der Zweifel normal. Er gehört zu uns Menschen. Er ist sogar eine Triebfeder, die den Menschen in seinem Streben nach Erkenntnis vorantreibt. Der Zweifel bewahrt uns vor falscher Sicherheit und Selbstzufriedenheit. Gerade im Bereich der Religion ist die Auseinandersetzung mit dem Zweifel sogar notwendig. Die von manchem Christen vermutete Gewissheit, die eine reale Begegnung mit dem irdischen Jesus mit sich bringen müsse, wird schon im Neuen Testament konterkariert:
So berichtet etwa Lukas, dass – nachdem Jesus einen Stummen von seinem Dämon befreit hatte – einige der Anwesenden sagten:
Mit Hilfe von Beelzebul, dem Anführer der Dämonen, treibt er Dämonen aus. (Lk 11,15 parr)
Selbst die reale Erfahrung eines von Jesus gewirkten Wunders ist also nicht geeignet, unmittelbare Gewissheit zu verschaffen, sondern ist für Manchen eine Anlass zum Zweifel. Kann man nun aber angesichts der Unausweichlichkeit des Zweifels überhaupt glauben?
Der in Wien geborene und den USA lebende renommierte Religionssoziologe Peter L. Berger und der niederländische Kultursoziologe Anton Zijderveld haben sich in ihrem mehr als lesenwerten Buch „Lob des Zweifels“ nicht nur mit dem Phänomen des Zweifelns an sich auseinandergesetzt; sie räumen auch gründlich mit einer Hoffnung auf einen zweifelsfreien Glauben auf. Mehr noch: Ihre Argumentation zeigt auf, dass der zweifelsfreie Glaube, den sie als den „fraglosen Glauben“ bezeichnen, für das menschliche Zusammenleben sogar gefährlich wird.
Peter L. Berger und Anton Zijderveld erarbeiten ihre These der Notwendigkeit des Zeifels in sieben Kapiteln. Das erste Kapitel geht phänomenologisch vor und beschreibt die gegenwärtige Welt, wie sie ist: Säkularisiert , pluralistisch, individualisiert. Der Einzelne sieht sich nicht mehr einem numinosen Schicksal ausgeliefert, sondern einem Zwang zur Wahl. Damit einher geht die Beobachtung, dass die ehedem geschlossenen (auch religiösen) Lebenskontexte und -milieus nicht mehr vorhanden sind. Folglich ist der Einzelnen heute auch gezwungen, sich ständig mit anderen Lebensentwürfen und Sinnstiftungskonzepten auseinanderzusetzen. Dass das nicht ohne Einfluss auf die Religion bleibt, versteht sich fast von selbst.
Die sich hier abzeichnende Dynamik des Relativierens ist das Thema des 2. Kapitels. Der Mensch kann sich als soziales Wesen der ständigen Beeinflussung durch andere, mit denen er umgeht gar nicht entziehen. Die hier grundgelegte „kognitive Dissonanz“ stellt allerdings eine stetige Infragestellung des eigenen Selbstbildes dar, die der Mensch versucht zu vermeiden. Nach Berger/Zijderveld haben sich bei der Abwehr kognitiver Abwehrstrategien vor allem religiöse und politische Systeme als besonders geschickt erwiesen (vgl. S. 43). Fehlt hingegen ein Konzept kognitiver Abwehr, setzt zwangsläufig die relativierende Wirkung des Einflusses der Anderen ein. Welche Bedeutung das etwa auf religiösem Gebiet hat, schildern die Autoren eindrucksvoll an einem Beispiel aus Washington D.C.
Das dritte Kapitel befasst sich eingehender mit dem Phänomen des Relativismus. Dabei wird deutlich, dass ein purer, unreflektierter Relativismus sich selbst relativieren muss und damit zur Belanglosigkeit degeneriert. Dabei muss selbst der Relativist anerkennen, dass es
in dieser Welt Fakten [gibt], und wenn mann darum bemüht ist, Fakten sicherzustellen, […] auch Objektivität möglich [ist]. (S. 75)
Das vierte Kapitel befasst sich mit dem Phänomen des Fundamentalismus. Dabei wir neben einer kurzen Darstellung der Entstehung des Begriffs „Fundamentalismus“ vor allem auf die Merkmale des gegenwärtigen Fundmentalismus eingegangen. Die Schlussfolgerung von Berger/Zijderveld lautet: Der Fundamentalismus ist ein reaktives und modernes Phänomen, das sich vom Traditionalismus stark unterscheidet (S. 84f). Gegenüber dem Relativismus, dem ein grundsätzlicher Zweifel existent inhärent ist, lässt der Fundamentalismus den Zweifel erst gar nicht zu. Der Prototyp des religiösen Fundmentalisten ist daher gegen den Zweifel resistent. Das macht sich etwa in der Haltung des Betens deutlich:
Spirituelle Leiter [werden], wenn sie mit zweifelnden Anvertrauten konfrontiert werden, diesen zunächst einmal bestimmte Verhaltensweisen ans Herz legen. Die Formel hier ist ganz einfach: Um beten zu können, muss man nicht lgauben, sondern man betet, um glauben zu können. (S. 98)
Der Prototyp des Fundamentlisten ist der „fraglos Gläubige“, der keinen Zweifel zulässt. Der Zweifel an sich wird grundsätzlich negativ konntoiert. Die drohende Gefahr dieser Haltung liegt in einer Neigung zum Totalitarismus, der einen Verlust der Freiheit des Menschen bedeutet.
Das fünfte Kapitel zeigt eine gegenüber einem überbetonten Relativismus und einem fraglosen Fundamentalismus mittlere Position auf, die Gewissheit und Zweifel in eine fruchtbare Relation zueinander setzt. Tatsächlich gibt es ja absolute Wahrheiten, wie etwa die Unausweichlichkeit des Todes, die auch ein Relativist anerkennen muss. Auf der anderen Seite sind Wahrheiten grundsätzlich offen für Falsifikation:
Sie ist auf Raum und Zeit bezogen, auch wenn jemand, der dem einen oder anderen metaphysisch begründeten Glauben anhängt, das nicht so sieht. (S. 102).
Der fraglos Gläubige hingegen, der den Zweifel gar nicht erst zulässt, steht hier vor einem Dilemma: Entweder seine Weltanschauung kollabiert oder er konstruiert eine neue vermeintlich absolute Wahrheit, die es ihm ermöglich, seinen fraglosen Glauben zu behalten. Hier liegt – das sei am Rande bemerkt – eine Ursache für die vielen Teufelsvorstellungen, die den Glauben an den guten Gott bestätigen sollen – freilich um den Preis, dass sie eine neue Heidenangst vor den Dämonen begründet, die dann zweifellos die eigene Existenz bedrohen.
Wer aber für den Zweifel offen ist, bleibt vor dieser Gefahr bewahrt. Der redlich Zweifelnde ist hingegen vor der Gefahr der „Tyrranei der eigenen Überzeugungen“ gefeit. In dieser Sicht erscheint der Zweifel an sich sogar wertvoll für den Erkenntnisfortschritt zu sein:
[Sokrates] stellte Fragen und behauptete, die Antworten nicht zu kennen. Sein Ziel war es nicht, Überzeugungen zu lehren, sondern den Geist von falschen Überzeugungen, vorgefassten Vorstellungen und unzutreffenden Vorurteilen zu säubern. Anders gesagt: Sokrates leitete seine Schüler dazu an, ihre Überzeugngen symstematisch dem grundsätzlichen Zweifel zu unterwerfen. (S. 123)
Der Zweifel bewahrt damit sowohl vor einem unreflektierten Absolutismus wie vor einem rigiden Relativismus. Er bildet sogar die Grundlage für das demokratische System, das ohne Wahlmöglichkeit und der Anerkennung, politisch anders denken zu können, gar nicht existieren könnte.
Freilich hat auch der Zweifel seine Grenzen. Damit befasst sich das sechste Kapitel. So braucht der Mensch grundlegende moralische Gewissheiten, an denen er sein Handeln ausrichten kann:
Eine solche Gewissheit gründet auf eine sich im Lauf der Geschichte entwickelnden Wahrnehmung, was es heißt, Mensch zu sein. Einmal erlang, nimmt diese universalen Charakter an. Oder anders gesagt: An bestimmten Zeitpunkten in der Gescichte wird der Sinn der Würde des Menschen wahrgenommen. Ist er einmal wahrgenommen, so transzendiert er diese Zeitpunkte und wird so verstanden, dass er immer und überall innerlich zum Wesen des Menschen gehört. (S. 140)
Das Zweifel ist also auch eine moralische Frage, die der fraglos Gläubige vermeidet. Auch wenn der Zweifel die einmal gewonnenen moralischen Gewissheiten nicht mehr hinterfragt, liegen deren Ursache aber in einem Zweifel an den Zuständen der Welt.
Das abschließende siebte Kapitel ruft schließlich zu einer Politik der Mäßigung auf, die als mittlere Position zwischen den Extremen des Relativismus und des Fundamentalismus zu verorten ist. Der Zweifel ist eine notwendige Folge der menschlichen Freiheit. Dabei würden Glaubensüberzeugungen, Ideen und Werte nur vorübergehende Phänomene bleiben, wenn sie sich nicht in Institutionen manifestieren würden (S. 165). Aber diese Institutionen müssen selbst wieder in ihrer Macht begrenzt werden. Auch hier spielt das Hinterfragen wieder eine zentrale Rolle.
Die Politik der Mäßigung braucht deshalb eine eigene Ethik. Es kann keine absolut richtigen Handlungsanleitungen geben: Es gibt Situationen, in denen eine grundsätzlich als richtig erkannte Handlung falsch sein kann. Die Theologie kennt hierfür den Begriff der Epikie.
Mit dem Buch „Lob des Zeifels“ haben Berger/Zijderfeld eine mehr als lesenswerte Schrift vorgelegt, in der der Zweifel nicht nur als ein wesentliches Existential des Menschen hervortritt. Das Buch weist sicher manche Redundanz auf und erscheint an manchen Stellen, als wäre es nich aus einem Guss. Trotzdem: Wer dieses Buch gelesen hat, wird nicht nur vor falschen Sicherheiten gewarnt sein. Er wird erkennen, dass der Zweifel einen eigenen Wert hat. Gerade auch für den Glauben wir der Zweifel zu einer wertvollen Triebfeder, die zu immer neuen Erkenntnis antreibt. Denn jede Erkenntnis wird mindestens eine neue Frage aufwerfen. Der Zweifel bewahrt vor einer Erstarrung des Glaubens, die nicht zum Leben sondern zum (inneren) Tod führt. So wird der Zweifel zum Bruder des Glaubens.
Dr. Werner Kleine
Peter L. Berger
Anton Zijderveld
Lob des Zweifels
Was ein überzeugender Glaube braucht
Aus dem Amerikanischen von Bernardin Schellenberger
Freiburg i. Br. 2010
Kreuz Verlag
ISBN 978-3-7831-3461-2
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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