Sag mir, was du brauchst, nicht, woran du glaubst: Die Nothilfe in dem von Flut, Armut und Ungleichheit geplagten Pakistan birgt auch die Chance auf Versöhnung.
Von Øle Schmidt
Mühsam zieht ein Esel einen klapprigen Holzkarren hinter sich her. Ein Händler bereitet seinen Tee und sein Brot auf offenem Feuer zu. Die Zeit im Sindh, im Süden Pakistans, scheint stehen geblieben zu sein. Neben einem Kamel hupt sich ein großer, hoffnungslos überladener Lastwagen den Weg über die nicht geteerte Straße frei. Teil dieser schrägen Soundsymphonie ist das Klingeln von Handys. Mittelalter und Moderne in lärmender Koexistenz.
Wenn sie uns Weiße sehen, schauen die Menschen mit kindlich großen Augen. Sie schütteln unsere Hände, wollen wissen, woher wir kommen, was wir hier machen. In Pakistan arbeitet etwa die Caritas seit mehr als fünf Dekaden, hier im staubigen Jacobabad nun seit einigen Monaten, um mitzuhelfen, die Katastrophe nach der Katastrophe abzufedern. Um Hilfe für die zumeist landlosen Bauern zu leisten, nachdem die Fluten ihre Lehmhäuser verschlungen haben, Tiere und Werkzeuge – und ihre Vorräte an Samen und Dünger. Denn die Winteraussaat von Weizen und Linsen, sie beginnt jetzt.
Doch als ob diese Jahrhundertüberschwemmung nicht tragisch genug wäre, schwelt dahinter auch in Pakistan ein Konflikt, der spätestens seit den Anschlägen vom 11. September die Welt in Atem hält: ein Kulturkampf, einer mit religiöser Ausprägung. Moslems gegen Christen. Christen gegen Moslems. Das zumindest wollen uns Fundamentalisten auf beiden Seiten weismachen.
Dabei birgt die Nothilfe, die hunderte Organisationen aus aller Welt seit nun mehr einem halben Jahr in Pakistan leisten, die Chance auf Versöhnung. Es ist eine Arbeit von Angesicht zu Angesicht, die helfen kann, Stereotypen zu überwinden, die Medien produzieren und die unsere Angst vor dem Fremden befeuern.
»Um einer Hungersnot vorzeugen, hat die Caritas ein Landwirtschaftsprojekt begonnen«, sagt der dafür zuständige Koordinator Fahat Khan und legt seine Stirn in Falten. Der 30-jährige Pakistani erläutert die Einzelheiten: »Nach einer Bedürfnisprüfung haben wir Gutscheine für Samen, Dünger und Pflanzenschutzmittel an die Ärmsten der Armen ausgegeben. Diese Waren erhalten sie auf regionalen Märkten. Zudem bezahlen wir ihre Werkzeuge und die Traktormiete.« Fast 100.000 Menschen werden auf diesem Weg unterstützt, auch dank der Spenden aus Deutschland. »Es geht darum«, sagt Fahat Khan, »dass sich die landlosen Bauern bis zur nächsten Aussaat im Frühling selbst ernähren können«. Dann verabschiedet sich der leise Programm-Koordinator, die Arbeit ruft. In einem Wagen mit Klimaanlage verlassen wir das staubige Jacobabad. In der Moderne aus dem Mittelalter hinaus.
Drei Stunden später erreichen wir Kashmore, an der Grenze zum Bundesstaat Punjab. Hier treffe ich auf Shah Muhammad. Der 72-Jährige zimmert in der brütenden Sonne aus Bambusstangen eine Dachkonstruktion für sein neues Übergangshaus. »Weil unser gepachtetes Feld noch immer unter Wasser steht, werde ich in die Stadt gehen. Ich nehme jeden Job an, um meiner Familie Geld zu senden. Der Hunger treibt mich an.« Shah Muhammad ist ein stolzer Mann, der trotz seines hohen Alters Vitalität ausstrahlt, doch seine Augen sind voller Traurigkeit. »Seit Wochen essen wir nur noch Reis, in drei Tagen ist er aufgebraucht. Wir brauchen eure Hilfe. Und du kannst mir glauben, dass ich das nicht gerne sage.« Dann salutiert er.
Auch wenn der Bauer keine Zuversicht ausstrahlt, das Projekt, das in seinem Dorf begonnen hat, stimmt hoffnungsfroh. Nichtregierungsorganisationen aus Pakistan, Deutschland und den USA haben sich in dem besonders armen Bundesstaat Sindh ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Bis Ende Mai diesen Jahres sollen 15.000 Transitional Shelter entstehen. Winterfeste Zelte mit einem regenfesten Dach und Seitenwänden aus gewebten Matten. Adeel Javaid, der Kopf hinter diesem Projekt, formuliert seinen Anspruch in einfachen Worten: »Wenn die Menschen unter freiem Himmel schlafen müssen, können sie am nächsten Tag nicht gut arbeiten, und folglich kein Geld verdienen. Dass stürzt sie in Abhängigkeit.«
Die Mitarbeiter hatten den Dorfbewohnern zunächst in einem Workshop gezeigt, wie die Transitional Shelter in etwa zwei Tagen aufgebaut werden können. Für die Arbeit an ihren Übergangshäusern werden die Dorfbewohner bezahlt. Adeel Javaid erklärt mir, warum: »Wir wollen, dass das Geld in der Gemeinde bleibt, und die Menschen aus eigener Kraft überleben können, bis sie die Felder wieder bestellen können.«
Shah Muhammad ist auf seine kleine Baustelle zurückgekehrt. Er und seine Nachbarn hämmern, sägen und – sie scherzen. Sie trotzen ihren schlechten Lebensbedingungen, die schon vor der Flut Menschen unwürdig waren. Es fehlt an gerechter Landverteilung im Sindh, an Gesundheitsversorgung, Bildung und Ausbildung, seit der Katastrophe nun auch an Häusern. Anderthalb Wochen haben 50 Mitarbeiter im Feld alles vorbereitet, damit der Hausbau nun endlich starten konnte. »Die Krieger sind bereit«, sagt Adeel Javaid und lacht. »Die Krieger, die den Menschen ihre Würde zurückbringen wollen.«
Doch es war anfangs sehr schwierig, in Deutschland Geld für die pakistanischen Flutopfer zu sammeln, selbst für überlebensnotwenige Projekte. Verständlich, angesichts von Selbstmordattentätern und Dschihadisten im von US-Drohnen und bärtigen Islamisten gleichermaßen umkämpften Pakistan. Doch ist das nur ein Ausschnitt der Wahrheit. Denn die allermeisten der rund 170 Millionen Muslime sind der Gewalt müde, sind erschüttert von den zumeist innerreligiösen Terroranschlägen. Zum anderen haben die Integrationsdebatten der vergangenen Monate einen erschreckend großen Nachholbedarf auch der Berliner Republik in Sachen Toleranz und Respekt gegenüber Fremden offenbart.
Angela Merkel trägt das – zugegebenermaßen schwammige – Konzept Multikulti mit sichtlicher Genugtuung zu Grabe, Horst Seehofer verlangt eine rassische Selektierung für Einwanderung. Herr Sarrazin, immer noch auf SPD-Ticket, tanzt eng umschlungen mit der Eugenik Abendlanduntergangs-Blues. Hysterisch beklatscht vom endlich-spricht-mal-jemand-die-Wahrheit-aus-Mainstream, der auch in der mehr verängstigten als aufgeklärten Mittelschicht hässliche Schneisen schlägt. Unter denen also, die in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren durchaus die Möglichkeit gehabt hätten, die Liquidierung des Asylrechts medial zu verfolgen, die Verschärfung des Ausländerrechts, sowie die zu Recht geäußerte Erwartung nach Deutschkenntnissen von Migranten. Kalter Kaffee also, aufgewärmt im Schatten von Weltwirtschaftskrise und Globalisierungsfurcht. Und im Kern: Rassenfrage statt Klassenfrage.
Das wechselseitige Zeigen auf den Anderen – in diesem Fall zwischen Pakistan und Deutschland – beim Einklagen von Respekt unterschiedlicher kultureller und religiöser Konzepte mag mikropolitisch entlastend sein, verhindert allerdings einen wirklichen Dialog mit dem Anderen, dem so Fremden. Gilt es doch viel mehr, den ersten Schritt selbst zu machen, ihn jeden Tag aufs Neue zu wagen. Das Aufweichen von wir und denen braucht Zeit, ist aber nicht verhandelbar für alle, die es ernst meinen. Ob sie ihre Arbeit in fernen Ländern nun als Solidarität etikettieren, als Würde oder Nächstenliebe. Auch deshalb sind die Nothilfe und der begonnene Wiederaufbau vieler Nichtregierungsorganisationen in Pakistan im besten Sinne radikal humanistisch.
Helfer aus Deutschland unterstützen im Nordwesten Pakistans afghanische Flüchtlinge muslimischen Glaubens mit Notunterkünften und medizinischer Versorgung. Die Pakistanis Fahat Khan und Adeel Javaid entwickeln Projekte für die amerikanische Caritas CRS. Die beiden Muslime arbeiten also für eine katholische Hilfsorganisation, die wiederum überwiegend Muslime unterstützt. Der 30-Jährige Malik Tahib Hussien aus Pakistan organisiert die Verteilung von Lebensmitteln und Hygieneartikeln in muslimischen Dörfern, obwohl Mitglieder seiner Familie bei einem Angriff auf eine christliche Gemeinde verletzt worden waren. Kleine Zeichen, sicherlich, aber solche, die Zukunft andeuten. Auch weil die christliche Nothilfe aus Deutschland ihre Lektion gelernt hat. Ob in Haiti, im Sudan oder eben in Pakistan hat sie sich tatsächlich der alleinigen Unterstützung Bedürftiger verschrieben. Sie kommt, Gott sei dank, ohne missionarischen Eifer aus, missbraucht die Not anderer nicht zu deren Bekehrung. Es gilt: Sag mir, was du brauchst, nicht, woran du glaubst.
Am konsequentesten ist diese interreligiöse Friedensarbeit wohl bei den »Peace Villages for Flood Effectees« der pakistanischen Organisationen NCIDE und Faces verwirklicht. Dort leben von der Flut betroffene Muslime, Hindus und Christen zusammen, und sind nicht mehr nach Religionszugehörigkeit getrennt. Rachid, ein Kopf hinter diesem Ansatz, braucht nicht viele Worte um die Idee zusammenzufassen. »Wenn Menschen verschiedener Religionen miteinander sprechen«, sagt er und schiebt seine viel zu große Sonnenbrille wieder auf seine Nase, »wenn sie gemeinsam essen und die heiligen Feste der Anderen begehen, dann schießen sie nicht so schnell aufeinander.«
Unser Autor Øle Schmidt hat für Caritas International (das internationale Hilfswerk der deutschen Caritas) zweimal Pakistan nach der Flutkatastrophe bereist und sich entsprechende Projekte der Organisation angesehen. Zur zeit ist er in Sri lanka tätig und beobachtet dort im norden des Landes Projekte der holländischen Caritas Cordaid, mit denen tamilische Binnenflüchtlinge, die während des dreißigjährigen Bürgerkrieges geflohen waren, unterstützt werden.
Author: Oele Schmidt
Der Journalist Øle Schmidt lebt und arbeitet in Lateinamerika und Deutschland.
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