Stille
Schweigen
Warten – Hören
?
Stille
…
Das scheinen die Voraussetzungen zu sein, damit der Mensch in Verbindung zu Gott tritt. Die Stille, so hört man allenthalben, ist die Basis für die Rede Gottes. Erst der Mensch, der still ist, kann er angeblich den Ruf Gottes vernehmen. Zahlreiche Anleitungen zur christlichen Spiritualität kommen an der Stille nicht vorbei. Kaum eine Predigt, die ohne den Aufruf zum innehaltenden Stillewerden auskommt. Die Aufrufe zur Stille sind so laut, dass man den Eindruck bekommt, die Stillefordernden trauten der Stille selbst nicht.
Die Bibel kennt die Stille nicht als Voraussetzung der Rede Gottes – im Gegenteil
Tatsächlich ist die Vergottung der Stille, die in der Gegenwart allenthalben fröhlich Urständ feiert, eher esoterisch als christlich veranlasst.
Sie hat zumindest in der biblischen Tradition keinen Anlass. Ein kurzer Blick in eine Konkordanz, einem Verzeichnis, das Bibelstellen zu bestimmten Schlagworten aufweist, ist ernüchternd. So weist die umfangreiche „Konkordanz zur Einheitsübersetzung“ (erarbeitet von Fr.J. Schierse, Düsseldorf 1994) das Stichtwort „Stille“ gar nicht erst auf. Lediglich das Adjektiv „still“ findet sich – allerdings ohne eine Liste von Bibelstellen, sondern lediglich mit dem Querverweis auf „schweigen“. Wer unter diesem Begriff nachschlägt, erhält jetzt endlich eine ansehnliche Auflistung biblischer Erwähnungen (zumindest in der Einheitsübersetzung. Nur zum Vergleich sei erwähnt, dass die Concordance to the Greek Testament [edited by W.F. Moulton and A.S. Geden, fifth Edition revised by H.K. Moulton, Edinburgh 1996] – einer Konkordanz zum griechischen neuen Testament – unter dem Wortfeld ἡσυχία/ἡσύχιος/ἡσυχἀζειν [hesychia/hesychios/hesychazein – Stille/still/still sein] ganze 11 Stellen im Neuen Testament aufführt, die das Wortfeld samt und sonders nicht im Zusammenhang einer Gottesbegegnung erwähnen). Die Thematik des „Schweigens“ wird in den erwähnten Bibelstellen allerdings sehr unterschiedlich verwendet. „Schweigen“ bzw. Stille als Voraussetzung der Rede Gottes oder der Wahrnehmung dieser Rede findet sich allerdings nicht. Das „Schweigen“ erscheint vielmehr – sofern es überhaupt im Zusammenhang der Begegnung eines Menschen mit Gott verwendet wird – als Folge der Rede Gottes oder der Gotteserfahrung.
Die Stille als Folge einer Gottesrede ist biblisch auch keine Konsequenz der Ehrfurcht oder der Anbetung, sondern des Erschreckens. Die Gottesrede selbst ist laut und überwältigend. Erwähnt sei als Beispiel die machtvolle Offenbarung Gottes, wie sie in Ez 1,4-28 geschildert wird:
Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel; es war wie das Rauschen gewaltiger Wassermassen, wie die Stimme des Allmächtigen. Wenn sie gingen, glich das tosende Rauschen dem Lärm eines Heerlagers. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen. Ein Rauschen war auch oberhalb der Platte, die über ihren Köpfen war. Wenn sie standen, ließen sie ihre Flügel herabhängen. (Ez 1,24f)
Und später:
Da hob mich der Geist empor, und ich hörte hinter mir ein Geräusch, ein gewaltiges Dröhnen, als sich die Herrlichkeit des Herrn von ihrem Ort erhob. (Ez 3,12)
Das Erscheinen der Herrlichkeit Gottes, die sich in der großen Vision am Beginn des Ezechielbuches hinter den vier Engelwesen verbirgt, weil sie das Fassungsvermögen des Menschen auch so schon übersteigt, ist alles andere als leise und still. Wenn Gott erscheint, ist es laut. So heißt es in Psam 29:
Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern. Der Gott der Herrlichkeit donnert, der Herr über gewaltigen Wassern.
Die Stimme des Herrn ertönt mit Macht; die Stimme des Herrn voll Majestät.
Die Stimme des Herrn zerbricht die Zedern, der Herr zerschmettert die Zedern des Libanon.
Die Stimme des Herrn sprüht flammendes Feuer, die Stimme des Herrn lässt die Wüste beben, beben lässt der Herr die Wüste von Kadesch.
Die Stimme des Herrn wirbelt Eichen empor, sie reißt ganze Wälder kahl. In seinem Palast rufen alle: O herrlicher Gott!
(Ps 29,3-9)
Dass Gott die Stille nicht als Vorausseztung braucht, um sich Gehör zu verschaffen, wird schon an dem hebräischen Nomen קול (qwl) erkennbar, das sowohl „Donner“ als auch „die mit lauter Stimme verkündet Nachricht/Proklamation/Kunde“ bedeuten kann. „Deshalb ist es an manchen Stellen der Hebräischen Bibel unklar, ob sie von der ‚Stimme Jahwes‘ oder von seinem ‚Donner‘ sprechen. Zumindest in einigen dieser Stellen scheint der Donner als die Stimme Jahwes gedeutet und wahrgenommen worden zu sein.“ (T. Krüger, Die Stimme Gottes. Eine ästhetisch-theologische Skizze, veröffentlicht 2009 – Quelle: http://uzh.academia.edu/, Stand 26.8.2012)
Die unerträgliche Sinnlosigkeit der Stille
Allein schon dieser oberflächliche Blick über den biblischen Befund lässt die Behauptung, der Mensch müsse die Stille suchen, um Gott zu hören, wanken. Gott spricht unüberhörbar – vielleicht sogar gerade im Lärm. Es gibt aber noch andere Hinweise, die einer esoterischen Vergottung der Stille entgegenstehen. Ein us-amerikanisches Forscherteam der Orfield Laboratories hat eine Stille-Kammer gebaut, die 99,99% aller Geräusche schluckt. Es ist der stillste Ort der Welt. Die Stille dieses Raumes ist perfekt. Die in diesem Raum herrschende „Lautstärke“ wurde 2004 gemessen. Sie betrug -9 Dezibel (zum Vergleich: eine normale Unterhaltung weist eine Lautstärke von 60 Dezibel auf, ein normal ruhiger Raum 30 Dezibel). Geht man von der Behauptung aus, die Stille wäre die Voraussetzung, die Stimme Gottes zu vernehmen, dann wäre dieser Raum also der ideale Ort der Wahrnehmung Gottes.
Die Realität sieht anders aus. In einem Beitrag der Onlineausgabe der „Welt“ vom 14. April 2012 wird „die verstörende Wirkung des sillsten Ortes der Welt“ beschrieben:
„‚Je ruhiger der Raum, desto mehr Dinge hört man. Man hört den eigenen Herzschlag oder nimmt die eigene Lunge oder den Magen plötzlich wahr. Im schalltoten Raum wird man selbst zum Geräusch‘, versichert [Steven] Orfield. Länger als 45 Minuten habe es deshalb noch nie jemand ausgehalten.“
Die absolute Stille erweist sich für den Menschen als nicht aushaltbar. Er hört in dieser Stille nicht Gott, sondern sich selbst – vor allem seinen Körper. Der Mensch wird in der Stille auf sich selbst und die Endlichkeit seines physischen Daseins zurückgeworfen. Mehr noch:
„‚Normalerweise orientieren sich Menschen an Geräuschen, wenn sie sich bewegen‘, erklärte Steven Orfield, (…). ‚All diese akustischen Informationen fehlen in dem reflexionsarmen Raum.‘ Deshalb könne ein Aufenthalt in dem Raum eine äußerst verstörende Wirkung haben. (Quelle: Welt online)
Diese Sinnlosigkeit der Stille ist für den Menschen unerträglich – so unerträglich, dass sich – wie die Orfiel Laboratories melden – innerhalb kürzester Zeit Halluzinationen einstellen. Das menschliche Gehirn ist offenkundig nicht in der Lage, die Sinnlosigkeit der Stille zu ertragen und kompensiert diesen Umstand, indem es Sinn konstruiert. Einen ähnlichen Vorgang kann man bei dem Betrachten der folgenden Zeichnung beobachten:
Tatsächlich sieht der Betrachter nur zwei Punkte und zwei Striche. Aber wer würde hier nicht ein Gesicht sehen wollen.
Diese Beobachtung ist folgenreich für den spirituellen Umgang mit der Stille. Wer glaubt, in der Stille Gott zu vernehmen, kann sich nicht wirklich sicher sein, ob es wirklich die Stimme Gottes ist, die er hört – oder ob er nicht einer grandiosen Form der Selbstsuggestion erliegt: Ein Streich, dem das Gehirn seinem Besitzer spielt, um einem sinnfreien Geschehen endlich Sinn zu geben.
Wenn Gott spricht, hat das Folgen für den Menschen
Gott braucht die Stille nicht, um seine Stimme vernehmlich zu erheben. Der Donnerhall seiner Stimme übertönt auch noch den größten Lärm der Stadt. Ja, vielleicht spricht Gott gerade in dem Lärm der lebendigen Menschenmenge – und trotzdem überhören die Menschen ihn, weil sie nicht in der Lage sind, die Sprache Gottes zu verstehen. Diese menschliche Grundschwierigkeit der Deutung von Wahrnehmungen begleitet auch die letzte öffentliche Rede Jesu vor seinem Leiden und Sterben, von der das Johannesevangelium berichtet. Jesus beendet seine Rede mit den Worten:
Jetzt ist meine Seele erschüttert. Was soll ich sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde? Aber deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen. Die Menge, die dabeistand und das hörte, sagt: Es hat gedonnert. Andere sagten: Ein Engel hat zu ihm geredet. Jesus antwortete und sagte: Nicht mir galt diese Stimme, sondern euch. (Johannes 12,27-30)
Gott macht sich lautstark bemerkbar. Aber nur der, der die Zeichen zu lesen weiß, erkennt im Donner den Widerhall Gottes. Für die anderen bleibt der Donner ein bloßer Lärm. Wer Ohren hat, zu hören, der höre!
Das Schweigen und die Stille sind also keineswegs die Voraussetzung für die Vernehmbarkeit der Stimme Gottes. Gott spricht, ob der Mensch will und schweigt – oder eben nicht! Gleichwohl ist die Erfahrung des Sprechen Gottes dermaßen eklatant, das dem Menschen die Sprache vergeht. Die Wahrnehmung der Größe Gottes und seine Macht lassen den Menschen stumm werden. Die Stille ist nicht die Voraussetzung, sondern die Folge einer Gotteserfahrung!
Aber: Der Mensch braucht doch die Stille – oder?
Jeder, der tagtäglich dem Lärm von Maschinen, Großraumbüros oder Musikanlagen ausgesetzt ist, kennt den Wunsch nach Ruhe und Stille ebenso wie die Eltern lärmender Kinder, die Besitzer von Wohnungen mit geräuschintensiven Nachbarn oder die lärmgestressten Anwohner eines Flughafens. Die Menschen brauchen die Ruhe zur Erholung. Und auch an der Tatsache, dass (Dauer-)Lärm krank macht, besteht kein Zweifel.
Es ist auch richtig, dass mancher Gedanke erst in der Stille zur vollen Blüte reift. Gerade für die Selbstreflexion des Menschen ist die Meditation und die damit verbundene Ruhe oft unerlässlich. Die schallgeprägte Ablenkung der Welt lässt es oft nicht zu, dass der Mensch zu sich selbst kommt. Diese Grundbedürfnisse des Menschen dürfen aber nicht mit einer exklusiven Präferenz der göttlichen Kommunikation verwechselt werden. Die Vergottung der Stille ist – und das zeigen die in den Orfield Laboratories gemachten Erfahrungen – sogar gefährlich, wenn die autosuggestiven Kräfte des Menschen mit Gott verwechselt werden. Die eigenen Wünsche werden auf diese Weise als Stimme Gottes legitimiert – und das nur, weil der Mensch die Stille mit innerem Geplapper füllt.
Wenn der Mensch still wird, hört er sich selbst. Aber wenn Gott spricht, dann schweigt der Mensch.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Mit dem letzten Satz kann ich gut umgehen.
Vor einigen Jahren eine Woche der Stille in Knechtsteden. Ich konnte das mit mir nicht aushalten.
Als ich bei der gemeinsamen Mahlzeit gesprochen habe, bekam ich gleich die „rote Karte“
So war dieses Erlebnis noch einprägender als die Stille.
Margareta Patzer
Bis grade hatt ich noch gedacht, Stille sei unverzichtbare Voraussetzung für eine Begegnung mit Gott. Jetzt habe ich ein neues Problem: wenn unter den Klängen dieser Welt Real die Stimme Gottes erfahrbar ist, wie kann ich da sicher sein?
Zu dieser Frage gibt der Kolosserbrief eine interessante Antwort: „Denn in ihm [Christus, dem Sohn, W.K.] wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.“ (Kol 1,16) und später: „Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Freide gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,20).
Der Aktzent liegt auf dem Wörtchen „alles“. Es gibt nichts, das außerhalb Gottes existiert. Gott spricht durch die ganze Schöpfung. Er ist da und erfahrbar. Die Frage ist nur, ob der Mensch sich darauf einlassen kann, Gott so zu erfahren – oder ob er doch bloß wieder nur glaubt, Donner und Lärm zu hören, wie es die im Beitrag erwähnte Stelle aus dem Johannesevangelium berichtet. Wer die Stille zur Voraussetzung für die Begegnung mit Gott macht, übersieht, dass diese Begegnungen sich nicht herstellen lassen. Vielleicht genügt es einfach, den Blick auf die Welt zu verändern. Wenn diese Welt Gottes Schöpfung ist – und daran besteht doch für Christen kein Zweifel -, dann ist Gott alleine schon durch die Begegnung mit der Welt, wie sie ist, erfahrbar. Oder gibt es etwas in der Welt, was seinen Ursprung nicht in Gott hätte? Ich stehe jedenfalls angesichts des nächstlichen Sternenhimmels staunend schweigend vor der Schönheit des Universums. Wenn das keine Gotteserfahrung ist? Aber das Schweigen ermöglicht diese Erfahrung nicht – es folgt ihr!
[…] Und so geht es weiter mit den Beiträgen “Auf die Stille hören” (S. 18 – was auch immer die Stille redet, womit sie ja aufhört Stille zu sein …) und “Eine Auszeit aus dem Alltag” (S. 34 […]
[…] Wie weit entfernt ist ein Gott wohl von jenen Räumen der Stille, die er selbst nicht zu suchen scheint. Gott ist laut. Er ist dort, wo es laut ist. Er ist im Lärm der Welt. Er ist im lauten Streit derer, die die Wahrheit suchen. Ist es da ein Wunder, dass in jüdischen Lehrhäusern so laut gestritten wird? Ist es ein Wunder, dass die Räume der Stille oft so merkwürdig leer sind, weil die Menschen doch eher die Wahrheit suchen, die man nie nur selbst finden kann, sondern nur im – manchmal auch lautstarken – Streit? Ist es ein Wunder, dass der, der nach langem Suchen endlich einen Hauch der Wahrheit Gottes erahnt – und sei es im Erschrecken über seine lärmende Größe –, nur jubeln kann, wie es im Antwortpsalm des 12. Sonntages im Jahreskreis des Lesejahres C heißt: […]