Was helfen Worte, wenn niemand sie tut? Diese Frage steht nicht nur an diesem Sonntag, an dem in Deutschland der 18. Bundestag gewählt wird, im Raum. Was sind die Wahlversprechen morgen noch wert, die gestern vollmundig gegeben wurden. Hat der Souverän die Schuldigkeit des Kreuzchens getan, kann wieder die politische Realität einkehren. Das Volk ist nicht so dumm, wie mancher Parteistratege mit Blick auf den politischen Machterhalt oder -erwerb denken mag. Der Sinn für die gesellschaftlichen Realitäten ist in der Bevölkerung wohl selten so ausgeprägt gewesen wie in der Gegenwart. Es ist offenkundig, dass die ehemaligen politischen Blöcke so nicht mehr existieren. Es geht nicht mehr um die horizontale Teilung der Gesellschaft in linke und rechte Milieublöcke. In Zukunft wird eher die Frage nach der vertikalen Teilung der Gesellschaft in Arme und Reiche den sozialen Diskurs bestimmen. Und das ist bei weitem keine innerdeutsche Fragestellung. Das Zusammenleben der Kulturen und Völker in Europa, aber auch über Europa hinaus wird bereits jetzt schon von dieser Teilung bestimmt.
Diesen Zustand kann man nicht einfach wegbeten, zumindest dann nicht, wenn das Gebet das Ziel hat, Gott möge das Problem bitte lösen – und den Beter ansonsten damit in Ruhe lassen. Wahres Beten führt zu innerer Erkenntnis. Ein solches Gebet wird zum Spiegel, der das Anliegen auf den Beter zurückwirft: Es ist dein Auftrag, an und in der Welt mitzuarbeiten. Bete daher nicht darum, dass das Problem verschwindet. Bete um Erkenntnis, was du zur Lösung des Problems tun kannst. Du wirst erkennen. Es sind vielleicht nur kleine Schritte, die du gehen kannst. Aber auch die musst du – und nur du – gehen.
Das „Herr, die Armut der Welt kotzt mich an“-Gebet wird einem, der so betet, im Halse stecken bleiben. Die Worte werden sich ihm im Mund herumdrehen. Er wird zum Propheten werden, der der Welt den Spiegel vorhält.
Amos war so ein Prophet. Er war ursprünglich ein Schafzüchter aus Tekoa (Amos 1,1), der sich wohl auch als Maulbeerfeigenbauer ein Zubrot verdiente (vgl. Amos 7,14). Er war also wohl ein einfacher Mann, der die gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit aufmerksam beobachtet. Er sieht die Großgrundbesitzer, die sich auf Kosten der Armen immer weiter bereichern. Ein Volk, in dem die Schere zwischen wenigen Reichen und vielen Armen immer größer wird, wird sozial instabil. Hier Gott nur um Frieden zu bitten, wird den Geiz der nach immer mehr Reichtum Gierenden nicht erschüttern können.
Dass man angesichts einer solchen sozialen Schieflage nicht mehr still beten kann, wird schon in den ersten Versen des Amosbuches deutlich:
Der Herr brüllt vom Zion her, aus Jerusalem lässt er seine Stimme erschallen. Da welken die Auen der Hirten und der Gipfel des Karmel verdorrt. (Amos 1,2)
Gott schweigt nicht, er brüllt – er brüllt durch den Propheten, der seine Stimme erhebt. Er erhebt seine Stimme, um den Mächtigen den Spiegel vorzuhalten – einen Spiegel, der die Wahrheit zeigt. Eine Wahrheit, die nichts beschönigt. Eine hässliche Wahrheit. Eine Wahrheit des Schreckens, die keinerlei Höflichkeiten mehr duldet. So ruft der Prophet Amos am Beginn der ersten Lesung vom 25. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C:
Hört dieses Wort, die ihr die Schwachen verfolgt und die Armen im Land unterdrückt. (Amos 8,4)
um dann schonungslos das Verhalten der allzu Sorglosen anzuprangern:
Ihr sagt: Wann ist das Neumondfest vorbei? Wir wollen Getreide verkaufen. Und wann ist der Sabbat vorbei? Wir wollen den Kornspeicher öffnen, das Maß kleiner und den Preis größer machen und die Gewichte fälschen. Wir wollen mit Geld die Hilflosen kaufen, für ein paar Sandalen die Armen. Sogar den Abfall des Getreides machen wir zu Geld. (Amos 8,5-6)
Die Sprache und Bildwelt der prophetischen Rede des Amos verrät, dass es sich um keinen modernen Propheten handelt. Amos lebte im 8. Jahrhundert vor Christus. Lässt man die Kornspeicher und das Neumondfest aber beiseite und ersetzt sie durch das Aktiendepot und den Sonntag, an dem – fast immer noch! – der Handel ausbleibt, dann wird die Aktualität der Rede des Amos deutlich: Solange jeder an seinen eigenen Vorteil denkt, wird es wenige immer Reichere geben, während die Vielen immer mehr Sorgen haben werden, über den Monat zu kommen. Das Wort des Propheten gilt:
Beim Stolz Jakobs hat der Herr geschworen: Keine ihrer Taten werde ich jemals vergessen. (Amos 8,7)
Und nicht nur der Herr vergisst nicht – auch die Völker haben ein gutes Gedächtnis!
Gerade deshalb müssen andere Wege gegangen werden. Das Gleichnis Jesu vom klugen Verwalter, von dem das Evangelium des 25. Sonntags im Jahreskreis des Lesejahres C erzählt, zeigt eine überraschende Lösung. Der Verwalter soll seines Amtes enthoben werden, weil er das Vermögen seines Herrn verschleudert hatte. Sein Schicksal ist unabänderlich. Damit er eine Zukunft hat, sieht er nur einen Weg: Noch im Amt erlässt er den Schuldnern einen Teil ihrer Schulden. Die auf diese Weise unerwartet, aber gleichwohl angenehm Überraschten werden sich dieser Tat, die ihre Situation erleichtert, erinnern. Auf dieses Gedächtnis kann der Verwalter bauen, wenn sein Schicksal besiegelt ist. Weil er unverhofft gab, wird er empfangen können.
Freilich gab der Verwalter von einem Vermögen, dass nicht ihm gehörte. Diese Untreue scheint wenig zu wiegen, schadet es doch offenkundig dem Vermögen des reichen Mannes nicht, der offenkundig so viel besitzt, dass er seinen Reichtum gar nicht überblicken kann. Das Schicksal der Schuldner aber wird erleichtert.
Es geht also nicht um Verschwendung fremden Eigentums. Das ist sicher immer ein Thema auch des politischen Handelns. Die Frage ist, wofür das fremde Eigentum eingesetzt wird: Ausschließlich für das eigene Prestige oder für die Minderung menschlicher Notlagen. Auch das dient dem eigenen Ansehen, aber eben nicht ausschließlich. Denn wer so hilft, dem wird auch später geholfen werden. Wer kann schon sicher sein, dass sein Wohlstand erhalten bleibt und es nicht plötzlich heißt:
Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei! (Amos 6,7)
Auf wen wird er dann zählen können?
Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Gesellschaft. Heute ist Wahltag. Für vier weitere Jahre werden die Weichen gestellt. Wer nicht wählen geht, bleibt stumm. Wählen zu gehen ist eben auch eine prophetische Aufgabe. Erheben Sie Ihre Stimme!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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