Die öffentliche Diskussion dieser Tage ist geprägt durch die Ereignisse in einer hessischen Kleinstadt mit einem auf einem Kalkfelsen stehenden Dom. Der Dom stammt aus der Spätromanik, zeigt aber frühgotische Einflüsse. Die Architektur dieses einzigartigen Bauwerkes stammt aus einer Epochenwende. Eine Epochenwende deutet sich auch angesichts der gegenwärtigen Diskussion an. Die spätrömische Zentrierung der Kirche scheint in eine Zeit hinüberzugehen, deren prägendes Merkmal Transparenz und lichte Lebensbuntheit sein sollen. Die Lichtflut in den Kathedralen gotischer Baukunst kann nur durch das Aufbrechen des Mauerwerkes in große, offene Fenster gelingen, durch die das Licht in das Innere eines sonst dunkel bleibenden Kirchenraumes dringen kann.
Licht – das Licht – in die Welt zu bringen, ist eigentlich der Auftrag der Kirche. Das fällt es um so mehr auf, wenn der Eindruck der Vernebelung oder Verschleierung entsteht. Das ist der schale Beigeschmack bei den Ereignissen in der hessischen Kleinstadt an der Lahn. Immer mehr Details gelangen – Gott sei Dank – an das Licht der Öffentlichkeit. Und je mehr offenbar wird, desto komplexer erscheinen die Zusammenhänge, so dass es schwer fällt, ein einfaches Urteil zu fällen. Was auch immer es mit dem fraglichen Bau im Hinterhof der alten Vikarie gegenüber des spätromanischen Domes auf sich hat, das eigentliche Problem ist nicht architektonischer Natur. Es liegt wohl an einer spätrömischen Haltung, die in einem verkürzten Zitat des Ignatius von Antiochien im Bischofsamt die Kirche selbst repräsentiert sieht. Dabei hat Ignatius von Antiochien nicht gesagt „Wo der Bischof ist, da ist die Kirche“, sondern
Keiner tue ohne den Bischof etwas, das die Kirche angeht. Nur jene Eucharistie gelte als die gesetzmäßige, die unter dem Bischof vollzogen wird oder durch den von ihm Beauftragten. Wo immer der Bischof sich zeigt, da sei auch das Volk, so wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist. Ohne den Bischof darf man nicht taufen noch das Liebesmal feiern; aber was immer er für gut findet, das ist auch Gott wohlgefällig, auf dass alles, was geschieht, sicher sei und gesetzmäßig. (Ignatius von Antiochien, Brief an die Smyrnäer, 8).
Bischof und Volk sind also aufeinander verwiesen. Der Bischof kann nicht ohne das Volk sein, das Volk nicht ohne den Bischof. In ähnlicher Weise argumentiert bereits Paulus in den Kapitel 3-7 des 2. Korintherbriefes, indem er immer wieder die wechselseitige Bedeutsamkeit der Beziehung von sich als Apostel und Gemeindegründer auf der einen und der Gemeinde auf der anderen Seite betont. Paulus will, dass die korinthische Gemeinde endlich versteht,
dass ihr [die Korinther, WK] am Tag Jesu, unseres Herrn, auf uns [Paulus und seine Mitarbeiter, WK] stolz sein dürft, so wie wir auf euch. (2 Korinther, 1,14)
Es ist nämlich der Tag des Herrn, bei dem
wir alle (…) vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden [müssen], damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder böse, das er im irdischen Leben getan hat. (2 Korinther 5,10)
Das ist die Marke, an der sich Gemeinde wie Gemeindeleiter zu orientieren haben. Auch der Bischof als Leiter ist unter dieser Perspektive nicht einfach mit absoluter Macht ausgestattet. Ignatius von Antiochien betont zwar:
Es ist gut, Gott und den Bischof zu kennen. Wer den Bischof ehrt, der wird von Gott geehrt; wer ohne des Bischofs Wissen etwas tut, der dient dem Teufel. (Ignatius von Antiochien, Brief an die Smyrnäer, 9,1)
Das verweist primär darauf, dass auch die Gemeinde in der Pflicht ist, die Einheit zu suchen. Ein Bischof aber, der ohne Rücksicht auf sein Volk agiert, kann Bischof sein, soviel er will; er wird vor dem Richterstuhl Christi nichts vorzuweisen haben, was ihm zu Ehren wäre.
Bischof und Volk sind also aufeinander angewiesen. Das gilt für beide. Kirche ist da, wo das Volk Gottes mit seinem Bischof und wo der Bischof mit seinem Volk ist. Papst Franziskus hat das kurz nach seiner Wahl eindrucksvoll deutlich gemacht, als er sich vor dem Segen vor dem Volk verneigte und um dessen Gebet bat.
Der Bischof muss daher immer wieder um Überzeugung und nicht um Überredung oder Befehligung bemüht sein. So stellt Paulus im 1. Korintherbrief fest, dass er allein das Zeugnis Gottes verkünden will:
Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft Gottes. (1 Korinther 2,4f)
Ein Bischof der das außer Acht lässt, weil er wähnt, durch ihn würde ungefiltert Gott handeln, geht nicht nur an seinem Auftrag vorbei. Er übersieht auch die biblisch mahnende Kritik Gottes:
Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. (Jesaja 55,8)
Vielleicht ist es ein Zeichen spätrömischer Dekadenz, wenn manche Kleriker glauben, sie könnten Gott verfügen. So zitierte Papst Benedikt XVI in seinem Schreiben zum Beginn des Priesterjahres anlässlich des 150. Geburtstages von Johannes Maria Vianney vom 16. Juni 2009 den Pfarrer von Ars mit den Worten:
„Oh, wie groß ist der Priester! … Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben … Gott gehorcht ihm: Er spricht zwei Sätze aus, und auf sein Wort hin steigt der Herr vom Himmel herab und schließt sich in eine kleine Hostie ein…“ (Le Sacerdoce, c’est l’amour du cœur de Jésus” (in Le curé d’Ars. Sa pensée – Son cœur. Présantés par l’Abbé Bernard Nodet, éd. Xavier Mappus, Foi Vivante, 1966, S. 97)
Darin drückt sich ein klerikales Selbstverständnis aus, das über Gott verfügt. In diesem Verständnis gerät das Volk nicht nur aus dem Blick. Es spielt keine Rolle mehr, weil der Kleriker sich allein genügt. Er ist in der Gottnähe. Gott gehorcht ihm. Was braucht er sonst noch? Sind die Petitessen der Welt nicht viel zu klein für ihn?
Ein solches Amtsverständnis versteht sich nicht mehr als Dienst am Volk, als Liturgie im wörtlichen Sinn. Es gibt allzu viele, die sich im Glanz dieser Sonnenpriester sonnen. Es fehlt heute offenkundig in der Nähe bischöflicher Residenzen – und bisweilen auch der Pfarrhäuser – hin und wieder an Witwen, die (manchmal mit dem Mut der Verzweiflung) immer wieder und immer wieder vor den ungerechten Richter treten und ihr Recht fordern. Das Evangelium vom 29. Sonntag im Jahreskreis weiß zu berichten, dass sie ihr Recht bekommen wird, weil der Richter es mit der Angst zu tun bekommt, sie könne ihn ins Gesicht schlagen.
Der Bischof ist nichts ohne sein Volk, das Volk nichts ohne den Bischof. Es ist diese Einheit, die die Kirche stark macht. Jetzt ist die Kirche schwach. Es ist an der Zeit, dass die Bischöfe wieder auf das Volk hören. Es ist an der Zeit, dass das Volk wieder mit den Bischöfen spricht. Wer auch immer – ob Volk oder Bischof – vorschnell über andere urteilt, sollte sich aber selbst immer daran erinnern, dass auch er der beharrlichen Witwe begegnen kann. Es wird Zeit, dass die, die vor der Sonne stehen, beiseite treten, damit das Licht die Welt wieder durchfluten kann. Christen, ob geweiht oder nicht, verfügen nicht über den Lichtschalter; sie sollten die Leuchtkörper sein.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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