Die Älteren kennen noch den Klang des Hymnus‘ „Dies irae“, der als Sequenz in der Totenmesse gesungen wurde. Der „Tag des Zornes“, an dem sich das Gericht ereignet und Jesus als rex tremendae maiestatis, als König schrecklicher Gewalten, Recht sprechen wird. Gleichzeitig erinnern die, die im Angesicht des Todes diesen Hymnus anstimmten, Jesus an seine Milde, denn er kam doch um der Menschen willen.
Das Dies irae ist mehr als ein mittelalterlicher Hymnus. Es ist ein bedeutendes Stück Musikgeschichte, das in zahlreichen Variationen in zahlreichen Werken der Klassik (erinnert sei nur an die Parodie des Dies irae im 5. Satz der Symphonie fantastique von Hector Berlioz) bis hin zur modernen Filmmusik (etwa die Filmmusik zum „Herrn der Ringe“ von Howard Shore).
Das jüngste Gericht, der Tag der Wiederkunft Christi, wurde seit dem Mittelalter als Tag des Schreckens und des Zornes gefürchtet. Es war der Tag, an dem Gericht gehalten wurde; der Tag, an dem der Mensch sein Innerstes zu entblößen hatte und sein irdisches Leben abgewogen wurde. Niemand konnte sicher sein, ob er heil aus diesem Gericht kommen würde.
Viele tragen diese Sicht noch mit sich herum. Die Folge ist eine lähmende Gottesangst, die mit belebender Gottesfurcht nicht viel zu tun hat. Auch in diesen Tagen liest man hier und da wieder kirchliche Veröffentlichungen, die den Menschen unterstellen, sie würden Tod und Leiden verdrängen. Dabei sieht sich die Kirche in diesen Tagen selbst dem Vorwurf der Realitätsverdrängung ausgesetzt. In dem lesenswerten Beitrag von Thomas Assheuer in der Zeit vom 24.10.2013 (Nr. 44) wird die Problematik deutlich. T. Assheuer führt aus:
Wenn die Kirche in der kalten Moderne überwintern und auf die Wiederkunft des Herrn warten will, dann muss sie, so lautet Benedikts Argument, dafür auch materiell gerüstet sein. Rom muss leuchten, denn es ist das einzige Licht in der Finsternis der modernen Welt. Im strahlenden Glanz soll sich die Papstkirche über die graue und gleichförmige Gesellschaft erheben, über das profane Einerlei des Konsums und all die formlosen libertären Lebensweisen.
Der Rückzug in die ästhetisch verklärte „Schönheit des Glaubens“ lässt die Welt mit sich allein. In der entrückten Wirklichkeit einer Kathedrale, die als Abbild des Himmels zum Kontrast einer erdenschweren Realität verstanden wird, sollen schöne Worte, eine ästhetisch gehobene Liturgie, engelgleicher Chorgesang und nicht zuletzt die luftige Leichtigkeit der nach oben steigenden Weihrauchwölkchen Trost in der kalten Gegenwartsgesellschaft spenden. Trost oder Vertröstung? – möchte man da fragen. Das Leben spielt ja hier auf Erden. Die Berufung des Christen ist es, in dieser Erdenwirklichkeit zu leben, zu lieben und zu handeln. Die Welt ist, so wie sie ist, von Gott erschaffen. Es gibt nur diese eine. Wer sich da in die „Schönheit des Glaubens“ zurückzieht, verpasst möglicherweise den, der in diese Welt kam.
In der zweiten Lesung des 31. Sonntags im Jahreskreis des Lesejahres C hört man heute eine erstaunliche Mahnung:
Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen, wenn in einem prophetischen Wort oder einer Rede oder in einem Brief, der angeblich von uns stammt, behauptet wird, der Tag des Herrn sei schon da. (2 Thessalonicher 2,2)
Es sind Worte, die dem Paulus in den Mund gelegt werden und die doch gar nicht zu seiner eigenen Haltung passen. Paulus war beseelt von der Erwartung, dass der Tag der Wiederkunft Christi unmittelbar bevorstünde. Es ist diese Erwartung (die sogenannte Parusieerwartung), die ihn nicht nur bei seine Verkündigungswerk antreibt; in dieser Haltung hält er bisweilen auch die alltäglichen Normalitäten für sekundär. So kann er im 1. Korintherbrief den Rat aussprechen, dass es sich angesichts der unmittelbar bevorstehenden Ankunft Jesu nicht lohnen würde, zu heiraten. Man solle sich liebe auf dieses existentielle Ereignis vorbereiten. Wenn aber die Sehnsucht zu dem geliebten Menschen zu stark ist, dann solle man eben doch heiraten (vgl. 1 Korinther 7,25-38).
Dass Paulus jetzt rät, man solle sich nicht aus der Fassung bringen lassen, weil behauptet würde, der Tag des Herrn sei schon da, dann ist das nicht nur ein Hinweis auf die Verfasserschaft des 2. Thessalonicherbriefes, der nicht aus der Feder des Paulus selbst stammt, sondern zu den sogenannten Deuteropaulinen zählt; diese sind der Schülerschaft des Paulus zuzuschreiben. Es wird auch deutlich, dass die Kirche sich in der Welt eingerichtet hat. Der Alltag gewinnt wieder an Gewicht. Und trotzdem ist der Alltag von einer erwartenden Haltung geprägt. Der Autor des 2. Thessalonicherbriefes mahnt aber eine gewisse Gelassenheit an. Niemand braucht angesichts des bevorstehenden Tages des Herrn, dessen Datum niemand kennt, in Furcht und Schrecken zu geraten. Christen können gelassen bleiben, denn sie wissen, dass der Auferstandene gerade die Sünder liebt.
Das hat vor allem auch der Zöllner Zachäus erfahren, von dem das Evangelium des 31. Sonntags im Jahreskreis des Lesejahres C erzählt. Er, der als Zöllner seine Mitmenschen immer wieder übervorteilt haben dürfte, muss sich im wahrsten Sinn des Wortes die Blöße geben, um Jesus zu sehen. Was werden die gesehen haben, die dem Blick Jesu vor dem Baum, auf den Zachäus um des besseren Blickes wegen gestiegen war, stehen blieb und den Zöllner anrief: Einen Mann, der auf einem starken Ast stehend mehr von unten Sichtbares freigegeben hatte, als ihm lieb gewesen sein dürfte. Der Spott der Umstehenden war ihm sicher. Jetzt hatten sie die Gelegenheit, es ihm heimzuzahlen. Aber das Unglaubliche geschieht. Jesus kehrt bei ihm, mit dem sonst niemand etwas zu tun haben wollte, ein. Und Zachäus erlebt den Tag der Wiederkunft Christi, der ein Tag der Einkehr Jesu bei ihm ist. Die Entblößung, die auf dem Baum noch für Spott sorgte, war noch nicht alles. Auch das Innerste des Zöllners muss bloßgelegt werden, damit Heilung möglich wird, so wie eine Wunde erst offengelegt werden muss, damit sie gesäubert werden kann. Die Bibel berichtet nicht, was im Haus des Zachäus gesprochen wurde. Aber das Gericht des Herrschers fürchterlicher Gewalten scheint milde gewesen zu sein. Gott ist und bleibt ein Gott der Lebenden. Er hat an der Vernichtung der Sünder kein Gefallen. Und so sendet er auch heute noch die aus, die an ihn glauben, um die Wunden der Welt zu heilen.
Wer Gott wirklich begegnen möchte, kommt offenkundig an Entäußerung und Entblößung nicht vorbei. Man darf sich von aller „Schönheit des Glaubens“ nicht blenden lassen: Das Spiel des Lebens findet auch und gerade vor den Schwellen der Kathedralen statt. Vielleicht kehrt Gott immer noch lieber in die Privathäuser der Sünder ein. Wer weiß …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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