Dies Domini – Fünfter Fastensonntag, Lesejahr A
Am Anfang des Theologiestudiums steht für manche Studentin und manchen Studenten eine handfeste Desillusionierung. Die kritische Auseinandersetzung mit den biblischen Quellen und des frühchristlich-philosophischen Ringens um ein Verstehen des in Kreuz und Auferstehung begründeten Christusereignisses, die auf Vernunftgebrauch beruhende und wissenschaftlichen Anspruch erhebende Reflexion des Glaubens in Dogmatik und Fundamentaltheologie sowie die sich aus diesen Überlegungen ergebenden Überlegungen zu den Fragen, wie ein christliches Leben aussehen soll, wie die Verkündigung zu gestalten und der Gottesdienst zu feiern ist, lassen manchen über die Jugendzeit hinweggeretteten Kinderglauben schnell in sich zusammen fallen. Das ist gut und richtig so; denn eine Theologie, die Wissenschaft sein will und muss, kann und darf sich nicht mit dem einfachen „das muss man glauben“ zufrieden geben. Als Wissenschaft muss sie forschen und begründen, nicht spekulieren und vermuten. Und da erweist sich manches, was in frommem Jugendeifer als unumstößlich geglaubt wurde, bei näherem Hinsehen als poröser Fels, der bei etwas härterem Anfassen zu Sand zerfällt.
Diese reinigende Krise muss durchgestanden werden, damit auf dem freigewordenen Baugrund ein festes Gebäude entstehen kann, das auf theologischer Forschung und Reflexion besteht. Da die Zeit die Eigenschaft einer prozesshaften Weiterentwicklung mit sich bringt, ist auch die Theologie nie fertig mit ihrer Reflexion. Neue Zeiten werfen neue Fragen auf, und was eben noch als sicher beantwortet galt, erscheint heute in einem neuen Licht. Dieses Schicksal teilt die Theologie mit allen anderen Wissenschaften. Als Wissenschaft muss sich die Theologie ihren kritischen Geist bewahren. Dazu gehört im Wesentlichen die Fähigkeit der kritischen Reflexion – wobei das Wort „kritisch“ im wissenschaftlichen Sinn das auf Argumentation und Begründung beruhende Urteilen meint. Der Theologe soll denken, nicht bloß auswendig lernen. Er muss urteilen und nicht spekulieren.
Wie wichtig diese Fähigkeit zum kritischen Urteil ist, konnten in der vergangenen Woche Fachabiturientinnen und -abiturienten der Berliner Oberschule für Informations- und Medizintechnik erleben, die im Rahmen des Politikunterrichtes die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Bundesfinanzminister Wolfang Schäuble bekamen. Dem Gespräch folgten auch einige inkognito anwesende Journalisten, die offenkundig
solche Schulgespräche interessant finden: weil Politiker, nicht immer und nicht alle, dort zuweilen offener, freier sprechen. (Quelle: FAZ, 4.4.2014, Regina Mönch, Wie eine Schulstunde zur Staatsaffäre wurde)
Im Rahmen des Gespräches ging es im Rahmen einer Nebenfrage auch um die aktuelle Thematik der Krim und der Ukraine. Wolfang Schäuble
hatte sich, so die Schüler, im Kontext der historischen Erzählung bewegt, erklärt, welche historischen Erfahrungen Europa gemacht habe, und dann ausdrücklich hinzugefügt, man könne beides aber nicht vergleichen. Eine Analogie also, keine Gleichsetzung. (Quelle: Ebd.)
Das aber schien einige der anwesenden Journalisten nicht weiter zu stören. Denn was nun geschah, zeigte, dass gegenwärtig die Schlagzeile offenkundig über der wahrhaftigen Berichterstattung steht, die Quote über der Investigation, die Spekulation über der kritischen Recherche. Innerhalb weniger Stunden war aus einer Randbemerkung, die eben keine Gleichsetzung beinhaltete, ein Staatsaffäre geworden. Von einem Nazivergleich war die Rede. Spitzenpolitiker wie Volker Kauder und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel distanzierten sich sofort – offenkundig ohne den Kontext der Bemerkung überhaupt als Hintergrund wahrgenommen zu haben. So entstehen nicht nur Gerüchte, so entstehen auch Urteile, die streng genommen auf Spekulationen und Vermutungen beruhen. Tragisch ist dabei nicht nur die Beobachtung, dass in diesem Fall Journalisten als vierte und notwendige Macht in einer Demokratie eben nicht aufklären, sondern verdunkeln; tragisch ist auch, dass viele sich gar nicht mehr die Mühe der kritischen Hinterfragung des Behaupteten machen. Dabei stellt der Lehrer, der das Gespräch mit dem Bundesfinanzminister für seine Schülerinnen und Schüler organisiert hatte zu Recht fest:
„Urteilsbildung und kritische Distanz als Voraussetzung für Partizipation in demokratischen Prozessen.“ (Quelle: Ebd.)
Das Ausbleiben einer kritischen Distanz ist auch in der Kirche immer wieder zu beobachten. Man braucht dabei gar nicht den noch lauwarm aktuellen Fall des ehemaligen Bischofs von Limburg Franz-Peter Tebartz-van Elst bemühen. Auch hier fehlte einigen die notwendige kritische Distanz, die zur Wahrnehmung eines Sachverhaltes wichtig ist. Der Präfekt der Glaubenskongregation etwa wollte ebenso wenig das Offenkundige und Nachgewiesene wahrhaben wie der Präfekt des päpstlichen Hauses. Es durfte nicht wahr sein, was nicht wahr sein darf: Auch ein Bischof ist ein fehlerhafter Mensch, und das bischöfliche Amt bringt mit seiner ihm eigenen Machtfülle die Versuchung der Selbstüberhöhung mit sich.
In beiden Fällen wird deutlich, dass nicht nur zählt, wer etwas sagt. Etwas ist nicht wahr, bloß weil es in der Zeitung steht oder durch eine Amtsinhaberin oder einen Amtsinhaber gesagt wird. Etwas erlangt Wahrheit, weil es entsprechende Begründungen und Argumente gibt, die auf Voraussetzungen und Axiomen beruhen, die als sicher und fundiert angekommen werden können. Auf seiten der Hörerinnen und Leser bedeutet das, dass sie das, was gesagt wird, nie einfach nur konsumieren dürfen. Sie müssen es selbst prüfen und mitdenken. Zeitung lesen ist Arbeit, Predigten anzuhören auch!
Das Schicksal der Bildung eines unreflektierten Vorurteils ereilt auch mache biblische Persönlichkeit. Wer auch immer von den Schwester Maria und Marta hört, wird sofort den an Marta gerichteten tadelnden Satz Jesu im Kopf haben:
Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden. (Lukas 10,41f – Einheitsübersetzung)
Viele Prediger machen sich nicht erst die Mühe, zu schauen, ob der Satz überhaupt richtig übersetzt ist. Die wörtliche Übersetzung lautet „Maria hat den guten Teil gewählt“ und beinhaltet eine deutlich die Maria betreffende individuelle Komponente, die den Vergleich „Kontemplation ist gut“/“Hausarbeit ist weniger gut“ eben nicht beinhaltet. Statt dessen wird immer wieder die hohe Bedeutung der Kontemplation kolportiert: Beten geht vor Arbeiten statt Beten und Arbeiten. Und so steht die Marta seit Menschengedenken als Getadelte dar, weil sie Jesus gastfreundlich bewirten wollte.
Das Evangelium vom fünften Fastensonntag im Lesejahr A wirft nun aber ein ganz anderes Licht auf das berühmte neutestamentliche Schwesterpaar. Der Bruder der beiden Schwester, Lazarus, ist verstorben. Als er hört, dass Lazarus krank ist, macht er sich auf dem Weg zu ihm, denn die Krankheit des Lazarus
wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. (Johannes 11,4)
Als Jesus ankommt, ist Lazarus gestorben und bereits beerdigt worden. Maria ist in Trauer und Tränen aufgelöst:
Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. (Johannes 11,32)
Es ist derselbse Satz, den auch Marta kurz zuvor bei der Ankunft Jesu gesprochen hat (Johannes 11, 21). Im Unterschied zu ihrer zur Kontemplation neigenden Schwester, die verzweifelt das Haus nicht verlässt, geht die aktive Marta aber aus dem Haus und Jesus entgegen. Sie, die Handfeste, belässt es nicht bei dem frommen Konjunktion des „Wäre“ und „Hätte“. Es treibt sie vielmehr zum Indikativ:
Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. (Johannes 11,22)
Martas Glaube ist aktiv, handfest, fundiert. Er besteht nicht aus frommer Spekulation, sondern aus erdiger Gewissheit. Sie steht nicht nur mit beiden Beinen auf dem Boden, sondern auch im Leben. Gerade deshalb ist ihr Glaube auch in der Krise unerschütterlich:
Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag. Jesus erwiderte ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? Marta antwortete ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. (Johannes 11,23-27)
Wo Maria nur fromm, aber letztlich ohne Hoffnung betet, treibt Marta bodenständige Theologie. Sie spekuliert nicht, sie hat Gewissheit. Das ist nicht das Schlechteste!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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