Wer betet, muss handeln!
Die Zeiten waren schon immer rau. Der Mensch erlebte sich den natürlichen Gewalten ausgeliefert. Als Wesen, das mit Verstand begabt ist, suchte er von Beginn an, die Welt zu verstehen. Schon früh versuchten Mythen, in denen Urmütter und –väter die Welt erschufen und Götter das menschliche Schicksal prägten, das Unheimliche fassbar zu machen.
Je mehr der Mensch die Welt verstand, desto mehr entdeckte er, dass die Welt berechenbar und verlässlich war. Mathematik und Physik führten schon die alten Griechen zu der Frage nach der Metaphysik; also nach dem, was hinter der sichtbaren Welt steht und sie doch im Innersten zusammen hält. So sehr aber der Mensch auch um das Verstehen der Schöpfung rang, so sehr erlebte er sich ihr ausgeliefert. Aller Berechenbarkeit zum Trotz wurde ihm angesichts der Naturgewalten bewusst, wie klein seine Existenz wirklich war.
So fing der Mensch an, zu beten, die Götter mussten gnädig gestimmt werden. Er hielt Riten und Kulte ab und brachte Opfer dar. Der Mensch unternahm viel, um die Götter zu manipulieren. Doch immer wieder musste er feststellen, dass die Götter sich nicht vorschreiben ließen, was sie zu tun und zu lassen hatten. Immer wieder führten sie dem Mensch seinen Grundirrtum vor Augen: Nicht du Mensch sagst, was geschieht.
Die menschliche Hilflosigkeit
Es hat sich nicht viel geändert, seit diesen alten Zeiten. Auch heute noch ist Gott offenkundig vor allem dann gefragt, wenn der Mensch Störungen in seinem Wohlbefinden verspürt. In den kleinen und den großen Krisen der Welt erschallt schnell die Klage: Wo bist Du Gott!? Wie kannst Du das zulassen!?
Fast schon reflexartig fängt auch der moderne Mensch an, zu beten. Israel und Gaza liegen im Krieg miteinander: Wir beten für den Frieden. In der Ostukraine wird gekämpft und ein ziviles Flugzeug abgeschossen: Wir beten für den Frieden. Im Irak verbreitet die Terrorgruppe IS, bei der nicht wenige deutsche Islamisten beteiligt sind, Furcht und Schrecken und bedroht Jesiden und Christen: Wir beten … – nein, das betrifft uns nicht direkt, genau so wenig wie viele andere Konflikte in der Welt. Denn wenn das Gebet für den Frieden wirken würde – die Kriege dieser Welt gäbe es nicht.
Das ist eine ernüchternde Erkenntnis. Und doch zeigt schon ein Blick in die in vielen Kirchen ausliegenden Fürbittbücher, dass Gott für viele offenkundig immer noch dafür zuständig ist, die eigene kindliche Unschuld zu bewahren. Gott soll handeln, der Mensch nur empfangen. Im Liegestuhl des Gebetes kann auch die eigene Ohnmacht noch machtvoll kaschiert werden. Und so beten die Frommen für den Frieden, um Heilung und Berufungen. Wenn das Gewünschte eintritt, dann hat das Gebet gewirkt; wenn nicht: dann muss man mehr beten. Und so werden die gefalteten Hände Gott gegenüber zu einer Drohgebärde: Hier hast Du unser Gebet, das wir mit vielen Worten vor dich bringen. Jetzt handle Du! Das haben wir uns schließlich verdient!
Ein zynischer Gernegroß
Der Mensch, der so betet, wäre gerne groß, so groß, dass Gott seinem Wort gehorcht. Ein Mensch, der so betet, ist zynisch. Er wähnt sich in einer Nähe Gottes, die er durch sein Gebet bewirkt. Sein Gebet ist zauberhaft und magisch, denn er bildet sich ein, mit ihm könnte er die Welt verändern. Er muss nur die richtigen Worte oft genug sprechen, dann wird Wirklichkeit werden, was er betet. Wie ein kleiner Popanz gehorcht Gott ihm auf das Wort. Und darauf ist er stolz, so stolz, dass er zynisch auf die herabblickt, die in seinen Augen nicht oder nicht richtig beten.
Damit der gernegroße Beter in seiner magischen Illusion nicht gestört wird, muss es still sein. Denn angeblich kann man Gott nur in der Stille hören. Der Popanz der Frommen ist offenkundig nicht in der Lage, sich in der von ihm geschaffenen Welt Gehör zu verschaffen.
Eine Lehre für den schmächtigen Beter
Auch Christen sind vor diesem Irrtum nicht gefeit, hören sie ihn doch in zahlreichen Predigten und Gebetsmahnungen: Sei still, wenn Du Gott hören willst; denn Gott spricht leise! – Und als Rechtfertigung wird auf die berühmte Stelle aus dem 1. Buch der Könige verwiesen. Dort wird erzählt, was sich nach der Ankunft des Propheten Elija am Berg Horeb ereignete:
„Dort ging er in eine Höhle, um darin zu übernachten. Doch das Wort des Herrn erging an ihn: Was willst du hier Elija? Er sagte: Mit leidenschaftlichem Eifer bin ich für den Herrn, den Gott der Heere, eingetreten, weil die Israeliten deinen Bund verlassen, deine Altäre zerstört und deine Propheten mit dem Schwert getötet haben. Ich allein bin übriggeblieben, und nun trachten sie auch mir nach dem Leben. Der Herr antwortete: Komm heraus, und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr kam nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr kam nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr kam nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle.“ (1 Könige 19,9-13)
Übersehen wird immer wieder, dass Gott Elija hier vor allem eine Lehre erteilt. Es geht nicht darum, dass Gott in der Stille spricht. Es geht darum, dass Elija lernt, dass Gebet mehr ist als die Dingbarmachung Gottes. Wenige Abschnitte vorher hatte Elija nämlich per Gebet Feuer vom Himmel regnen lassen und ob seiner magischen Gebetsmacht die verspottet, deren Gebete offenkundig nicht wirkten. Mehr noch: Er ließ die, die falsch und zum falschen Gott beteten, töten (vgl. 1 Könige 18,20-40).
Elija gerät ob der vermeintlichen Macht seines Gebetes in eine Krise. Am Gottesberg lernt er jetzt die wahre Macht der Gegenwart Gottes kennen, die sich nicht nur in großen Wunderkräften ereignet, sondern auch im Kleinen.
Gottes Stimme – ein Donnerhall
Tatsächlich braucht Gott die Stille nicht. Im Gegenteil: Seine Stimme ist wie Donnerhall. So heißt es etwa im Buch Ezechiel:
„Da hob mich der Geist empor, und ich hörte hinter mir ein Geräusch, ein gewaltiges Dröhnen, als sich die Herrlichkeit des Herrn von ihrem Ort erhob.“ (Ez 3,12)
Oder im Psalm 29:
„Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern. Der Gott der Herrlichkeit donnert, der Herr über gewaltigen Wassern.“ (Psalm 29,1)
Man muss also nicht still sein, um Gott zu hören. Er ist unüberhörbar. Und so schallt die Klage Gottes an Hiob immer noch laut in der Welt: „Mit dem Allmächtigen will der Tadler rechten? Der Gott anklagt, antworte darauf!“ (Hiob 40,2)
Hier liegt offenkundig das eigentliche Problem so manch frommer Beter. Gott scheint nicht so zu sprechen, wie sie es wollen. Dann gilt es schon eher zu schweigen und den eigenen Gedanken göttliche Qualitäten zuzuschreiben. Und ehe Gottes Wort zu laut wird, versucht manch einer seinerseits, Gott wortreich zur Räson zu bringen.
Wer betet, muss handeln
Jesus selbst kritisiert diese Art des Betens:
„Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meine, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie; denn euer Vater weiß, was ihr braucht, noch ehe ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6,7f)
Gott weiß längst, was wir brauchen. Ob es das ist, was wir wünschen, ist damit noch nicht gesagt. Wahres Beten fordert deshalb nicht. In der Tradition der Juden und Christen ist das Gebet deshalb immer zuerst eine Erinnerung an Gottes bisheriges Heilshandeln gewesen: Gott hat an seinem Volk gehandelt. Gott ist treu. Deshalb wird er weiter handeln. Aber Gott handelt nicht einfach am Volk vorbei. Er handelt mit und durch sein Volk in der Welt. Die Erinnerung an das bisherige Handeln Gottes führt den Menschen deshalb vor die Frage, was dieses für die Gegenwart bedeutet. Erst daraus erwachsen dann Bitte und Dank, Klage und Lob.
In jedem Fall ist es nicht der Mensch, der fordert. Wer so betet, relativiert sich im Angesicht Gottes selbst. Gott handelt nicht für den Menschen, sondern mit ihm. Wer so betet, wird handeln. Was wird der Beter sonst auf die Frage antworten: Wo warst Du? Wie konntest Du das zulassen?
Ora et labora – Bete und arbeite! Wer die Hände zum Gebet gefaltet hat, muss sie öffnen, um in dieser Welt zu arbeiten. Und wer um den Frieden betet, muss ihn tun. Der Friede in der Welt beginnt auch in dieser Stadt.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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