Dies Domini – 21. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Nein, es hatte keine Änderung seiner Substanz gegeben. Es war immer noch von kristalliner, mineralischer Klarheit. Es hatte sein Innerstes bewahrt auf dieser langen Reise. Äußerlich hatte es sich wohl verändert, war abgeschliffen worden von den Gewalten des Wassers, geschmirgelt von den zahlreichen großen und kleine Kollisionen auf dem Weg vom Berg ins Meer. Es hatte gelagert in den Untiefen des Flusses, war mitgerissen worden von den Fluten des Schmelzwassers, hatte in der Strömung der Flussmitte Geschwindigkeit aufgenommen, die sie an den Rand gespült wieder eingebüßt hatte. In den Zeiten niedriger Pegel hatte es sogar die Sonne gesehen. Kinder hatten aus ihm Burgen gebaut. Man konnte etwas mit ihm anfangen. Und jetzt, jetzt sank es – nicht Staub, nicht Stein – als Sediment zu Boden, um irgendwann durch die Gewalten des Erdinnern wieder emporgehoben zu werden. Vielleicht wurde aus ihm das, was es schon einmal war: ein Fels – scheinbar unerschütterlich. In seinem Innern hatte es das Wissen um seine Bestimmung aufbewahrt: Fels zu sein. Und jetzt, zermahlen zu einem Korn von 0,063 bis 2 mm Größe, war es immer noch, was es sein sollte: ein Fels. Vom Fels genommen und zum Fels bestimmt. Was war ein Fels anders als fester, gepresster Sand.
Wer je die Erhabenheit gebirgiger Felsen betrachtet hat, vermag sich kaum vorzustellen, dass die vor Augen stehende Unerschütterlichkeit vorläufig ist. Kein Fels, der nicht zu Sand werden wird. Es ist gerade die unerschütterliche Festigkeit, die ihm zum Verhängnis wird. Er kann den Gewalten, die an ihm zerren, nicht ausweichen. Wind und Wetter verändern ihn. Und doch bewahrt seine mineralogische Struktur die Festigkeit auf.
Sand zu werden ist die Bestimmung des Felsen, sein Schicksal, dem er nicht ausweichen kann. Man mag Häuser besser auf Felsen bauen, als auf Sand. Aber diese Sicherheit ist nur vorläufig. Das Innere des Felsens kann morsch sein. Risse können seine Stabilität gefährden. Eindringendes und gefrierendes Wasser wird ihn sprengen. Wer aber ein Haus auf einen Felsen baut, beschützt auch den Felsen. Fels, bedenke also, was du bist und wozu du werden wirst: Sand.
Allerdings: Aus Sand kann man feste Häuser bauen. Ihre Festigkeit verdanken sie einer Eigenschaft des Sandes, der Formbarkeit. Anders als der unbewegliche Fels, der zu Sand zermahlen wird, ist Sand geschmeidig. Seine Festigkeit verdankt er gerade seiner Flexibilität. Er kann sich veränderten Bedingungen anpassen. So bleibt er im Innern derselbe, äußerlich aber kann er auf die unterschiedlichen Entwicklungen reagieren.
Dabei macht ein Sandkorn noch kein Haus. Es braucht viele Sandkörner und Wasser und Kalk, die Sandkörner verbinden, ihre Ecken und Kanten ausnutzen, die Halten untereinander und Gelegenheit geben, sich zu verhaken, damit aus dem rohen Felsrückständen ein bewohnbares Haus wird; eine feste Burg, die Schutz und Sicherheit bietet.
Es ist die Zeit, die die Dinge verändert. Veränderung ist das Wesen der Zeit. Die lange Weile der Zeit bringt es mit sich, dass der Mensch in der kurzen Spanne seines Lebens diese Veränderungen nicht ermisst und wahrnimmt. Aber sie ist da. Das Leben ist Veränderung. Er der Tod nimmt die Zeit. Tote haben keine Zeit mehr. Was lebt, hat Zeit, verändert sich, um neues Leben zu bringen. Leben wird.
Das Sandkorn trägt, denkt man diesen Gedanken zu Ende, offenkundig die Potenz des Lebens in sich. Jeder Häuslebauer kennt das, wenn sein Haus arbeitet und sich hier und da Veränderungen in der Bausubstanz zeigen. Es sind notwendige Veränderungen, weil sich das Haus so dem immer neuen Bedingungen der Jahreszeiten und ihren Temperaturschwankungen anpasst. Der Fels hingegen wird zersplittern, zerbröseln, zur Veränderung gezwungen, gezwungen zum Leben.
Du bist Petrus – der Fels -, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. (Matthäus 16,18)
Diese an den Apostel Simon Bar Jona gerichtete Verheißung wird im Evangelium vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A verkündet. Simon Bar Jona, der – möglicherweise ob seines Aussehens immer schon den Spitznahmen Kephas, „der Fels“ trug – ist ein einfacher Fischer vom See Genezareth, aber wohl Besitzer eines kleinen Fischereibetriebes, der ihm die Ernährung einer Familie gestattet. Er war es also gewohnt, Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen. Und doch muss in ihm etwas Abenteuerlüsternes wirksam gewesen sein, etwas, das ihn bewogen haben mag, die Verantwortung für seinen Betrieb aufzugeben und hinter diesem Rabbi aus Nazareth herzulaufen. Vielleicht dachte er, es sei nur für kurze Zeit. Man bewegte sich ja anfänglich auch nur um den See Genezareth, so dass er weiter für seine Angelegenheiten sorgen konnte. Erst zum Pascha machte man sich auf den Weg nach Jerusalem, wie es viele Juden taten.
Simon Bar Jona hatte sich diesem Rabbi aus Nazareth angeschlossen. Er hat seine Worte gehört und seine Taten gesehen. Er scheint immer mehr von ihm angezogen worden zu sein. Schließlich befindet er sich mit anderen im engeren Zirkel um diesen Jesus aus Nazareth.
Es muss eine eigenartige Gruppe gewesen sein, ein bunter Haufen, von dem nicht unbedingt alle friedliebend war. Auch Simon Bar Jona war es gewohnt, ein Schwert zu tragen. Als Geschäftsmann weiß man ja nie. Fliehen ist besser als kämpfen, das Leben lieber als der Tod. Tote können keine Familie ernähren. Aber zur Not muss man sich zu verteidigen wissen.
Die Begeisterung in Galiläa um Jesus von Nazareth muss groß gewesen sein. Er erzählte neu von Gott, von diesem Felsen Israels. Er stellte die unerschütterlich brutale Festigkeit der traditionellen Interpretation der Thora in Frage, einer Interpretation, die nicht dem Menschen und dem Leben diente, einer zeitlosen Interpretation. Wer war dieser Jesus aus Nazareth?
Für wen halten die Leute den Menschensohn? (Matthäus 16,13)
Wer so redet und handelt, schürt Gerüchte. Wer so redet und handelt, wird sich selbst fragen, wer er ist. Die tiefergehende Frage Jesu verwundert deshalb nicht:
Ihr aber, für wen haltet ihr mich? (Matthäus 16,15)
Was die Leute reden und denken, ist irrelevant. Was die denken, die einem am nächsten stehen, ist von Bedeutung. Die – vielleicht etwas vorlaute – Antwort des Petrus folgt auf dem Fuß:
Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes! (Matthäus 16,16)
Man kann diesen Satz auf vielerlei Weise lesen: Als Beschwichtigung, als scherzhafte Bemerkung unter Kumpeln, aber auch als Bekenntnis oder Erkenntnis.
Ob der Fischer vom See Genezareth zu so einer tiefgreifenden Erkenntnis fähig war? Jesus scheint da seine Zweifel zu haben:
Nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel. (Matthäus 16,17)
Jesus erkennt in der Bemerkung des Petrus eine Verheißung. Vielleicht erkennt der Mensch Jesus hier zum ersten Mal seine göttliche Bestimmung. Petrus öffnet ihm die Augen: Er ist mehr als ein Rabbi. Wer so redet, wer so in der Lage ist, die Stimmung, die in der Luft liegt, zu erkennen und zu benennen, der hat Führungsqualitäten. Simon Bar Jona, der Betreiber eines Fischereibetriebes aus Kafarnaum, handelte, wie er immer handelte, wenn er erkennen musste, wo die Fischschwärme waren, wenn er den Fang gewinnbringend verkaufen und auch wenn er Krisen bewältigen musste. Er war offenkundig ein Mann der Intuition, die ihn reden, kämpfen, aber auch laufen machte.
Solche Leute suchte Jesus. Leute, die nicht faseln und zerreden, sondern sagen, was sie denken; handfeste Leute, für die ein Wort noch ein Wort ist; Leute, die zu ihren Fehlern stehen und daraus lernen. Auf solche Leute kann man bauen. Wenn es sein muss, auch eine Kirche.
Der Fels ist noch nicht das Haus. Petrus ist nicht der Kirche. Auf Leute wie ihn baut man die Kirche, besser noch: Aus Leuten wie ihm. So heißt es im 1. Petrusbrief:
Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige Opfer darzubringen, die Gott gefallen. (1. Petrusbrief 2,5)
Um das Haus zu bauen, braucht es zermahlenen Felsen. Die Kirche besteht aus Sand, lebendigen Sand, der den Felsen unter ihm vor dem Zerfall beschützt.
Felsen können erschlagen, man kann von ihnen stürzen oder an ihnen zerschellen. In einem Haus aus Sand aber kann man wohnen. Es ist längst Zeit, ein Haus zu bauen, denn der Fels hat wieder Risse bekommen.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
„Solche Leute suchte Jesus. Leute, die nicht faseln und zerreden, sondern sagen, was sie denken; handfeste Leute, für die ein Wort noch ein Wort ist; Leute, die zu ihren Fehlern stehen und daraus lernen. Auf solche Leute kann man bauen. Wenn es sein muss, auch eine Kirche.“
Das ist sicher richtig, nur was bedeutet das für die „Sandkirche“: Braucht es entweder politische Reformatoren oder eher fromme Heilige?