Dies Domini – 5. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Der Mensch ist seinem inneren Wesen nach ein unsteter Wanderer. Sein Habitus ist auf Bewegung ausgelegt. Die frühen Menschen waren Nomaden, die den Herden nachzogen und so von Afrika aus über die Levante nach Europa und Asien, schließlich über die in der Frühzeit vorhandenen Landbrücken auch nach Amerika gelangten. Fünf Kilometer, so haben Forscher herausgefunden, wanderte jede Generation im Schnitt weiter und nahm so den Planeten langsam aber sicher in Besitz.
Das stete Fortschreiten war überlebensnotwendig. Veränderungen des Klimas, der daraus resultierende Wandel der Landschaften und die Auswirkungen auf die Ernährung machten den Menschen zu einem gehenden Wesen. Stillstand konnte den Verlust der existentiellen Grundlagen bedeuten. Jäger und Sammler können nicht bleiben. Sie müssen weiterziehen, weitergehen, weitersuchen. Die damit verbundene Anpassungsfähigkeit hat dem Menschen schließlich das Überleben gesichert.
Der Mensch ist nicht von sich aus sesshaft geworden. Es war die Verknappung von jagbarem Wild, dass eine Neuorientierung notwendig machte. Das Entstehen der Landwirtschaft vor rund 17.000 Jahren diente vor allem der Sicherung der Nahrungsgrundlage. Acker- und Viehwirtschaft entstanden, der Mensch wurde von einem naturverbundenen zu einem kulturschaffenden Wesen. Er begann, die Natur zu gestalten und in sie einzugreifen. Wälder wurden in Acker- und Viehland umgewandelt. Das mittelfristige Verschwinden der Wälder und die landwirtschaftliche Nutzung der Böden führte zu deren Erosion. Und wieder musste der Mensch weiterziehen, in Bewegung bleiben, nach neuen Möglichkeiten des Lebens suchen.
Der Mensch kann nicht still stehen; er darf nicht still stehen. Der Mensch ist ein bewegter Beweger. Er verändert die Welt in dem er auf die Veränderungen der Welt reagiert. Welt und Mensch interagieren. So entsteht Geschichte. Nicht selten erliegt der Mensch dabei der Illusion, er könne den Lauf der Dinge beeinflussen. Tatsächlich ist er den Mächten der Natur heute so ausgesetzt wie zu allen Zeiten. Wer da stehen bleibt, kommt tatsächlich nicht mehr mit – und muss nicht selten für die auf Illusion gebaute Bequemlichkeit einen hohen Preis zahlen. So manches Reich, das sich dekadent im Glanz einer untergegangenen Vergangenheit sonnte, wurde von wandernden Völkern, die auf der Suche nach einer neuen Existenz waren, überrollt. Rom, das ewige Rom, kann davon wahrlich ein Lied singen.
Der Mensch der Postmoderne hat sich nun in seinem Leben eingerichtet. Alles ist abgesichert. Er braucht nicht mehr jagen und sammeln. Eher selten betreibt er Acker- und Viehzucht; und wenn, dann hat er diese Kulturleistung industriell dermaßen perfektioniert, dass die tierischen Gefährten von einst, denen man – gerade weil sie die eigene Existenz sicherten – mit Ehrfurcht und Respekt begegnete, ja manchmal sogar die Wohnstatt mit ihnen teilte, nunmehr eine Sache sind, ein Ding, ein Produktionsmittel. Der Mensch baut nicht mehr an, er beackert nicht mehr, er hütet und behütet nicht mehr, er produziert. Und so kauft er nicht mehr Mittel zum Leben, sondern Produkte. Wo früher der Jäger der Fährte des Wildes folgte und seiner Nahrungsgrundlage mit Ehrfurcht in die Augen blickte, möchte der auf Qualität Bewusste von heute allenfalls noch auf Etiketten ausgewiesene Produktionswege nachvollziehen.
Die Sesshaftwerdung des Menschen hat eigenartige Früchte hervorgebracht. Sie tut weder dem Menschen noch der Schöpfung wirklich gut. Mit der Sesshaftwerdung wähnt sich der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Die Heimat wird zum Ideal. Von hier aus wird die Welt beurteilt in Nah und Fern. Der Horizont aber wird klein und eng, begrenzt vom vertrauten Höhenzug oder der Skyline der Stadt, den Mietshäusern auf der anderen Straßenseite und der Palisade, die den Schrebergarten umgibt – das ist die vertraute Heimat, in der sich der postmoderne Mensch eingerichtet hat und den Herausforderungen und Abenteuern des Lebens entronnen ist. Zum Jagen geht es in den Supermarkt, wo er mit der Plastikkarte die Produkte für das Abendbrot erlegt.
Heimat – das ist auch in der Kirche ein Begriff mit hohem emotionalen Gehalt. Die Kirche im Dorf ist selbst für viele, die der Botschaft der Kirche eher kritisch gegenüber stehen, ein wichtiger Ankerpunkt im Leben. Dabei verdankt sich die Kirche ihre Botschaft einem galiläischen Wanderprediger. Dass das Evangelium letztendlich überhaupt über Judäa hinaus verkündet wurde, ist das Werk frühchristlicher Wandermissionare. Verkündigung ist immer auch Bewegung. Nicht umsonst nannte man die frühen Christen auch die „Anhänger des neuen Weges“ (vgl. Apostelgeschichte 19,23).
Die stabilitas loci, die Ortsgebundenheit, wie sie das kirchliche Leben heute prägt, war jedenfalls der frühen Christen Sache nicht. Sie orientierten sich dabei an der Praxis Jesu selbst, wie sie auch im Evangelium vom 5. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B geschildert wird. Nachdem er in Kapernaum zahlreiche Menschen geheilt hatte – unter anderem auch die Schwiegermutter des Petrus – heißt es:
In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich. Er antwortete: Lasst uns anderswohin gehen, in die benachbarten Dörfer, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen. Und er zog durch ganz Galiläa, predigte in den Synagogen und trieb die Dämonen aus. (Markus 1,35-39)
Die wenigen Verse sind von einer starken Dynamik geprägt: Aufstehen und gehen, nacheilen, suchen und finden, gehen und kommen, losziehen und verkünden – mit Worten und mit bewegenden Taten, die treiben. Es verwundert angesichts der intensiven Bewegungen, die der Text ausführt, dass häufig der Rückzug Jesu in die Stille (die der Text gar nicht benennt!) zum Zwecke des Gebetes betont wird. Der Text sagt eher das Gegenteil. Der nacheilende Simon wird mit seinen Begleitern Jesus nicht viel Zeit zum Gebet gelassen haben. Und wie so häufig, wenn Jesus sich zurückgezogen hat und aufgefunden wird, steht er unverzüglich auf. Wer Gott finden möchte, findet ihn nicht nur in der Stille, sondern zuvorderst im Nächsten – so assoziiert dieses Verhalten.
Die Dynamik des Textes fordert aber noch an einer anderen Stelle heraus. Jesus will weiterziehen. Seine Botschaft ist in Kapernaum verkündet. Die Zeichen sind gesetzt. Der Same ist gesät. Er kann jetzt selbst weiterwachsen. Neues Ackerland wartet. Das Evangelium ist nichts für Sitzenbleiber – es bewegt.
Verkündigung ist das Wesen der Kirche. Das sollte sich auch auf die Gemeinschaft der Glaubenden auswirken. Ihrem inneren Wesen nach müsste die Kirche eigentlich dynamisch sein. Stattdessen aber sind die Gemeinden von heute zu einer Heimat geworden, zu faktisch geschlossenen Gruppen, die zwar behaupten, offen für Neues zu sein, die jede Veränderung aber bekämpfen. Diese Kirche ist nicht mehr Kirche im Vollzug (ecclesia in actu), sondern eine ecclesia in situ eine Kirche am Ort, verlässlich – aber unbeweglich, vertraut – aber kaum mehr inspirierend, nicht störend – gewöhnlich. Es kann kaum verwundern, dass diese Art Kirche nicht mehr verstört, kaum mehr herausfordert, immer weniger anzieht.
Kirche ist von ihrem Ursprung her nicht die Gemeinschaft fester Gemeinschaften. Kirche ist kein Zustand. Sie ist ein Ereignis. Sie ereignet sich da, wo Menschen im Namen Jesu versammelt sind (vgl. Matthäus 18,20). Kirche kann man deshalb nicht durch feste Grenzen territorialer oder personaler Art definieren. Kirche ist fluid. Kirchliche Gemeinschaften entstehen, vergehen und entstehen neu – immer dann, wenn Menschen sich im Namen Jesu versammeln. Das ist anstrengend? Sicher! Das ist unsicher? Auch! Das ist das Leben! Und was für eins! Denn so ist der Mensch: Von seinem Wesen her in Bewegung, auf der Suche nach dem was sein Leben trägt und was er zum Leben braucht. Wird der Mensch, der dem Sinn des Lebens nachjagt und seinen Spuren folgt, etwas finden? Spuren hinterlässt nur, wer geht ….
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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