Dies Domini – 12. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Grenzen zu ziehen ist dem Wesen des Menschen an sich eigentümlich. Allein die Körperlichkeit des Menschen begrenzt ihn. Der Leib des Menschen umfasst diese Einheit von Seele und Körper, die seine Person begründet und ihn von anderen Leib-Seele-Einheiten unterscheidet. Person wird der Mensch unter anderem erst durch diese Begrenzung des ihm zukommenden Raums und der ihm gegebenen Zeit. Beides ist begrenzt und verortet in dem großen Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich immer der Mensch immer neue Abgrenzungen formuliert: Galaxien, Sonnensysteme, Planeten, Planetoiden, Kometen, Meteore und Meteoriden. Des Menschen Lust ist die De-finition, die Abgrenzung (so die deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes „definitio“). Er braucht die Definition, um die Welt im wahrsten Sinn des Wortes begreifen zu können. Hier und da, hüben und drüben, jetzt und bald – oder schon früher, oben und unten – erst durch die Definition, durch die Abgrenzung erhält die Welt für den Menschen eine Struktur. Es verwundert also nicht, dass schon im Paradies die Abgrenzung zum Wesen des Menschen gehörte, er, der jedem Lebewesen seinen Namen gibt:
Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes. (Genesis 2,19-20)
Der kurze Text ist bemerkenswert. Gott macht den Menschen zu seinem Kompagnon, also zu seinem Gefährten. Er, der schafft, überlässt seinem Gefährten die hoheitliche Aufgabe der Namensgebung, der Definition. Bereits hier, am Beginn der Raum-Zeit-Geschichte des Menschen, wird deutlich, wie groß das Vertrauen Gottes in den Menschen ist. Der Mensch hat noch keine Erkenntnis. Er ist noch unmündig wie ein Kind, das sich seiner Nacktheit noch nicht bewusst ist. So heißt es wenige Verse später:
Beide, Adam und seine Frau, waren nackt, aber sie schämten sich nicht voreinander. (Genesis 2,25)
Bereits als dem noch Erkenntnis fehlenden Mängelwesen verfügt der Mensch also schon über hoheitliche Kompetenz. Er erschließt sich die Schöpfung durch Definition und Namensgebung. Und er erschließt sie sich von sich aus als Mitte der Welt. Der Mensch hält sich selbst für die Mitte einer Welt, die um ihn herum ist. In dieser hoheitlichen Unmündigkeit fällt ihm auf, dass ihm eine Gefährtin fehlt. Er erkennt den Schöpfer nicht als Gefährten, ihn, der sein Geschöpf zum Partner gemacht hat.
Der Schöpfer ist ob der mangelnden Erkenntnis seines Geschöpfes nicht gram. Er erschafft ihm eine Gefährten, die seinesgleichen ist. Aus seiner Seite wird sie genommen, so dass sie sich auf Augenhöhe – Seite an Seite begegnen können. Der Schöpfer ist als Partner wohl zu groß für das Menschenkind.
Überhaupt schaut der Mensch nicht gerne auf zu seinem Schöpfer. Seine Größe ist für ihn nicht erfassbar. Sie übersteigt seine Erkenntnis. So wähnt er sich selbst als Krone und Mittelpunkt der Schöpfung. Aber die Menschenkinder wachsen heran und erlangen Erkenntnis:
Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse. Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war udn dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; uns sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß. Da gingen beiden die Augen auf udn sie erkannten, dass sie nackt waren. Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz. (Genesis 3,4-7)
Mit der Erkenntnis kommt die Scham – und die Selbsterkenntnis der eigenen fragilen Vergänglichkeit. Es ist eine Erkenntnis, die der Stolz des Menschen, der doch so gerne die Mitte der Welt sein möchte, kaum ertragen kann. Gott setzt diesem Streben des Menschen von Beginn an eine Grenze. Er entgrenzt ihn aus dem Garten Eden, diesem Garten der Unschuld, die der Mensch verloren hat, als er so sein wollte wie Gott. Weil er so sein will wie Gott, muss er die Welt nun bestellen und beschaffen. Wahrlich: Gott nimmt den Menschen als Partner ernst. Er mutet ihm zu, die Welt zu bestellen, schöpferisch tätig zu werden, um sein Leben zu sichern. Der verständige Mensch ist dem Paradies entgrenzt, weil er es nicht mehr braucht. Das Paradies ist ihm zu klein geworden. Die Welt wartet auf ihn und er muss in die Welt, denn eine Rückkehr in das Paradies der kindlichen Unschuld ist ihm, der wie Gott sein wollte, nicht mehr möglich.
Aber das Problem der Raum-Zeit bleibt. Mit jedem Schritt, den der Mensch auf den Horizont, diese Grenze zwischen Erde und Himmel zugeht, weicht der Horizont einen Schritt weiter. Die Illusion, Mittelpunkt einer solchen Welt zu sein, ist mächtig. Und die dem Menschen gegebenen Macht ist groß. Er verändert die Schöpfung, er schafft sich seine Welt. Die Größe seiner Macht erschreckt ihn wohl. Und so zieht er neue Grenzen auf dem Planeten, der ihm gegeben ist und an den er gebunden ist – zu lebensfeindlich ist die den Planeten Erde umgebende Dunkelheit des Alls. Er zieht Grenzen auf diesem Planeten, die den Nationen und Völkern ihre eigenen Territorien zuweisen. Hier ich, dort du. Und gerade das Volk der Deutschen ist ein Meister in der Ziehung von Grenzen. Kein Eigenheim, kein Schrebergarten, der nicht seine liebevoll gestaltete und doch wehrhafte Einfriedung hätte, die zeigt: Das gehört mir und hier bin ich der Herr, der bestimmt, und die Frau, die das sagen hat: Hier bin ich, der ich bin!
Die Verteidigung des Eigentums gehört denn auch zu den selbstverständlichen Rechten, die der Mensch zu haben glaubt. Er realisiert nicht mehr, dass Gott ihm eine Welt anvertraut hat, eine Welt, die keine Grenzen kannte. Der Mensch aber braucht die Grenzen, um die Welt begreifen zu können. Als Erdenwesen fehlt ihm freilich der Überblick. Er erliegt der Illusion, die Grenzen seien Teil der Schöpfung. Und so beruft er sich auf ein Eigentum, das ihm bestenfalls geliehen ist. Den Zweifel, der so an ihm nagt, bekämpft er durch höhere und bessere Grenzen, die wehrhafter sind und das Fremde außen vor halten, jenes Fremde, das das Eigene zu bedrohen scheint, auf das man ein gottgegebenes Anrecht zu haben glaubt.
Jene, denen es vergönnt war, die Erdenverhaftung hinter sich zu lassen und in der Schwerelosigkeit des Alls auf den Heimatplaneten der Erdlinge in seiner ganzen Schönheit sehen zu können, berichten übereinstimmend, dass sie keine Grenzen erkennen konnten. Es ist dieser eine Planet in seiner Gänze, der dem Menschen von Gott anvertraut ist. Die Grenzen selbst sind menschengemachte Definitionen, Illusionen einer Macht der Machbarkeit und Beherrschbarkeit, die bei jedem Naturereignis in Frage gestellt wird. Jeder Sturm sollte den Menschen eigentlich zur Bescheidenheit mahnen, so wie es Gott in der ersten Lesung vom 12. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B tut:
Der Herr antwortete dem Ijob aus dem Wettersturm und sprach: Wer verschloss das Meer mit Toren, als schäumend es dem Mutterschoß entquoll, als Wolken ich zum Kleid ihm machte, ihm zur Windel dunklen Dunst, als ich ihm ausbrach meine Grenze, ihm Tor und Riegel setzte und sprach: Bis hierher darfst du und nicht weiter, hier muss sich legen deiner Wogen Stolz? (Ijob 38,1.8-11)
Der Illusion der Macht, Grenzen setzen zu können, wird von Gott selbst immer wieder eine Grenze gesetzt. Der Mensch, der sich wirklich selbst erkennen will, muss die Perspektive wechseln. Er muss von der Illusion, selbst Mittelpunkt der Welt zu sein, Abschied nehmen und sich in Relation zu Gott begreifen. Angesichts seiner Größe wird der Mensch erst erkennen, was er ist: Mensch, Partner Gottes, Gefährte – aber nie und nimmer Schöpfer. Die Gottespartnerschaft verleiht ihm Würde, nicht aber Schöpfungsgewalt. Die Schöpfung ist ihm anvertraut, auf dass er sie hüte und hege, nicht aber dass er sie als sein selbstverständliches Eigentum betrachte. Angesichts der Größe des Weltalls, das der Mensch in die kleine Welt seiner Definitionen pressen möchte, sollte dem Menschen immer wieder neu die Frage aller Fragen in Ohren, Herz und Seele klingen:
Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt, mit Gerede ohne Einsicht? (Ijob 38,2)
Wer zur Antwort bereit ist, wird sagen: Ich bin es, der seine raum-zeitliche Nacktheit mit dem Feigenblatt der Eitelkeit bedeckt; ich, der glaubt, seine leiblich-seelisch begrenzte Person zum Mittelpunkt der Welt erheben zu können; ich, der meint, alles müsse um ihn kreisen; ich, der bereit ist, Grenzen zu ziehen, um das Fremde abzuwehren, und Definitionen so zu verändern, dass sie meinen Befindlichkeiten entsprechen.
Ein solcher Mensch schließlich wird erkennen. Mit Ijob wird er erschrocken wie ein Kind antworten:
Siehe, ich bin zu gering. Was kann ich dir erwidern? Ich lege meine Hand auf meinen Mund. Einmal habe ich geredet, ich tue es nicht wieder; ein zweites Mal, doch nun nicht mehr! (Ijob 40,3-5)
Aber Gott wollte einen Gefährten, einen Partner. Gott wollte, dass der Mensch mündig ist. Gott braucht keine ängstlichen Kinder, sondern Frauen und Männer der Tat, die nicht sein wollen wie Gott, und doch das göttliche Werk tun:
Da antwortete der Herr dem Ijob aus dem Wettersturm udn sprach: Auf, gürte deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, du belehre mich! Willst du wirklich mein Recht zerbrechen, mich schuldig sprechen, damit du Recht behältst? (Ijob 40,6-8)
Wie Ijob muss der Mensch schließlich sein Dilemma erkennen. Er ist nicht Gott, er ist noch nicht einmal wie Gott, aber er ist der Gefährte Gottes, sein irdischer Kompagnon, dem Gott Grenzen setzt, damit er sein kann, was er ist – Mensch:
Da antwortete Ijob dem Herrn und sprach: Ich hab erkannt, dass du alles vermagst; kein Vorhaben ist dir verwehrt. Wer ist es, der ohne Einsicht den Rat verdunkelt? So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind. Hör doch, ich will nun reden, ich will dich fragen, du belehre mich! Vom Hörensagen nur hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum widerrufe ich und atme auf, in Staub und Asche. (Ijob 42,1-6)
Erst wenn der Mensch seine raum-zeitliche Begrenzung erkennt, wird er die Größe seiner Existenz erkennen. Es ist die Erkenntnis der eigenen Grenzen, die die wahre Menschlichkeit zum Vorschein bringt, eine Menschlichkeit, die die verlieren, die glauben, anderen Grenzen aufzeigen zu müssen. Wie Borderliner überheben sich diese Menschen, sie überschätzen sich selbst, schaden in ihre Impulsivität, das vermeintlich Eigene verteidigen zu müssen, anderen und verlieren schließlich die Fähigkeit, wahre Beziehungen aufzubauen. Einsam sitzen sie dann in der Mitte ihres umzäunten Gartens, der eben kein Garten Eden ist. Dort, wo der Baum des Lebens stand, sitzt er nun, der selbst ernannte Gartenzwerg und ängstigt sich vor der Welt draußen vor dem Tor, wo der Tagwind weht und eine Stimme ruft:
Adam, wo bist Du? (Genesis 3,9)
Aber Gartenzwerge antworten schon aus Prinzip nicht.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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