Dies Domini – 3. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Die Sprache erschließt dem Menschen weite Welten, in denen er sich heillos verirren kann. Es besteht eine natürliche Differenz zwischen Meinen und Verstehen. Und dabei ist noch lange nicht geklärt, ob das Gesagte auch wirklich das Gemeinte ist. Die menschliche Sprache ist das Vehikel sozialer Kommunikation, ohne die der Mensch nicht sein kann. Mit Hilfe der Sprache erfasst und begreift er seine Umwelt. Mit Hilfe der Sprache vermag er die Dinge denkend zu ordnen. Mit Hilfe der Sprache kann er planen. Wahrlich: Die Sprache eröffnet ihm neue Welten, die ihm Visionen ermöglichen. Erst diese visionäre Macht der Sprache macht Entwicklung und Progression möglich. Sprache kann Frieden schaffen, aber auch den Krieg entfesseln. Denn der Segen der Sprache ist von einem ständigen Fluch bedroht: Der Uneindeutigkeit.
Die Differenz zwischen Gesagtem, Gemeintem und Verstandenem schafft die Notwendigkeit einer stetigen Interpretation. Das ist das Los der Worte: Es kann keine Kommunikation ohne Interpretation geben. Das Verstehen ist dabei im wahrsten Sinn des Wortes ein notwendiger Akt der Interpretation. Der um Verstehen Bemühte muss seine eigene Perspektive verlasse. Er muss den Standpunkt wechseln, sich im wahrhaft ver-stellen, um ver-stehen zu können. Die darin enthaltene Selbstrelativierung ermöglicht dann erst die Eröffnung neuer Blickwinkel. Sie weitet den eigenen Horizont. Die Habgier des bloßen Wissens ist dem um das Verstehen Ringenden zu wenig. Der Wissende glaubt seinem eigenen kleinen Horizont, der Weise versteht zu allererst, dass er nichts wirklich wissen kann.
Die Überwindung der kognitiven Dissonanz zwischen bloßem Wissen und weisem Verstehen ist die Aufgabe solider Interpretation. Dabei weiß der weise Interpret um den bleibenden Interpretationsüberschuss. Die wesenhafte Uneindeutigkeit menschlicher Sprache macht eine endgültige Interpretation für alle Zeiten unmöglich.
Diese Erkenntnis hat Folgen gerade auch für die religiöse Rede. Die christliche Geschichte ist voll von existentiellen Differenzen um theologische Grundfragen. Ob es die Frage nach dem Wesen Jesu war, die im Jahr 325 n.Chr. auf dem Konzil von Nicäa nach langem Ringen zu der Erkenntnis führte, dass Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist, bis hin zur dogmatischen Festlegung der real präsenten Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein durch die Transsubstantiationslehre des (nachreformatorischen) Konzils von Trient (1545-1563 n.Chr.) – es bleibt ein Interpretationsüberschuss. So sehr ein Dogma eine letztgültige Entscheidung einer theologischen Frage herbeiführt, das Problem seiner eigenen Interpretierbarkeit bleibt unwiderruflich bestehen. Gerade die Transsubstantiationslehre des tridentinischen Konzils wird gegenwärtig wieder diskutiert. Mit ihr hatte sich das Tridentinum gegen die Ansicht Martin Luthers gestellt, der zwar zeitlebens an der Realpräsenz – als der realen Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den eucharistischen Gaben von Brot und Wein – festhielt, in der auf Thomas von Aquin zurückgehenden Transsubstantiationslehre aber eine bloß sophistisch-subtile Spekulation sah. Demgegenüber hält das Konzil von Trient fest:
„Durch die Konsekration des Brotes und Weines geschieht eine Verwandlung der ganzen Substanz des Brotes in die Substanz des Leibes Christi, unseres Herrn, und der ganzen Substanz des Weines in die Substanz seines Blutes. Diese Wandlung wurde von der heiligen katholischen Kirche treffend und im eigentlichen Sinne Wesensverwandlung (Transsubstantiation) genannt.“
Dieser Satz ist inklusive seiner Implikationen für das Amts- und Kirchenverständnis für die römisch-katholische Kirche konstitutiv; Christinnen und Christen der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen können ihm nicht folgen. Die unterschiedlichen Interpretationen werden bei allen verbindenden Gemeinsamkeiten dann doch zu entschiedenen Merkmalen grundlegender Differenzen. Die Entscheidung des Konzils ist dogmatisch, als abschließend und grundsätzlich. Und doch bietet sie auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche nach wie vor Raum für Diskussionen: Was meint „Substanz“, was heißt „im eigentlichen Sinn“; eröffnet das Wörtchen „treffend“ nicht doch Raum für Spekulationen über andere mögliche Verständnisse? Liegt hier gar eine Chance für das ökumenische Gespräch?
Die mangelnde Eindeutigkeit der Sprache bleibt eine Herausforderung für den Menschen. Wer glaubt, verstanden zu haben, bringt sich um die Früchte wahren Verstehens, das sich als nie abschließbarer Prozesse entpuppt.
Von der stets andauernden Notwendigkeit solider Interpretation ist auch das Wort Gottes selbst betroffen. Dabei steht am Ausgangspunkt jedes interpretativen Umgangs mit dem heiligen Text die Aufgabe, Rechenschaft über das Verständnis abzulegen, was und in welcher Weise die als heilig verehrten Texte überhaupt „Wort Gottes“ sind. So schreibt der an der Universität Münster lehrende islamische Theologe Mouhanad Khorchide in einem bemerkenswerten Artikel mit Blick auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander:
„Sowohl für den Koran als auch für die Bibel gilt: Es kommt weniger auf das an, was drinnen steht, sondern auf die Frage, wie die jeweiligen Gläubigen damit umgehen und es in ihr Leben einbeziehen. Denn auch die Bibel spricht von einer Hierarchie zwischen den Geschlechtern zugunsten des Mannes (1 Mo 3,16). Lesen Muslime und Christen diese und ähnliche Stellen nun als Imperative, die ihre Gültigkeit auch heute haben, oder lesen sie diese Stellen als Beschreibungen eines bestimmten gesellschaftlichen Kontextes?“ (M. Khorchide, Die Männerbilder des Korans, in: Zeit online (15. Januar 2016), Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-01/islam-maennerbild-geschlechter-koran/komplettansicht [Stand: 23. Januar 2016])
Das es hierbei um viel mehr als um eine akademische Gedankenspielerei geht, zeigen die weiteren Ausführungen Khorchides:
„Muslime, die den Koran wortwörtlich lesen und seinen Wortlaut ins Hier und Heute übertragen wollen, werden es schwer haben, sich von einem patriarchalischen Männerbild zu verabschieden. Nur eine historische Kontextualisierung, die den Koran in seinem Verkündigungskontext verortet, kann davor schützen, sich rückwärtsorientiert an den gesellschaftlichen Verhältnissen des siebten Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel mit dem Glauben zu orientieren, man würde damit nach einem frommen Lebenskonzept leben. Es ist also die Frage, ob Muslime von der Abgeschlossenheit oder Offenheit des Korans ausgehen. Die Offenheit des Korans bedeutet, dass der Koran immer neu gelesen werden muss, um ihn in den Herzen der Gläubigen lebendig zu halten. Viele argumentieren damit, dass der Koran das Wort Gottes ist und daher nicht anders umzusetzen sei als in seinem Wortlaut.“ (Ebd.)
Die Art und Weise, wie die Interpreten mit den Texten umgehen, sagt also viel über das jeweilige Gottesverständnis aus:
„Gehen wir von einem Gott aus, dem es um seine eigene Verherrlichung geht, oder von einem Gott, dem es um den Menschen, um seine Würde, seine Glückseligkeit und seine Mündigkeit geht?“ (Ebd.)
Das ist in der Tat eine entscheidende Frage, die weit über den interreligiösen Dialog hinausgeht. Denn für Christen ist der Glaube an den vom Kreuzestod Auferstandenen unabhängig von der Konfession konstitutiv. So stellt Paulus im ersten Korintherbrief unumwunden fest:
Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos. (1 Korinther 15,14)
Die Aussage ist für Paulus so wesentlich, dass er sie wenige Verse später in 1 Korinther 15,17 wiederholt. Dabei beinhaltet die Aussage des vom Kreuzestod Auferstandenen ein Paradox: Der Gekreuzigte galt auf dem Hintergrund der Aussage von Deuteronomium 21,23 als Gottverlassener:
Denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter.
Die Auferstehung aber kann nur Gottes Tat selbst gewesen sein. Nur Gott kann aus Totem Leben erschaffen.
Der von Gott Verfluchte wird von Gott zum Leben erweckt – dieses Paradox ist der Ausgangspunkt nicht nur des christlichen Glaubens, sondern auch die Initialzündung aller christlichen Theologie. Wer Theologie treibt, muss streiten. Er muss die Dinge immer wieder neu betrachten. Sein Handwerkszeug ist die Sprache. Weil Sprache sein Handwerkszeug ist, muss er immer wieder neu verstehen. Nicht umsonst schreibt Lukas an Theophilus am Beginn seines Evangeliums, das am 3. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr C verkündet wird:
Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest. (Lukas 1,1-4)
Der kurze Textabschnitt enthält alles, was jeder Interpret und jede Auslegerin von Texten, aber auch von verbalen und non-verbalen Äußerungen beachten muss:
1. Es genügt nicht, auf abgeschlossene Aussagen zu verweisen.
2. Gerüchte sind keine Argumente. Behauptungen und Meinungen brauchen Belege und Beweise. Wer nicht selbst Zeuge war, braucht das glaubwürdige Zeugnis von Augen- und Ohrenzeugen.
3. Die Aneignung von Wissen und das Ringen um Verstehen stellt sich jedem Menschen neu. Die Wahrheit schlechthin muss in jedem einzelnen Menschen neu verstanden werden und Raum gewinnen.
Wie konstitutiv diese Einsicht gerade für das christliche Gottesverständnis ist, wird deutlich, wenn es am Beginn des Johannesevangeliums heißt:
Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. (Johannes 1,14)
Über das Wort, von dem Johannes hier spricht, bekennt er vorher:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. (Johannes 1,1-3)
Gott ist Wort! Oder besser auf griechisch: Gott ist λόγος (gesprochen: lógos). Im Logos schwingt viel mehr mit als der Begriff „Wort“. Der Logos ist auch der Verstand, das Begreifen, das Verstehen. Er ist die schöpferische Kraft, die Welt und Wirklichkeit schafft. Der göttliche Logos ist die Ursache des Seins schlechthin. Und dieser göttliche Logos wird Fleisch!
Für Johannes ist Jesus Christus selbst der fleischgewordene Logos, der unter den Menschen gewohnt hat. Die von Mouhanad Khorchide angemahnte dialogisch-liebende Begegnung Gottes mit den Menschen wird von Christen in Jesus Christus nicht nur er- und bekannt. Sie konstituiert auch das christliche Gottesbild an sich Gott ist Liebe! – das ist nicht bloß ein netter Spruch. Denn Liebe drängt nach Erfüllung durch ein freies Gegenüber – das Risiko der Ablehnung eingeschlossen!
Das christliche Gottesverständnis hat aber noch weitere Implikationen. Die Fleischwerdung des Wortes ist zwar auf der einen Seite in Jesus Christus exklusiv gegeben. Sie wird aber gerade aufgrund des darin erkennbaren Wesens Gottes zur Aufgabe für die Christen selbst. Das Wort muss in den Christen selbst immer neu Fleisch werden und Gestalt annehmen. Fleischwerdung aber erschöpft sich nicht im bloßen Bekenntnis frommer Lippen, sondern im konkreten Bekenntnis furchtloser Herzen, mutiger Köpfe und tatkräftiger Hände. Wenn Gott Mensch wird, dann hat der Mensch an sich – unabhängig von seinem Glauben oder Nicht-Glauben – Würde, denn alles, was geworden ist, verdankt sein Sein dem göttlichen Logos. Wer Gott verehren will, kann dies wahrhaft nur im Dienst am Nächsten tun. Nicht umsonst mahnt Paulus die korinthische Gemeinde in der 2. Lesung vom 3. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C:
Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm. (1 Korinther 12,26)
Die vernetzten Realitäten der Gegenwart lassen erkennen, dass das paulinische Bild nicht mehr nur exklusiv für die kleinen Gemeinden gilt, sondern für das gesellschaftliche Miteinander überhaupt.
Es ist ein Spezifikum des christlichen Gottesverständnisses, das in dem Paradox des vom Kreuzestod Auferstandenen mündet, das zu dieser Erkenntnis führt: Gott ist der Welt nicht fern. Er solidarisiert sich mit dem menschlichen Schicksal – total, ohne Hintertür, ohne Wenn und Aber! Das ist das Los des fleischgewordenen Wortes. Gerade deshalb gibt es für die, die dem vom Kreuzestod Auferstandenen nachfolgen, keine Unterschiede in der Würde Glaubender oder Anders- bzw. Nichtglaubender.
Hier geht es also um mehr, als um das Verstehen von Worten. Es geht mehr, als um eine sprachphilosophisch-spekulative Sophisterei. Es geht um das Menschsein an sich! Es geht um das Miteinander von Menschen und Kulturen in der Welt, in der wir leben. Religion und Kultur gehen nicht ineinander auf, prägen sich aber gegenseitig. Die große Herausforderung der Gegenwart besteht unter anderem in der Auseinandersetzung mit einem Islam, der einer sich selbst als aufgeklärt wähnenden westlichen Welt fremd erscheint. Weil man schon alles zu wissen glaubte, hat man die kulturprägende Macht des Glaubens unterschätzt. Man hat sich gerne mit der Schönheit eines Islam beschwichtigt, dessen Geschichte in der Tat großartige kulturelle Schätze hervorgebracht hat. Und doch bleibt die Frage, ob der Islam, der die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus konstitutiv ablehnt, die Frage wirklich beantworten kann, wie denn Gott sich freiheitsgewährend dem Menschen so offenbart, dass Würde, Glückseligkeit und Mündigkeit des Menschen gewahrt bleiben?
Die Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus, die Fleischwerdung des göttlichen Wortes, eröffnet diese konkrete Begegnungsmöglichkeit – auch wenn man dafür auf das Zeugnis von Augen- und Ohrenzeugen vertrauen muss. Gerade weil diese Selbstoffenbarung nach Menschenart in menschlichen Worten geschieht, ist sie nicht nur interpretierbar; man kann sie auch ablehnen. Das Wesen des christlichen Glaubens fußt auf dieser Freiheit. Wer auch immer diese Freiheit mit Füßen tritt – und es besteht kein Zweifel, dass das im Namen der Kirche viel zu oft geschehen ist – er kann sich gerade nicht auf den Willen Gottes berufen.
Kann aber eine Religion, die die Fleischwerdung des göttlichen Logos, seinen Kreuzestod und seine Auferstehung in sich apodiktisch ausschließt, wirklich zu einem solch grundlegenden Verständnis des Verhältnisses von Gott und Mensch gelangen, das von einer grundlegenden Würde und Mündigkeit ausgeht? Ich würde das mehr als gerne mit Mouhanad Khorchide diskutieren und mit ihm streiten und weiter interpretieren und ringen um das Verstehen, denn ich glaube daran, dass sich in Jesus, dem Christus, die Verheißungen erfüllt haben und dass in ihm das Wort Fleisch wurde – mit allen konkreten Konsequenzen, die dieser Glaube hat!
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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