Dies Domini – Zweiter Sonntag der Osterzeit (Weißer Sonntag), Lesejahr C
Theorien sind wie Häuser, deren Standfestigkeit im Kopf des Theoretikers unzweifelhaft ist. Unter den Laborbedingungen der intellektuellen Glasglocke ist alles erlaubt, solange es systemimmanent stimmig bleibt. Die meisten Theorien bestehen deshalb aus vereinfachenden Systematisierungen, die sich in powerpoint-affine Grafiken fassen lassen. Das ist meist unterkomplex, aber schön anzuschauen. Mit dem Anschein eines intellektuellen Gestus dargeboten, könnte man meinen, der Theoretiker habe den Schlüssel zur Wirklichkeit gefunden, die eine Formel, die die Lösung aller Problem in sich birgt.
Ob es sich bei einem theoretischen Entwurf um ein Luftschloss handelt oder einen soliden, lebenstauglichen Entwurf, das wird meist erst in der Praxis deutlich. Selbst faktenorientierte Ingenieure haben mittlerweile die kognitive Dissonanz zwischen Theorie und Praxis erkannt. Eines der bekannten Beispiele ist die 1940 erbaute Tacoma-Narrows-Brücke. Die Brücke im Staat Washington (USA) wies seinerzeit mit einer Spannweite von 853 Metern die drittgrößte Spannweite aller Hängebrücken weltweit auf. Sie zeichnete sich durch eine äußerst niedrige und schlanke Stahl-Vollwand-Konstruktion aus, wie sie auch an der Rodenkirchener Brücke in Köln zu finden ist. Die Statik sollte optisch leicht sein, den Berechnungen ihres Planers Leon S. Moisseiff zufolge aber auch größeren Windgeschwindigkeiten problemlos standhalten.
Bereits vier Monate nach ihrer Eröffnung zerbarst die Brücke. Sie hatte den ersten Praxistest bei aufkommendem Starkwind nicht überstanden. Der Wind hatte die Eigenfrequenz der Brücke angeregt. Die gesamte Konstruktion geriet in eine selbsterregte und sich selbst verstärkende Schwingung, die dazu führte, dass sich die Fahrbahn in sich selbst verwand. Schließlich zerbrach die Konstruktion.
In der Theorie war die Tacoma-Narrows-Brücke von 1940 ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, erdacht und errechnet am Schreibtisch. In der Praxis aber traten Einflüsse zutage, die der Ingenieur nicht mit bedachte hatte. Die Realität ist komplexer als es die meisten Theorien vorsehen.
In den Ingenieur- und Naturwissenschaften hat nicht nur das Desaster der ersten Tacoma-Narrows-Brücke zu einem Umdenken geführt. Theorien werden weitergebildet – und Theoriebildungen sind notwendig. Aber jede Theorie wird auf ihre Praxistauglichkeit hin untersucht. Brücken etwa werden als maßstabgetreue Modelle in Windkanälen getestet, bevor man sie in der Realität konstruiert. Und selbst die spezielle Relativitätstheorie Albert Einsteins, die sich in der reduktionistischen Ästhetik der Formel E=mc2 fassen lässt, blieb eine Theorie, bis sich ihr tieferer Gehalt in der Praxis nachweisen lies.
Hier die lebenstaugliche Formel der speziellen Relativitätstheorie, dort das Luftschloss der alten Tacoma-Narrows-Brücke – in den Köpfen derer, die unter der intellektuellen Glaskugel sitzend die jeweils zugrungeliegenden Theorien entwickelten, waren es immer stimmige Gebilde, Gedankenpaläste des menschlichen Genius. Wen störte es da schon, dass die Realität chaotische Einflüsse bereithält, die jeden Gedanken mit einem leichten Hauch ins Nichts blasen können.
Auch der Glaube ist so ein Haus. Immanent ist er fein ziseliert und konstruiert. Das System ist intern stimmig. Solange man die Textbausteine des Katechismus unter der Glasglocke einer weltentrückten Spiritualität lässt, ist alles gut. Hier weht ein guter Geist. Wer hier zu Hause ist, dem ist das Himmelreich gewiss. Ein solches Haus des Glaubens ist eine feste Burg – aber oft genug eben auch ein Luftschloss, wenn es sich den Bedingungen der Wirklichkeit von Welt und Leben stellen muss. Die spirituellen Weltfluchten sind da ebenso nur ein Begleitsymptom, wie der Wunsch, die Wirklichkeit den eigenen Vorgaben anzupassen. Es ist oft so, als wolle der Architekt dem Wind eine Obergrenze verpassen, damit sein hübsches Bauwerk keinen Schaden nehmen möge.
Es besteht kein Zweifel, dass das alte Haus, das voll Glorie weit über alle Land schaute, nur noch als Bruchsteinvorrat taugt. Vor allem die Pastoraltheologie versucht zu retten, was zu retten ist. Eine Theorie folgt der nächsten. Man huldigte Lebens- und Sozialraumanalysen, wobei meist undefiniert blieb, was man sich genau darunter vorstellte. Sinus-Milieu-Studien – jene Werkzeuge, die die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zur Verfügung stellt, um über die ästhetische Optimierung von Marketing merkantile Umsatzsteigerungen zu initiieren – wurden auch im kirchlichen Bereich angefertigt, als wenn es darum ginge, die frohe Botschaft zu verkaufen. Niemand fragte seinerzeit danach, ob es nicht sinnvoller wäre, die Verkünderinnen und Verkünder anzuhalten, mit offenen Augen in die Häuser und Wohnungen der Menschen zu gehen, zu sehen, zu riechen und zu hören, wie sie wohnen. Dazu braucht man keine Sinus-Milieu-Kartoffelgrafiken. Dazu braucht man eigentlich nur Begegnung. Eine Studie aber kann man gut unter der Glasglocke betrachten, in bunte und trotzdem langweilige PowerPoint-Präsentationen packen, in sich immer weiter spezialisieren und in für kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wichtige Details nach Möbelhaus- und Fastfood-Präferenzen aufspalten und so eine allgemeine Beschäftigung mit der schönen Theorie evozieren, die keine Zeit mehr für praktische Umsetzungen lässt. Niemand hat hier auch nur je eine Strategie zur Umsetzung entwickelt, geschweige denn überhaupt umgesetzt.
Das neueste Schlagwort, das angesichts der ohnmächtigen Wahrnehmung des ekklesialen Relevanzverlustes die Sitzungen, Debatten und Leitbilddiskussionen durchwuchert, ist die „Charismenorientierung“. Das ist ein schönes Wort, hat es doch eine biblische Grundlage. Paulus selbst entwickelt doch diese wunderbare Theorie vom Leib Christi im 12. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Und er selbst leitet es doch ein mit der Erinnerung an die verschiedenen Charismata, die der Heilige Geist in der Gemeinde jedem einzelnen gibt:
Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott: Er bewirkt alles in allen. (1 Korinther 12,4-6)
Wenig später differenziert er die Gnadengaben, auf die es ihm ankommt:
Dem einen wird vom Geist die Gabe geschenkt, Weisheit mitzuteilen, dem andern durch den gleichen Geist die Gabe, Erkenntnis zu vermitteln, dem dritten im gleichen Geist Glaubenskraft, einem andern – immer in dem einen Geist – die Gabe, Krankheiten zu heilen, einem andern Wunderkräfte, einem andern prophetisches Reden, einem andern die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden, wieder einem andern verschiedene Arten von Zungenrede, einem andern schließlich die Gabe, sie zu deuten. Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will. (1 Korinther 12,8-11)
Allein hier wird schon deutlich, dass Paulus nicht jede Fähigkeit und Begabung, nicht jedes Hobby als Charisma anerkennt. Vielmehr benennt er ein entscheidendes Kriterium:
Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. (1 Korinther 12,7)
Ein Charisma erweist sich zuerst als Offenbarung des Geistes. Gerade hierauf zielen ja auch die von Paulus aufgezählten Charismen ab: Mitteilung von Weisheit, Vermittlung von Erkenntnis, Glaubenskraft, Heilungsfähigkeiten, Prophetische Rede, Urteilsfähigkeit, Zungenrede. Letzterer steht er wiederum sehr skeptisch gegenüber, wie seine kritischen Ausführungen in 1 Korinther 14,1-25 erkennen lassen. Er kommt dort zu dem Fazit:
Wenn also die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden und es kommen Unkundige oder Ungläubige hinzu, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt! Wenn aber alle prophetisch reden und ein Ungläubiger oder Unkundiger kommt herein, dann wird ihm von allen ins Gewissen geredet und er fühlt sich von allen ins Verhör genommen; was in seinem Herzen verborgen ist, wird aufgedeckt. Und so wird er sich niederwerfen, Gott anbeten und ausrufen: Wahrhaftig, Gott ist bei euch! (1 Korinther 12,23-25)
Der entscheidende Faktor ist die Frage nach dem Nutzen – das deutete er schon in 1 Korinther 12,7 an: Als Gnadengabe erweist sich, was den anderen nützt. Der Nutzen aber besteht in der Verkündigung nach außen, denn es geht darum die Noch-nicht-Glaubenden und Unkundigen zu erreichen.
Paulus kennt deshalb eine Wertigkeit der Charismen. Als oberstes Charisma steht bei ihm die Prophetie. Die Prophetie ist eine Sache der Vernunft, denn der Prophet sagt nicht nur schöne Worte frommer Theorie. Der Prophet spricht in die Welt und zu der Welt. Der Prophet vermittelt das Wort Gottes mit weltlicher Sprache in die Welt hinein. Dazu muss der Prophet verstehen, weil er selbst Verstehen herstellen will. Ein Prophet muss von der Welt verstanden werden, sonst ist er kein Prophet.
Wie sehr sich die gegenwärtige Diskussion um die Charismenorientierung als pastoraltheoretisches Luftschloss erweist, wird an der Zielrichtung deutlich, auf die sich die Überlegungen beziehen. Pastoraltheologie wird fast ausschließlich als Gemeindetheologie verstanden. Immer geht es um die Gründung oder Wiederbelebung von Gemeinden. Dabei ist Gemeinde aber gar nicht das Ziel kirchlichen Handelns, wie es die Bibel beschreibt. Die κοινωνία (gesprochen: koinonía), die communio – also die Gemeinschaft ist nicht Ziel, sondern bestenfalls Mittel zum Zweck der Verkündigung. Der Leib Christi hat ein Ziel, das mithilfe der unterschiedlichen Charismen verfolgt wird – die Verkündigung, auf, dass die Menschen zur Anbetung Gottes gelangen und ausrufen:
Wahrhaftig, Gott ist bei euch! (1 Korinther 14,25)
Deshalb darf der Leib Christi nicht nur mit sich selbst beschäftigt sein, sondern muss auch nach Weiterentwicklung streben:
Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm. So hat Gott in der Kirche die einen als Apostel eingesetzt, die andern als Propheten, die dritten als Lehrer; ferner verlieh er die Kraft, Wunder zu tun, sodann die Gaben, Krankheiten zu heilen, zu helfen, zu leiten, endlich die verschiedenen Arten von Zungenrede. Sind etwa alle Apostel, alle Propheten, alle Lehrer? Haben alle die Kraft, Wunder zu tun? Besitzen alle die Gabe, Krankheiten zu heilen? Reden alle in Zungen? Können alle solches Reden auslegen? Strebt aber nach den höheren Gnadengaben! (1 Korinther 12,27-31a)
Das übersehen alle pastoraltheoretischen Erörterungen einer charismenorientierten Pastoral meist: Es geht um Verkündigung nach außen – nicht um Gemeindeaufbau; es geht nicht um status quo, sondern um Entwicklung des einzelnen; es geht nicht um Begabungen, sondern um Brauchbarkeit für den Verkündigungsauftrag in Wort und Tat; es geht nicht Selbstzweck, sondern um nutzen; Gemeinde ist nicht das Ziel, sondern bestenfalls eine Methode, ein Weg der Verkündigung. Gemeinde nutzt in diesem paulinischen Charismenmodell überhaupt nur, wenn sie der Verkündigung nach außen dient. Das Ziel ist immer, die Gegenwart Gottes in der Welt bekannt zu machen. Deshalb sollen die Glaubenden nach den höheren Gnadengaben – insbesondere also vor allem der Prophetie – streben. Das Ziel wäre erreicht, wenn die Unkundigen erkennen:
Wahrhaftig, Gott ist bei euch! (1 Korinther 14,25)
Das Ziel ist also das Leben, Verkündigung in der Welt, an die Menschen in den Tempeln, Kirchen, Kaffeehäuser, Vorgärten, Straßen und Plätzen der Stadt, so wie Paulus selbst es immer wieder in den Synagogen getan hat (vgl. etwa Apostelgeschichte 19,8-10), aber auch auf dem Areopag in Athen, jenem Platz, an dem man über Gott und die Welt disputierte (vgl. hierzu Apostelgeschichte 17,16-34). Dieser Auftrag ist allen Getauften und Gefirmten durch Taufe und Firmung erteilt. Es braucht niemanden mehr, den sie fragen bräuchten oder der die Kompetenz hätte, sie zu beauftragen. Sie sind schon beauftragt!
Genau so ist die christliche Botschaft von der Auferstehung des Gekreuzigten in die Welt gelangt: Durch Verkündigung zu allen an allen Orten mit allen Mitteln – in Wort und Tat. Die erste Lesung vom zweiten Sonntag der Osterzeit im Lesejahr C erzählt davon:
Durch die Hände der Apostel geschahen viele Zeichen und Wunder im Volk. Alle kamen einmütig in der Halle Salomos zusammen. (Apostelgeschichte 5,12)
Die Halle Salomos ist ein bemerkenswerter Ort. So heißt es im Johannesevangelium:
Um diese zeit fand in Jerusalem das Tempelweihfest statt. Es war Winter, und Jesus ging im Tempel in der Halle Salomos auf und ab. Da umringen ihn die Juden und fragen ihn: Wie lange noch willst du uns hinhalten? Wenn du der Messias bist, sag es uns offen! Jesu antwortet ihnen: Ich habe es euch gesagt, aber ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich im Namen meines Vaters vollbringe, legen Zeugnis für mich ab. Ihr aber glaubt nicht, weil ich nicht zu meinen Schafen gehört. (Johannes 10,22-26)
Die Halle Salomos war ein Säulengang, an der Ostseite des Tempels – ein Ort der Disputation, ähnlich der athenischen Agora. Er war auch Nichtjuden zugänglich. Der norwegische Theologe Jostein Ådna schreibt hierzu:
„[D]er königlichen Säulenhalle fiel in ihrer Eigenschaft als Basilika dabei die besondere Rolle des Marktplatzes zu.“ (J. Ådna, Jerusalemer Tempel und Tempelmarkt im 1. Jahrhundert n. Chr. (ADPV 25), Wiesbaden 1999, S. 145)
Die Apostel suchten also – wie Jesus selbst – einen Ort auf, der die Möglichkeit für eine offensive Verkündigung bot. In der lukanischen Rückschau der Apostelgeschichte wird betont, dass sie dort einmütig verkündete. Sie hatten ein gemeinsames Ziel. Ihre Methode war vor allem die Tat, denn durch ihre Hände geschahen Zeichen und Wunder.
Die Gemeinde versagt bei diesem Auftrag, denn Lukas fügt hinzu:
Von den Übrigen wagte niemand, sich ihnen anzuschließen; aber das Volk schätzte sie hoch. (Apostelgeschichte 5,13)
„Die Übrigen“ (griechisch: οἱ λοιποί, gesprochen: hoi loipoí) werden im Text der Lesung nicht näher identifiziert. Der Kontext aber macht deutlich, dass es sich um die Gemeinde handelt, die sich um den Kreis der zwölf Apostel in Jerusalem herum nach dem Pfingstereignis (vgl. Apostelgeschichte 2,41-47) gebildet hatte. Die Gemeinde wird im unmittelbaren Vorvers direkt erwähnt. Dort wird ihre Reaktion auf den Tod Hananias und Saphiras geschildert, die sich nicht an die urgemeindliche Gütergemeinschaft gehalten hatten:
Da kam große Furcht über die ganze Gemeinde und über alle, die davon hörten. (Apostelgeschichte 5,11)
Von der Urgemeinde übten also nur die Apostel die Tätigkeit der Verkündigung in Wort und Tat aus. Der Rest der Gemeinde traute sich schlicht und ergreifend nicht. Nicht, dass sie nicht gedurft hätten; sie hatten einfach Angst und keine Traute. Das Versagen der Gemeinde angesichts des Verkündigungsauftrages reicht also in die apostolische Zeit zurück – zumindest, wenn man der lukanischen Rückschau vertraut, die das Zusammenleben der Gemeinde in Apostelgeschichte 2,45-47 noch in den schildernsten Farben gemalt hatte und betonte:
Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. (Apostelgeschichte 2,46)
Die gemeindliche Euphorie des Anfangs scheint also rasch erlahmt zu sein.
Das scheint aber dem Erfolg der Verkündigung der Apostel keinen Abbruch getan zu haben, wie die erste Lesung vom zweiten Sonntag der Osterzeit im Lesejahr C überliefert:
Immer mehr wurden im Glauben zum Herrn geführt, Scharen von Männern und Frauen. Selbst die Kranken trug man auf die Straßen hinaus und legte sie auf Betten und Bahren, damit, wenn Petrus vorüberkam, wenigstens sein Schatten auf einen von ihnen fiel. Auch aus den Nachbarstädten Jerusalems strömten die Leute zusammen und brachten Kranke und von unreinen Geistern Geplagte mit. Und alle wurden geheilt. (Apostelgeschichte 5,14-16)
Die gemeindetheoretischen Ideale des Lukas aus Apostelgeschichte 2,42-46 haben den Praxistext schon in frühester Zeit nicht bestanden. Selbst die Jerusalemer Gemeinde war in sich keine Methode der Verkündigung. Es brauchte einzelne tatkräftige Verkünder, die vom Idealismus des eigenen Erlebens getrieben authentisch Zeugnis für die frohe Botschaft des vom Kreuzestod Auferstandenen ablegen konnten. Die Apostel waren die Propheten ihrer Zeit, die den Kontakt zur Welt suchten an Orten, wo eben die Vertreterinnen und Vertreter dieser Welt zusammenkamen.
Das Gegenüber von der Einmütigkeit der Apostel und der Verzagtheit der jungen Restgemeinde macht deutlich, dass es hier nicht um eine exklusive Auszeichnung des sogenannten „Amtes“ geht. Diese Exklusivität gab es im frühen Christentum so nicht, wie das Leib-Christi-Modell des Paulus zeigt. Das Gegenüber geht auch viel weniger auf die Personen an sich, sondern um die Handlungen. Der griechische Text stellt das διὰ δὲ τῶν χειρῶν (gesprochen dià dè tôn cheirôn), also das „aber durch die Hände“ betont voran. Das kleine „aber“ (δέ/dé) hebt das noch besonders hervor: Es geht um die Tat an sich. Die Verkünder von damals waren eben keine Theoretiker, sondern Praktiker. Es ging nicht um die Gemeinde an sich, sondern um die Verkündigung der Botschaft. Sie machen ernst mit dem Auftrag Jesu vom Beginn der Apostelgeschichte:
Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. (Apostelgeschichte 1,8)
Ob Jesus überhaupt Gemeinde gewollt hat, kann nicht wirklich gesagt werden. Zeugen aber hat er in jedem Fall gewollt. Der Auftrag der Zeugen ist die Verkündigung seiner Botschaft in Wort und Tat bis an die Grenzen der Erde.
Die Zeugen Jesu dürfen daher nicht lange in Gedankenpalästen verweilen; sie müssen vielmehr gut zu Fuß sein, ein beredtes Mundwerk und tatkräftige Hände haben. Die Gemeinden sind da eher Orte der diskursiven Vergewisserung und Erörterung, um Antworten auf die Fragen der Welt zu finden. Es sind Raststationen, um sich für den nächsten Aufbruch zuzurüsten, – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Statt Gründerbüros, wie sie jetzt in manchen Bistümern eingerichtet werden, und Ecclesiopreneurships bräuchte es Prophetenschulen, in denen Verkünderinnen und Verkünder theologisch und rhetorisch für die Auseinandersetzungen in der Welt zugerüstet werden. Die Kirche ist kein Startup – schon lange nicht mehr. Die Kirche hat eine alte Botschaft, die über 2.000 Jahre immer wieder neu verkündet wurde. Heute scheinen ihr nur die Zeugen fehlen, die es wagen, mit Wort und Tat unter die Menschen zu gehen, anstatt sich in schönen pastoraltheoretischen Überlegungen zu ergehen, die vom conjunctivus irrealis infiziert den Praxistest nicht bestehen werden. Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrigbleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag. Die Wahrheit ist kein Luftschloss. Die Wahrheit ist auf dem Platz.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Es ist ja im Grunde noch viel besser, sind es, wenn man die Apg mal etwas kritischer liest, gar nicht die Apostel, die den Erfolg der Verkündigung ausmachen, auch wenn Lukas das gerne hätte, es sind die 7 Diakone, die den Laden ans Laufen bringen. Kein Wunder das Stephanus dann auch gleich wie sein Herr zum Tode verurteilt wird. Diese hellenistischen Jungs zeigen den Aposteln, wie Verkündigung geht. Raus in die Welt und raus mit der „Wahrheit“ 🙂
Das ist sehr gut beobachtet. Gerade wenn man bedenkt, dass die sogenannten sieben Diakone historisch gesehen in den Kreis derer gehören, die für die so genannte Heidenmission verantwortlich waren. Die Kirche besteht heute ja eigentlich nur noch aus Heidenchristen. Sie geht also im wesentlichen auf das Wirken dieses Siebenerkreisesreises zurück. Deren Wirken war also ohne Zweifel erfolgreicher als das der zwölf Apostel, wenn man es rein von den Konsequenzen her betrachtet.
[…] Die Halle Salomos war ein Bereich im Tempelbezirk, in dem überhaupt lebendig gestritten wurde (siehe hierzu auch das Wort zur Woche “Gedankenpaläste”). Vergleichbar der Athener Agora war es der Ort, wo sich Meinungen bildeten, leidenschaftliche […]