Dies Domini – 24. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Wer sich empört, hört meist nicht mehr zu. Die Gegenwart liefert genug Belege, dass es sich bei dieser These um mehr als um einen Erfahrungswert handelt. Den Kopf hochrot, der Kragen geschwollen, die Adern voller Adrenalin – da verkrampft das Trommelfell nur allzu schnell bei all dem Geschnatter und Getuschel das die vorgehaltenen Hände überwindet und zum Grundrauschen wird, dass jede Differenzierung in feine Töne als Zumutung erscheinen lässt. Die Emotion verdrängt dann nicht nur die Pflicht zur Information; sie stilisiert sich selbst als eigentliche Information. Die eingebildete Phantasie wird zur Ikone verklärt – und es gibt immer genügend Menschen, die sie verehren, weil endlich jemand ihre Neurosen ernst und dafür bare Münze nimmt. Die Unheilspropheten aller Zeiten sind Meister in der Schaffung solcher Wirklichkeiten, in denen selbst das Surreale und Irreale zu wirken beginnt und Gestalt annimmt. Die Angst alleine wird dann beschworen. Die Empörung regt sich, ohne das eine echte Alternative benannt wird. Selbst im Bereich derer, die sich auf vermeintlich christlich-sozialem Boden wähnen, ist das Gift blanker Empörung wirksam. Der böse Wolf ist und bleibt ein Phantom, das gerade diejenigen beißt, die fest an ihn glauben.
Sich zu empören, verhindert das hören – dieser Gegensatz steht auch am Beginn des Evangeliums vom 24. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C. Hören und Empören erscheinen auch dort als diametral entgegengesetzte Handlungen, die nicht nur einander auszuschließen scheinen; sie sind auch mit bestimmten Personengruppen verbunden. Auf der einen Seite stehen die Zöllner und Sünder, die extra zu Jesus kommen, um ihn zu hören; auf der anderen Seite die Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich gerade darüber empören:
Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen. (Lukas 15,2)
An diesem Setting scheint sich über Jahrhunderte hinweg nichts geändert zu haben. Die Arrivierten – oder zumindest diejenigen, die sich dafür halten – empören sich darüber, dass den Randständigen Aufmerksamkeit zuteil wird. Wem die Welt offen steht, bestimmen die Arrivierte immerhin noch selbst. Wo käme man da hin, wenn jeder auf die Welt auf die Idee käme, die offene Tür auch zu nutzen. Die Weltoffenheit der Empörten ist offenkundig eine Einbahnstraße, ein Boulevard der Adeligen, die die Welt als Museum nimmt, durch das man in verzückter Empörung über das ganze Elend schlendert ohne den Elenden Gehör zu schenken.
Aber die Elenden kommen, um zu hören. Sie kommen zu dem, der sich aufgemacht hat, um die Verhältnisse zu ändern, der eine neue Perspektiver eröffnet, der Dinge sagt, die nicht bloß ein Geschmäckle haben:
Das Salz ist etwas Gutes. Wenn aber das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man ihm die Würze wiedergeben? Es taugt weder für den Acker noch für den Misthaufen, man wirft es weg. Wer Ohren hat zum Hören, der höre! (Lukas 14,34f)
Und die Zöllner und Sünder haben offenkundig Ohren, um diese Botschaft zu hören. Das Urteil der Selbstgerechten über sie ist längst gefallen. Die, die Ansehen zu haben scheinen, geben sich doch nicht mit ihnen ab. Die Selbstgefälligen stehen schließlich über Ding und Mensch, ja gar über dem Gesetz.
Wie aber reagiert man auf die Empörung der um ihren Bestand Besorgten? Wer bisher im Argument eine Lüge angesichts der Bedrohung durch Phantasmen sah, wird sich wohl kaum vom Verstand überzeugen lassen. Wer die Emotion zur Information zurechtbog, ist längst gegen Fakten immun. Das Beispiel Jesu selbst lehrt, dass die einzig mögliche Reaktion gelassener Humor ist.
Gelassener Humor aus dem Mund des Heilands? Ist das nicht ein wenig unspirituell? Steht überhaupt irgendwo, dass er mal gelacht hat?
Gerade das dürft ja die Schriftgelehrten und Pharisäer so aufgebracht haben. Da ist einer, der Israel zur Umkehr aufruft, der das Volk vor ihrer eigenen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit warnt (vgl. Lukas 12,1-3) und sie sogar mit Wehereden überzieht (vgl. Lukas 11,37-54) und der doch in aller Öffentlichkeit seine besondere Gottnähe äußert:
In dieser Stunde [nach der Rückkehr der 72 Jünger, die er ausgesandt hatte] rief Jesus, vom Heiligen Geist erfüllt, voll Freude aus: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand weiß, wer der Sohn ist, nur der Vater, und niemand weiß, wer der Vater ist, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will. (Lukas 11,21f)
Und ausgerechnet er gibt sich jetzt mit denen ab, die nicht der Weisung Gottes folgen und deshalb Sünder sind. Ja er isst sogar mit ihnen. Und Lukas formuliert hier sogar vorsichtig. Im Matthäusevangelium klingt das Verdikt der Vornehmen sogar noch drastischer:
Dieser Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder. (Matthäus 11,19)
Jesus selbst gibt im Matthäusevangelium das Urteil seiner Gegner über ihn selbst wieder – und er bestätigt, dass er isst und trinkt. Die Gegenüberstellung zur Askese Johannes’ des Täufers (vgl. Matthäus 11,18) lässt sein Handeln umso deutlicher hervortreten: Jesus war offenkundig nicht nur kein Asket; er hat das Leben genossen. Kaum vorstellbar, dass so einer bei Zusammenkünften mit Zöllner und Sündern griesgrämig am Tisch gelegen hat. Jemand, über den man abfällig als Fresser und Säufer urteilt, dürfte einen eher anderen Eindruck hinterlassen haben: Überschäumende Lebensfreude, die sich in lautem Lachen mitteilt und nur wenig zurückhaltend ist. Nein, es ist völlig unvorstellbar, dass dieser Jesus keinen Humor hatte. Im Gegenteil: Sein Humor wird – und das zeigen die schon erwähnten Wehereden gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten – burschikos und trocken, vielleicht sogar schwarz gewesen sein, mit jenem Hang zum sarkastischen Spott, der jenen zueigen ist, die eine Mission haben und für die Humor kein bloßer Spaß, sondern eben vor allem eine rhetorische Waffe ist. Mit diesem gelassen-sarkastischem Humor kommt man denen bei, die sich in die Enge autosuggestiver Ängste verloren haben.
Als Reaktion auf die empörten Anwürfe erzählt Jesus ein Gleichnis (vgl. Lukas 15,4-6). Und dieses Gleichnis ist ein Witz. Es erzählt kurz und bündig von einem Hirten, der seinen Job schlecht macht. Von hundert Schafen geht eines verloren. Welche Panik muss den Hirten ob seines Versagens befallen haben, als er das Fehlen des einen Schafes bemerkt. Er lässt die 99 anderen Schafe unbewacht zurück, um das eine zu suchen. Welch ein Risiko! Geht so ein guter Hirte vor.
Tatsächlich erwähnt der Text an keiner Stelle, dass Jesus von einem guten Hirten spricht. Das Adjektiv „gut“ wird von den frommen Hörerinnen und Lesern des 24. Sonntages im Jahreskreis des Lesejahres C aber wohl wie von selbst ergänzt werden. Sie kennen das Gleichnis ja schon. Und sie wissen längst, dass das Schaf Schuld ist, dass der arme Hirte jetzt so viel Arbeit hat. Das Schaf ist der Sünder und der gute Hirte rettet es. Alleine: Davon ist im Text gar nicht die Rede. Jesus sagt:
Wenn einer von euch hundert Schafe hat. (Lukas 15,4)
Er spricht damit die Pharisäer und Schriftgelehrten an. Sie gleichen einem Hirten, der sein erstes Versagen (den Verlust des Schafes) durch ein hochriskantes zweites Versagen (das Alleinlassen der 99 anderen unbewacht und unbeschützt in der Steppe) mit viel Glück wettmacht. Der Hirte, von dem er erzählt, erscheint auf den ersten Blick als Versager, der einfach nur grenzenloses Glück hat.
Mit der Pointe am Ende des Gleichnisses kommt aber die große Wende. Plötzlich sind nicht mehr die Pharisäer und Schriftgelehrten die Hirten. Die Geschichte wird von der Erde in den Himmel erhoben. So wie der versagende Hirte sein Glück kaum fassend seine Freude in die Welt hinausposaunen muss, so
wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren. (Lukas 15,7)
Gott wird nicht genannt – aber insinuiert. Jesus ist ein meisterhafter Erzähler. Er erzählt nur das Nötigste. Die Leserinnen und Hörer müssen mitarbeiten. Man muss eben gut hinhören, um den Sinn der Gleichnisse, ihre innere Vielschichtigkeit und Tiefe zu erfassen. Wer sich nur empört, aber eben nicht hört, wird sich nur selbst entblößen.
Der abrupte Wechsel der Bezugsebenen in Lukas 15,7 stellt aber nicht nur das vergebliche Bemühen der Pharisäer und Schriftgelehrten als Hirten und Hüter des Gesetzes dar. Genau darin haben sie schlicht versagt. Sie verlieren nicht nur das eine Schaf, sondern gefährden auch das Wohlergehen aller anderen. Ein Hirte, der so vorgehen würde, hätte seine Herde längst an die bösen Wölfe verloren – wenn, ja wenn nicht himmlische Mächte im Spiel wären. Das ist die Tiefenschicht des Textes: Ohne den göttlichen Hirten wären die menschlichen Hirten längst verloren.
Aber auch die Relecture des Gleichnisses von der Pointe her scheint das Verhalten des Hirten nicht besser zu machen. Es scheint doch ein riskantes Spiel hart an der Grenze des Versagens zu sein, dass dieser Hirte da spielt. Ist Gott also ein Versager?
Damit wäre das Gleichnis doch sehr eindimensional gelesen. Gerade in dieser scheinlogischen Schlussfolgerung liegt ja der sarkastische Humor der Erzählweise Jesu. Gott ist Gott! Er kann nicht versagen. Folglich also müssen die Hörerinnen und Leser eine völlig andere Schlussfolgerung ziehen, sofern sie dem Gleichnis überhaupt noch zuhören und nicht von vorneherein schon zu wissen glauben, was nun kommt.
Der Hirte mutet seinen Schafen offenkundig eine grundlegende Selbstständigkeit zu, wie sie tatsächlichen Schafen eher nicht zukommt. Er lässt ihnen Raum und Freiheit. Die Schafe können brav zusammenstehen, aber auch ihrer Wege gehen. Und doch bleibt er Hirte. Es ist seine Aufgabe, die Abweichler wieder in die sichere Obhut zu holen. In seiner Herde gibt es viele brave Schafe. Er weiß um deren Unselbstständigkeit. Er kennt sie gut. Er weiß, dass sie von ihrer Freiheit nie Gebrauch machen würden. Sie rühren sich halt nicht vom Fleck, denn sie hören überall die Wölfe heulen. Aber das eine Schaf bricht aus, es lernt das Leben kennen – und sicher auch seine Gefahren. Der Hirte wusste das. Aber einmal, dieses eine Mal hat er nicht aufgepasst. Und das Schaf hat seine Chance genutzt. Es hat das Leben kennengelernt. Und da, wo es war, waren keine Wölfe. Das Schaf war frei. Es hat von der Freiheit Gebrauch gemacht, die ihm der Hirte – absichtlich oder aus Unachtsamkeit – gelassen hat.
Der Hirte weiß, dass das Leben da draußen gefährlich sein kann. Aber er hat es zugelassen. Und doch ist es seine Aufgabe, auch das eine Schaf zu beschützen. Er kann die anderen alleine lassen, weil sie sich sowieso noch nie vom Fleck gerührt haben. Das eine Schaf aber findet er. Er muss es finden. Es ist ihm anvertraut. Und er liebt es besonderes. Denn dieses eine Schaf ist nicht so wie die anderen, so ängstlich. Es ist ein besonderes Schaf, auf das er da sein Augenmerk gerichtet hat.
Gott liebt das Leben. Und er liebt die Lebendigen. Gott ist mit den Menschen längst ein Risiko eingegangen. Freiheit ist riskant. Der Mensch kann davon Gebrauch machen und Gott den Rücken kehren. Gott sei Dank ist Gott so frei und kann dem Menschen nachgehen. Gott hat seine Freude an denen, die das Leben porentief ergründen wollen. Es ist empörend: Aber Gott ist im Leben. Die Langeweiler stehen einfach so da in der Steppe und warten. Für sie ändert sich einfach nichts. Könnten Sie sich doch wenigstens über die freuen, die Gott zu ihnen bringt. Es steht zu fürchten, dass ihnen das Lachen Gottes Angst macht und sie der großen Einladung nicht folgen:
Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein. Aber jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern; denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden. (Lukas 15,31f)
Wird er die Einladung hören und feiern oder empört verloren gehen? Oder steht er immer noch in der Steppe herum und hört Wölfe heulen, von denen der Hirte weiß, dass es sie dort nicht gibt. Hätte er sie sonst alleine gelassen?
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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