Dies Domini – Dritter Adventssonntag, Lesejahr A
Gerüchte haben Konjunktur. Sie wurden in diesen Tagen gar geadelt. Das Wesen des Gerüchtes ist auf den Begriff gekommen: „postfaktisch“ ist von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gekürt worden. Eine noble Auszeichnung für ein Adjektiv, ein Beiwort, das das „Wie“ eines Bezugsbegriffes beschreibt. Ohne diesen Bezug hängt das Wort genauso in der Luft wie diejenigen, die den Verlockungen des Postfaktischen anheimgefallen sind.
Das Wort hat eine kurze, aber steile Karriere hinter sich. Felix Stephan stellt in der „Zeit“ fest:
„Im März dieses Jahres hat die Harvard-Historikerin Jill Lepore erstmals darüber nachgedacht, wie es kommt, dass bei der Kandidatenkür der republikanischen Partei in den USA die Wahrheit offenbar keine Rolle spielt. Während der Fernsehdebatten diskutierten verschiedene Kandidaten nicht etwa darüber, mit welchen politischen Strategien man den Problemen des Landes am besten begegnen sollte. Sie stritten darüber, wer überhaupt die Wahrheit sagte. Weil es keine Instanz gab, die von allen Beteiligten anerkannt wurde, war es ihnen unmöglich, eine gemeinsame Basis zu finden, auf der sie diskutieren konnten. So blieb ihnen nur, sich gegenseitig zu diskreditieren.“ (Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2016-12/postfaktisch-wort-des-jahres-post-truth-demokratie-jill-lepore [Stand: 10. Dezember 2016])
Das Postfaktische basiert also auf einem Konsensmangel, der sich nicht mehr der alten Pilatusfrage:
Was ist Wahrheit? (Johannes 18,38)
stellt. Die Frage des römischen Statthalters wird durch die Antwort Jesu im Verhör hervorgerufen, der auf die Frage, ob er doch ein König sei, antwortet:
Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. (Johannes 18,37)
Jesus spricht hier bestimmt von „der“ Wahrheit (ἡ ἀλήθεια – gesprochen: he alétheia). Er legt nicht für irgendeine oder seine persönliche Wahrheit Zeugnis ab, sondern für „die“ Wahrheit. Aber selbst dieser absolute Anspruch muss den Widerspruch dulden. Die Selbstkritik Jesu, dass jeder, der aus „der“ Wahrheit ist, auf seine Stimme hört, impliziert ja geradezu, dass es ein Nichterkennen der Wahrheit gibt. Die Frage des Pilatus, was denn Wahrheit sei, ist also nicht nur folgerichtig; aus menschlicher Perspektive bleibt die Frage nach der letzten, absoluten, unumstößlichen Wahrheit sogar unbeantwortbar. Dem Menschen fehlt aufgrund seiner geschöpflichen Beschränkungen, die sich aus dem Sein in Raum und Zeit ergeben, die Fähigkeit der Erkenntnis der letzten, absoluten Wahrheit. Er mag sich ihr asymptotisch annähern, muss dabei aber immer Rechenschaft über das ablegen, was er unter Wahrheit versteht. Für christgläubige Menschen liegt diese letzte Wahrheit ohne Zweifel in Jesus Christus selbst begründet. Aber selbst über die Frage, wie die in Jesus Christus begründete Wahrheit denn aufzufassen sei, besteht schon keine Einigkeit mehr. Für Menschen hingegen, die nicht an Jesus als den Christus zu glauben vermögen, ist die Frage einer in ihm begründeten Wahrheit ohnehin obsolet. Der nahezu lapidar klingende Satz aus dem Evangelium vom dritten Adventssonntag im Lesejahr A birgt also tatsächlich eine große Brisanz:
Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. (Matthäus 11,6)
Der Satz schließt einen Passus ab, der mit der Frage des im Gefängnis sitzenden Johannes, des Täufers beginnt:
Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten? (Matthäus 11,3)
Es ist eine merkwürdige Frage. Sollte Johannes, der Jesus doch im Jordan getauft hat, nicht wissen, um wen es sich bei Jesus handelt. Hat er nicht selbst auf ihn und seine Größe hingewiesen, als er sagte:
Ich taufe euch nur mit Wasser (zum Zeichen) der Umkehr. Der aber, der nach mir kommt, ist stärker als ich und ich bin es nicht wert, ihm die Schuhe auszuziehen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand; er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen. (Matthäus 3,11f)
Die christliche Interpretationsgeschichte zieht hier voreilig den Schluss, dass Johannes der Täufer bereits am Jordan in Jesus den Messias erkennt. Der Hinweis in Matthäus 3,11f ist freilich nicht unmittelbar auf Jesus hin gesprochen, sondern auf einen, der noch nicht bekannt ist. Die Christenheit erkennt hier aus der nachösterlichen Perspektive, die im Licht der Auferstehung selbst den Kreuzestod als Wohltat erscheinen lässt, einen Hinweis auf Jesus von Nazareth. Zu Lebzeiten Jesu war diese Frage hingegen völlig offen. Die Frage Johannes’ des Täufers ist also gerad ein seiner prekären und aussichtslosen Lage im Gefängnis des Herodes Antipas nur allzu verständlich. Im Angesicht des möglichen Todes, der ihn ja bald ereilen wird, drängt sich die Frage auf, ob alles Tun und Reden sinnlos war. Sein Schicksal wird erträglicher werden, wenn er weiß, dass er keinem Irrtum zum Opfer fiele.
Johannes der Täufer scheint Jesus nur vom Hörensagen zu kennen (vgl. Matthäus 11,2). Gerüchte mögen viele über diesen Zimmermannssohn aus Nazareth in Umlauf gewesen sein, der mit seinen Gefährten durch das Land zog und den Städten lehrte und predigte. Gerüchte aber sind die Feinde der Wahrheit. Geredet und gesagt wird viel und das Gehörte verwandelt das Gesagte noch einmal. Das Hörensagen ist als Basis für das Wahrhaftige wenig tauglich. Johannes der Täufer aber braucht in seiner Situation Gewissheit. Panik und Verzweiflung lassen sich nicht mit Gerüchten zähmen. Gelassenheit braucht einen sicheren Boden. Deshalb schickt er seine Jünger zu ihm, um sich Gewissheit zu verschaffen.
Jesus antwortet nicht einfach. Er sagt nicht einfach: Richtig oder Falsch – oder: Ich bin es, der kommen soll. Er weiß, dass auch das nur eine Wahrheit ohne festen Grund wäre, eine Behauptung, nicht mehr und nicht weniger. Wahrheit aber gedeiht nicht auf dem Boden von Gerüchten und Behauptungen; Wahrheit schafft Fakten, beruht auf Fakten, ergibt sich aus Fakten. Fakten aber sind das, was man mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören kann. Nicht das Hörensagen und der alleinige Augenschein genügen, sondern das eigene Hören und Sehen. Es ist die Kongruenz verschiedener, sich komplementär ergänzender Eindrücke, die sich in Probe und Gegenprobe bestätigen. Deshalb antwortet Jesus den Johannesjüngern:
Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht. (Matthäus 11,4)
Als Boten repräsentieren sie den, der sie entsendet. Ihre Augen und Ohren sind seine Augen und Ohren. Das aber, was sie sehen und hören, sind Fakten des Lebens Jesu:
Blinde sehen wieder und Lahme gehen; Aussätzige werden rein und Taube hören; Tote stehen auf und den Armen wird das Evangelium verkündet. (Matthäus 11,5)
An dieser Stelle mag der sich selbst als aufgeklärt definierende Zeitgenosse intervenieren und auf einen allzu billigen Wunderglauben herabschauend erklären, dass das alles doch bloß Behauptung sei.
In der Tat ist mit fast 2000 Jahren Abstand eine eigene Überprüfung durch Hören und Sehen kaum mehr möglich. Wer also nur dem vertraut, was er selbst hört und sieht, wird hier passen müssen. Gleichwohl gibt es Indizien, die darauf hindeuten, dass man den Berichten der Evangelien doch mit einem grundsätzlichen Vertrauen begegnen darf. Da ist zuerst die Feststellung:
Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. (Matthäus 11,6)
Das griechische Wort für „Anstoß nehmen“ lautet: σκανδαλίζειν (gesprochen: skandalízein). Jesus selbst stellt also fest, dass eine Behauptung, Blinde würden sehen, Lahme gehen, Aussätzige rein und Taube hören, an sich skandalös ist. Sie sind im wahrsten Sinn des Wortes unglaublich. Man muss Verständnis für diejenigen haben, die das Unglaubliche dieser Behauptung feststellen. Ohne die Möglichkeit eigener Anschauung und Anhörung muss es geradezu unvernünftig erscheinen, auf der Basis bloßer Behauptungen Wahrheiten zu erfolgern.
Genau hier ist der Ansatzpunkt, mit dem Verschwörungstheoretiker aller Zeiten arbeiten. Weil sie das scheinbar Unmögliche in Ermangelung eigenen Sehens und Hörens nicht zu glauben vermögen, ersinnen sie kreativ andere Erklärungsmöglichkeiten. Gerüchte und Hörensagen tun dann ihr Übriges. Die Mondlandung aus dem Jahr 1969 ist hierfür ein beredtes Beispiel. Nur zwei Männer waren auf dem Mond; nur zwei haben ihn betreten, gesehen und gehört. Alle anderen müssen auf ihr Zeugnis vertrauen oder eben Verschwörungstheorien entwickeln. Das Perfide an Verschwörungstheorien aber ist, dass sie die Lüge zum System erheben. Weil sich der Verschwörungstheoretiker auf die Lüge des Behaupteten beruft, wird alles, was als Faktum für den Beweis der Wahrheit angeboten wird, in sich wieder zu einem Erweis verkehrt, dass die Intelligenz derer, die die als Lüge diffamierten Fakten aufbieten, so groß ist, dass die Lüge wie ein wahres Faktum erscheinen mag. Nur der Verschwörungstheoretiker ist freilich in der Lage, die Lüge als Lüge zu entlarven, auch wenn er dafür als Beweis nur die Behauptung anbieten kann, die Verschwörer seien halt besonders schlau.
Die Verschwörungstheorie ist in sich immer konsistent. Sie kann es sein, weil sie das Faktum an sich ablehnt. Die Verschwörungstheorie liebt das Gerücht und hasst das Faktum. Das Verschaffen eigener Gewissheiten durch selbstständiges Hören und Sehen sind in der Regel nicht mehr möglich. Sämtliche Zeugen werden für befangen erklärt. Das System der Verschwörungstheorie ist unangreifbar, ein unterkomplexes Gefängnis im Orbit außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses über wahrhaftige Kommunikation, dessen Mauern der Verschwörungstheoretiker freilich zu den hohen Zinnen einer sicheren Burg verklärt. Wo der Wahnsinn zur Methode wird, mag auch der karge Kerker kleiner Existenz zum prunkenden Palast verklärt werden, zu dem nur die Elite des eigenen Ich Zugang hat. Einem solchen Menschen fällt es nicht im Traum ein, auf die Wahrheit zu warten, er weiß ja, dass sie mit ihm gekommen ist. Ein solcher Mensch wird die Frage:
Bist du der, der kommen soll, oder müssen wir auf einen andern warten? (Matthäus 11,3)
nicht mit dem Verweis auf das eigene Sehen und Hören antworten. Auch „wahr“ und „falsch“ sind keine Kategorien mehr. Es genügt der lautstark vorgetragene Vorwurf, der andere lüge. Kein Beweis ist mehr notwendig, kein faktenbasiertes Argument, allein ein perpetuierend vorgetragenes „Wrong“, wie es Donald Trump in ersten TV-Duell mit der Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zelebriert hat. Das ist schon nicht mehr postfaktisch, sondern präter-, wenn nicht sogar kontrafaktisch.
Wahrheit aber kann nur auf Fakten wachsen. Jesus fordert die Jünger des Johannes auf, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Sie sehen und hören. Und allzu offenkundig scheint die Behauptung Jesu, dass Blinde sehen und Lahme gehen, mit den Fakten übereinzustimmen. Die Lüge wäre nur zu schnell aufgeflogen, die Feinde Jesus hätten faktenbasiert triumphiert. Aber das Triumphgeheul bleibt aus. Im Gegenteil: Jesus mahnt die Menschen, ihre eigenen Befindlichkeiten und Erwartungen nicht mit Fakten zu verwechseln, als er zu ihnen über Johannes den Täufer spricht:
Was habt ihr denn sehen wollen, als ihr in die Wüste hinausgegangen seid? Ein Schilfrohr, das im Wind schwankt? Oder was habt ihr sehen wollen, als ihr hinausgegangen seid? Einen Mann in feiner Kleidung? Leute, die fein gekleidet sind, findet man in den Palästen der Könige. Oder wozu seid ihr hinausgegangen? Um einen Propheten zu sehen? (Matthäus 11,7-9a)
Erwartungen und Befindlichkeiten können nicht nur trügerisch sein. Sie trüben auch die Wahrnehmung für das Eigentliche. Was erwarten die Menschen denn zu allen Zeiten? Eine Sensation? Oder ein Spektakel? Etwas, das ihren Erwartungen widerspricht? Erwarten die Menschen wirklich eine Wahrheit, von der sie sich unter Umständen konfrontieren lassen?
Die Wahrheit ist anstrengend. Die Lüge hingegen macht das Leben leicht. In einer Zeit, in der die Lust am Gerücht wieder Konjunktur hat, brauchen die, die für die Wahrheit einstehen, wohl wieder einmal viel Geduld. Die Mahnung des Jesaja aus der ersten Lesung vom dritten Advent im Lesejahr A kommt da zur rechten Zeit:
Macht die erschlafften Hände wieder stark und die wankenden Knie wieder fest! Sagt den Verzagten: Habt Mut, fürchtet euch nicht! Seht, hier ist euer Gott! Die Rache Gottes wird kommen und seine Vergeltung; er selbst wird kommen und euch erretten. (Jesaja 35,3f)
In Zeiten wie diesen brauchen die Freunde der Wahrheit Standfestigkeit und Tatkraft. Die Wahrheit hat es verdient, dass man standhaft und tatkräftig für sei eintritt. Lügen hatten immer schon zu kurze Beine. Die Wahrheit wird sich durchsetzen. Die normative Kraft des Faktischen ist mächtig, braucht aber bisweilen Geduld, wie es in der zweiten Lesung heißt:
Auch der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde, er wartet geduldig, bis im Herbst und im Frühjahr der Regen fällt. Ebenso geduldig sollt auch ihr sein. Macht euer Herz stark, denn die Ankunft des Herrn steht nahe bevor. (Jakobus 5,7f)
Sind das aber nicht bloß Durchhalteparolen? Wohl kaum! Auch wenn sich die Erde um die Sonne dreht und nicht, wie allzu lang behauptet wurde, umgekehrt: die Sonne wird morgens wieder aufgehen!
Gott sei Dank ist die Wahrheit dem Zugriff der Menschen entzogen. Die Wahrheit bleibt wahr, auch wenn es die Postfaktanten anders sehen. Und die Wahrheit wird sich durchsetzen. Das mag und das wird möglicherweise Opfer kosten wie Johannes den Täufer. Die Wahrheit aber geschieht, wird geschehen und ist geschehen – veritas fit, fiet, factum est!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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