Dies Domini – 4. Sonntag der Osterzeit, Lesejahr A
Nicht jede scheinbar in Stein gemeißelte Weisheit wahrt bei näherem Hinsehen die ihr zugesprochene Wahrheit. Die Worte schmeicheln dem Ohr und umgarnen die Seele, die sich so nur allzu schnell fesseln und binden lässt, wie weiland die Liliputaner dem Gulliver seine Freiheit nahmen. Das, was eben noch der Stein der Weisen zu sein schien, entpuppt sich dann schneller als rundgeschliffenes Kieselsteinchen ohne Ecken und Kanten, die – wenn es darauf ankommt – keinen wirklichen Halt zu geben vermögen.
Zu jener Art kieselner Weisheiten gehört auch das Wort, der Weg sei das Ziel. Das klingt wunderbar prozessorientiert; freilich wird nur allzu schnell übersehen, dass der, der im Weg selbst schon das Ziel erblickt, im Kreis läuft – ohne Ausweg, ohne Ergebnis, verdammt, immer weiter zu laufen. Das mag oberflächlich von der Last faktischer Entscheidung und Verantwortung befreien; allerdings degeneriert ein solcher Mensch sich selbst zum dauerlaufenden Hamster. Es ist schon bemerkenswert, dass nicht selten diejenigen, die fordern, man müsse endlich aus dem Hamsterrad des Alltags aussteigen, oft auch den Weg als Ziel beschwören. So aber kommt man von der Traufe in den Regen.
Angesichts der Ausweglosigkeit des sich selbst Ziel seienden Weges verwundert es nicht, dass die Lehre des Konfuzius (551-479 v. Chr.), dem diese Sentenz zugeschrieben wird, auch keinen eigentlichen Fortschritt vorsieht, sondern die Wiederherstellung einer Urordnung, die in der Einhaltung alter, unverrück- und unveränderbarer Riten ebenso ihren Ausdruck findet wie in den fünf Elementarbeziehungen der Über- und Unterordnung:
„Der Untertan ordnet sich dem Herrscher unter, der Sohn dem Vater, der jüngere dem älteren Bruder, die Frau dem Mann und der Freund dem Freund. Der Verehrung der Alten misst er ebenfalls hohen Wert bei.“ (Quelle: http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/ethik-und-philosophie/konfuzius-chinesische-philosophie-thema100.html [Stand: 6. Mai 2017]).
Wo der Weg sich selbst zum Ziel wird, gibt es nicht nur keinen Ausweg aus dem ewigen Kreis. Es gib auch keinen wirklichen Fortschritt, keine Veränderung. Nichts wird anders, nichts bleibt anders. Wer auch immer den Weg selbst zum Ziel macht, scheut die Veränderung. Die Worte mögen dem Ohr und der Seele schmeicheln; sie sind aber nicht mehr als ein sedatives Placebo, ein ästhetisch verbrämtes Anästhetikum, das jedem wahren Aufbruch schon vor dem ersten Schritt die Energie zu echtem Fortschritt raubt und doch vorgibt, man würde doch laufen.
Wer hingegen wirklich fortschreiten will, muss aus diesem Kreislauf selbstsuggestiver Betriebsamkeit ausbrechen. Es braucht eine Tür aus dem sich selbst als Ziel genügenden Weg um in die Freiheit des wahren Lebens zu gelangen. Von einer solchen Tür erzählt das Evangelium vom 4. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr A. Dort spricht Jesus:
Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. (Johannes 10,1-4)
Die Perikope befindet sich in der inneren Dramaturgie des Johannesevangeliums an einer ebenso bemerkenswerten wie zentralen Stelle. Unmittelbar vorher überliefert der Evangelist die Heilung eines Blindgeborenen am Sabbat (vgl. Johannes 9,1-41). Er nimmt damit Bezug auf eine Tradition, die allein in den drei synoptischen Evangelien viermal überliefert wird. Bei Johannes aber wird das Zeichen der Blindenheilung selbst zu einem Lehrstück über das Erkennen der Wahrheit:
Jesus sprach: Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden. (Johannes 9,39)
Es verwundert nicht, dass diese Rede Widerspruch erregt:
Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? (Johannes 9,40)
Die Antwort Jesus freilich ist entlarvend:
Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde. (Johannes 9,41)
Unmittelbar an diese Aussage schließt das Evangelium vom 4. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr A an. Es ist die direkte Fortsetzung des Disputs. Es geht also weiterhin um die Erkenntnis der Wahrheit. Bemerkenswert ist der Bildwechsel. Jesus spricht nun von einem Schafstall und einer Schafherde. Und er spricht vom eigentlichen Hirten aber auch von Dieben und Räubern. Das Merkmal, was den Hirten von Dieben und Räubern unterscheidet, ist der Gebrauch der Tür. Der Hirte geht durch die Tür in den Schafstall, während die Diebe und Räuber anderswo einsteigen. Diebe und Räuber lassen die Tür verschlossen, um die Schafe an einer möglichen Flucht zu hindern. Aus der Bildwelt und dem textlichen Zusammenhang heraus spricht Jesus mit dem Gleichnis die Wege der Wahrheitsfindung an. Wahrheit kann nur finden, wer bereit ist, die ausgetretenen Kreispfade, auf denen sich die eingepferchten Tiere etwas Bewegung verschaffen, zu verlassen und durch die Tür ins Leben zu gehen.
Genau das suchen aber die Diebe und Räuber zu verhindern, denen es nicht um das Wohl der Schafe, sondern nur um den eigenen Vorteil geht. Sie belassen die Schafe letztlich in einem Zustand, der jenem Gefangener gleicht, die zur festgesetzten Stunde auf dem Gefängnishof im Kreis laufen dürfen – ein Weg, der weder Ausweg noch Ziel kennt.
Anders dagegen der Hirte. Er benutzt die Tür, um in den Stall zu gelangen. Er tut das Offensichtliche, das vor Augen Liegende mit einem echten Ziel: Er führt die Schafe durch die Tür hinaus. Mehr noch: Indem er sie einzeln bei Namen ruft, gibt er dem kreislaufenden Herdentier eine individuelle Würde.
So führt er die Schafe aus dem Stallkreis hinaus ins Weite. Mehr noch: Er treibt sie hinaus. Das hier in Johannes 10,4 im griechischen Urtext zu findende Wort ἐκβάλλειν (gesprochen: ekbállein) intendiert dabei ein mehr oder weniger gewaltsames Hinaustreiben. Der Hirte lässt den Schafen keine Wahl: Sie sollen den schützenden Stallkreis verlassen und ins Weite gehen.
Dieser Vorgang erinnert an die vermeintliche Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies, wie sie in der großartigen Erzählung vom Mündigwerden des Menschen in Genesis 2,25-3,24 erzählt wird. Mit der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, sind die ersten Menschen auch zu mündigen Erwachsenen herangereift. Nicht ohne Grund heißt es ja im Schreiben an die Hebräer:
Jeder, der noch mit Milch genährt wird, ist unfähig, richtiges Reden zu verstehen; er ist ja ein unmündiges Kind; feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinne durch Gewöhnung geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden. (Hebräer 5,13f)
So erwachsen geworden, können Adam und Eva nun ins Leben gehen. Mehr noch: Sie müssen ins Leben gehen. Gott drängt sie aus dem paradiesischen Sitzkreis ins Leben und verhindert eine Rückkehr in die Unmündigkeit derer, deren Existenz in Stuhlkreisen ihren didaktischen Ausdruck findet, indem er die Tür zurück in den Paradiesesstall mit Kerubim und Flammenschwert bewehrt.
Die Intention ist hier wie dort dieselbe: Der Mensch soll nicht im Kreis laufen, sondern den Weg ins Leben gehen. Nicht ohne Grund endet das Evangelium vom 4. Sonntag der Osterzeit im Lesejahr A mit einer großen Verheißung, wenn Jesus spricht:
Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. (Johannes 10,10b)
Diese Fülle des Lebens ist das eigentliche Ziel, nicht der Weg an sich. Der Weg führt zu diesem Ziel. Deshalb spricht Jesus:
Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (Johanne 10,9)
Wer eingeht, muss auch wieder ausgehen. Genau in diesem Sinn ist das später im Johannesevangelium zu findende Wort Jesu zu verstehen:
Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Johannes 14,6)
Die Nachfolge auf dem Weg Jesu ist also auch hier kein Zweck in sich. Sie hat ein Ziel: Den Vater, von dem her allein es Leben in Fülle gibt. Jesus ist der Türöffner. Wer die Wahrheit finden will, muss sich auf den Weg machen. Der Weg aber hat ein Ziel. Wer den Weg hingegen selbst zum Ziel erklärt, wird nur verirrt im Kreis laufen. Es gibt daraus nur einen Ausweg: Das Leben und seine Herausforderungen selbst. Wer die Wahrheit finden will, muss sich diesen Herausforderungen stellen. Er darf sich nicht einschließen oder auf Wege und Aufbrüche hoffen, die man in Stuhlkreisen sitzende beschwört. Wenn Jesus wirklich Weg, Wahrheit und Leben ist, dann hat dieser Weg ein klares Ziel: ein Leben in Fülle im Angesicht Gottes. Das ist das Ziel, dem die Jünger Jesu zustreben!
In der Stagnation und Mutlosigkeit aller Zeiten, die auch die bisweilen in der Gegenwart befällt, die Jesus nachzufolgen suchen, ist es notwendig, sich immer wieder auf ihn als Türöffner zu besinnen. Er treibt uns hinaus ins Leben – wenn es sein muss, mit mehr oder wenig sanfter Gewalt. Gerade die, die sich in seiner Nachfolge selbst als Hirten wähnen, sollten das als Vorbild nehmen. Hirten, das sind Türöffner. Nur Diebe und Räuber halten die Türen geschlossen, um sich der Schafe zum eigenen Zwecke zu bemächtigen. Auf ihr Schafe, lauft! Folgt dem wahren Türöffner und hört seine Stimme.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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