Der Anschlag auf die Synagoge und die Morde von Halle bestürzen mich nicht nur, sie machen mich zornig. Unverständlich ist mir, wie manche Politiker die Tat als „Alarmzeichen“ interpretieren. Morde und Anschläge sind keine Alarmzeichen mehr. Sie sind der Ernstfall. Die Alarmzeichen hingegen waren in den letzten Jahren längst vernehmbar – auch bei uns in Wuppertal. Ob es die in den letzten Jahren immer wieder stattfindenden Nazi-Aufmärsche in Elberfeld, Barmen oder Oberbarmen waren – der Hass, der sich dort immer wieder auch in unverhohlenem Antisemitismus äußerte und äußert, war und ist unübersehbar. Wieviele „Alarmzeichen“ braucht es noch nach den Morden der NSU, der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und jetzt den Taten von Halle? Sind das alles nicht längst schon Ernstfälle eines rechten Terrors? Was glauben Sie denn?
Jede rechtsterroristische Tat löst einen natürlichen Reflex der Betroffenheit aus. Lichterketten, Schweigemärsche und Solidaritätsbekundungen vor, an und um Synagogen sind wichtig und richtig. Sie sind allerdings nicht alltäglich. Der Alltag aber ist der Ort, an dem sich jede Solidarität bewähren muss. In der ARD-Sendung „Hart aber fair“ vom 14. Oktober 2019 wurde die Reaktion einer Zuschauerin präsentiert, die zeigt, wie der alltägliche Antisemitismus auch nach Halle aussieht. Die Äußerung, man solle das „Judenthema“ endlich zurücknehmen, man wisse ja um die eigene Vergangenheit, die den Kindern in der Schule „eingetrichtert“ würde, wurde einfach so stehen gelassen. Das ist nicht nur eine unglaubliche Verharmlosung der Shoah als „Judenthema“; die Widerspruchslosigkeit der Moderatoren offenbart auch eine Sorglosigkeit, die an desinteressierte Unbeteiligtheit grenzt. Solange es aber notwendig ist, dass auch nur eine Synagoge in Deutschland von der Polizei bewacht werden muss, solange Juden, die die Kippa tragen, fürchten müssen, angegriffen zu werden, und solange auch nur ein koscheres Restaurant mit Hassparolen oder Hakenkreuzen beschmiert wird, ist nichts gut in diesem Land.
Nur allzu oft haben selbst die, die dem Juden Jesus nachzufolgen vorgeben, in den letzten 2.000 Jahren vergessen, dass nicht sie die Wurzel tragen, sondern die Wurzel sie trägt. Sie haben zu vielen Pogromen geschwiegen. Auch die Shoah hat bei viel zu wenigen Widerspruch ausgelöst. Dabei mahnt bereits Paulus im Brief an die Römer, dass die Christgläubigen nie vergessen dürfen, das sie auf jüdischem Wurzelgrund stehen: „Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden, du aber als Zweig vom wilden Ölbaum mitten unter ihnen eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der kraftvollen Wurzel des edlen Ölbaums, so rühme dich nicht gegen die anderen Zweige! Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ (Römer 11,17f)
Wer durch die Schüsse von Halle bloß aufgeschreckt wurde, hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Der rechte Ungeist und Terror greift unsere Wurzeln an – in jeder Hinsicht! Das immer wieder beschworene „Nie wieder!“ und „Wehret den Anfängen!“ entpuppt sich als Placebo, mit dem man das „Immer noch!“ eines Antisemitismus überdecken möchte, der offenkundig auch im Alltag nie überwunden wurde. Christen und Juden mögen eher Stiefgeschwister, denn Geschwister sein – vor Gott sind sie doch Kinder des einen Vaters. Wo nur einem Kind Gottes das Existenzrecht abgesprochen wird, darf Schweigen vor allem für Christen keine Option sein – auch und gerade nicht im Alltag.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der WZ Wuppertal vom 18. Oktober 2019
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.