Dies Domini – 22. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Den lieben Gott gibt es nicht. Er wird zwar allenthalben verkündet. Vor allem Kindern gegenüber redet man oft und gerne auf diese Weise vom Höchsten, der höchstens harmlos ist. Ja, sogar in Predigten wird Erwachsenen, deren Sinne doch durch Gebrauch geübt sein sollten, Gut und Böse zu unterscheiden, und die deshalb der Zeit nach selbst schon Lehrerinnen und Lehrer sein müssten (vgl. Hebräer 5,12-14), die Banalität der Rede vom „lieben Gott“ zugemutet – eine Rede, die früher oder später in Aporien führt, wird doch die klassische Frage, warum Gott Leid zulässt, durch die Rede von einem „lieben Gott“ nicht nur leichter; sie führt die Rede vom „lieben Gott“ sogar ad absurdum. So kann es nicht wundern, dass eine solche Rede, die bei Kindern noch gut gemeint ist, schon dann nicht mehr verfängt, wenn die Kinder etwas älter sind und spätestens im Jugendalter vollends dekonstruiert wird. Tritt dann an diese Stelle keine reflektierte Weiterentwicklung der Gottesansprache, werden Gebet und „lieber Gott“ ebenso entsorgt wie der Weihnachtsmann, das Christkind und der Osterhase – alles Helden einer frühen Kindheit, über die schon der Jugendliche nur noch müde lächeln kann. Was kann man von einem solchen höchst Harmlosen schon erwarten, der einfach nur lieb ist. Helfen konnte der „liebe Gott“ offenkundig schon nicht, als der Hamster das Zeitliche segnete, das Kaninchen starb oder das Lieblingsstofftier nach intensivem Gebrauch sein Innerstes offenbarte und deutlich machte, dass vieles im Leben nicht nur vergänglich ist, sondern sich auch Stoff und Schaum offenbart.
Denen jedenfalls – seien sie noch Kind, jugendlich oder erwachsen – noch an den bloß „lieben Gott“ glauben, dürfte bei den ersten Worten der ersten Lesung vom 22. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A ein gehöriger Schreck in die Glieder fahren, wenn der Prophet Jeremia verstört von der Betörung Gottes, die ihn ergriffen hat, spricht:
Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. Jeremia 20,7a
Nun ist Betörung an sich natürlich in sich erst einmal nichts Schreckliches. Der Duft einer Rose kann betören, der Blick eines geliebten Menschen auch. Wer betört wird und sich betören lässt, ist den niederen Sphären irdischer Wirklichkeit wenigstens vorübergehend entrückt. Manch eine und mancher einer wähnt sich in voller Betörung gar im siebten Himmel. Betörung ist immer auch verführerisch – und genau hier liegt ihr subtiles Potential. Selbst wenn man sich, wie der Prophet Jeremia, betören lässt und so scheinbar in die Betörung einwilligt, bleibt sie manipulativ. Im Rückblick scheint das dem Jeremia zu Bewusstsein zu kommen, wenn er davon redet, dass Gott ihn „gepackt und überwältigt“ hat. Redet man so von einer liebenden Begegnung auf Augenhöhe? Eher erinnert die Wortwahl an einen gewalttätigen Akt, der sich unter dem Einfluss der Betörung ereignet. Im Nachhinein erscheint der Rosenduft fast bitter, denn die Konsequenzen der Überwältigung sind zumindest in der irdischen Wirklichkeit fatal:
Zum Gespött bin ich geworden den ganzen Tag, ein jeder verhöhnt mich. Ja, sooft ich rede, muss ich schreien, „Gewalt und Unterdrückung“ muss ich rufen. Denn das Wort des Herrn bringt mir den ganzen Tag nur Hohn und Spott. Jeremia 20,7b-8
Ist das ein „lieber Gott“, der Menschen in solche Situationen bringt? Ist der Gottesgebärerin Maria nicht Ähnliches widerfahren, als der Engel ihr die Geburt eines Sohnes verheißt? Als sie zweifelnd und wenig überzeugt zurückfragt, wie das denn geschehen solle, wo sie doch keinen Mann erkenne, antwortet ihr der Engel ebenso lakonisch wie unverblümt:
Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Lukas 1,35
Was sich in der deutschen Übersetzung als „über dich kommen“ so harmlos liest und anhört, wird im griechischen Urtext mit dem Verb ἐπέρχεσθαι (gesprochen: epérchesthai) wiedergegeben, das nach Auskunft des Wörterbuches zum Neuen Testament von Bauer/Aland – einem Standardwerk für die neutestamentliche Exegese – insbesondere zur Beschreibung des Eintreffens „von widerwärtigen Ereignissen“ (Sp. 577) verwendet wird. Nicht, dass hier damit gesagt werden soll, dass die Verkündigung und Empfängnis Jesu an bzw. durch Maria widerwärtig wäre. Für Christinnen und Christen ist es der Beginn des göttlichen Erlösungshandelns in Jesus Christus! Aber die Verwendung eben dieses Verbes im Griechischen zeigt doch an, dass Maria hier gepackt und überwältig wird. Der „liebe Gott“ nimmt sich, was ihm gehört. Er packt und überwältigt. Die Wortwahl ist näher an Gewalt als an Liebe …
Genau das ruft der Prophet dann auch aus, wenn er „Gewalt und Unterdrückung“ schreit. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass das die Anklage sei, die er im Auftrag Gottes ausrufen würde. Bei genauem Hinsehen aber wird deutlich, dass vorher davon die Rede ist, dass er selbst zum Gespött wurde, andauern und dem Hohn von jedermann preisgegeben. Es ist das Wort des Herrn selbst, das ihn in diese Situation bringt. „Gewalt und Unterdrückung“ sind offenkundig das, was ihm von Gott widerfährt. Hat Gott ihn also betört und verführt? Ist Gott ein Trickser?
In der Tat: Der „liebe Gott“ wäre ein Trickser. Er würde sich mit der verführerischen Maske klebriger Lieblichkeit tarnen; hinter der Täuschung aber würde sein wahres Gesicht warten. Wenn er sein Opfer gefangen hätte, ließe er die Falle zuschnappen …
Kann Gott so sein? Man muss dem Propheten zu Ende zuhören!
Sagte ich aber: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen!, so brannte in meinem Herzen ein Feuer, eingeschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es auszuhalten, vermochte es aber nicht. Jeremia 20,9
Die Rede Jeremias erinnert an eine wunderbare Passage aus dem Hohelied:
Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt! Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen. Mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn. Hoheslied 8,6f
Der Prophet ist von der Liebe Gottes ergriffen. Es ist die Liebe Gottes, die er erkannt und die ihn überwältigt hat. Er ist dieser Liebe verfallen und hat sich ihr ergeben. Oder, um es mit Udo Lindenberg zu sagen:
„Doch jetzt knallst du in mein Leben
Und ich kann mich nur ergeben
Du kommst wie ’n Überfallkommando, und ich geh‘ K.O
Und das Eis beginnt zu tauen
Und es ist zu spät abzuhauen
Und ich merk‘, ich lieb‘ dich so
Egal, ich geh‘ jetzt voll auf Risiko.“ (Udo Lindenberg, Du knallst in mein Leben, 1983)
Wer die Phase überschwänglichen Verliebtseins überstanden hat und wer zu lieben gelernt hat, weiß, wovon Udo Lindenberg, das Hohelied und Jeremia reden. Er weiß, was der Gottesgebärerin Maria widerfahren sein muss. Sie alle wurde von der Liebe gefangen genommen. Sie alle haben sich darin selbst verloren. Wenn aber schon die Liebe zwischen Menschen wie Feuersgluten und stärker als mächtige Wasser ist, ja wenn schon die Liebe zwischen Geschöpfen den Tod überdauern kann, um wieviel mehr Kraft, Energie und Lebensgewalt muss in der Liebe Gottes sein. Wer sich von ihr betören lässt, wird seine Reputation auf das Spiel setzen und Hohn und Spott in Kauf nehmen; welche Lächerlichkeiten wurden nicht schon um der liebe willen in Kauf genommen? Liebende gehen eben voll auf Risiko. Widerstand ist zwecklos. Den „lieben Gott“ gibt es nicht, den liebenden Gott schon! Wer je geliebt hat, der und die weiß, wie herausfordernd, schlafraubend, brennend und verzehrend Liebe ist! Liebe ist gewaltig! Gott sei Dank!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.