Dies Domini – 26. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Viel ist in diesen Tagen von Umkehr die Rede – und das nicht nur, weil die Kleruskongregation des Vatikan am 20. Juli 2020 die Instruktion „Die pastorale Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst an der missionarischen Sendung der Kirche“ veröffentlicht hat. Zur Umkehr wird auch gerne aufgerufen, wenn die Diskussionen in der Kirche zu Stellungskämpfen geronnen sind, die keinen schöpferischen Fortschritt mehr erhoffen lassen. Gefangen in den je eigenen Schützengräben werden zwar immer schwerere Geschütze aufgefahren, die die Gegenseite zur Kapitulation zwingen sollen; in der Kirchensprache wird dann auch gerne die Forderung zur Umkehr ausgesprochen, die selbstverständlich immer der Gegenseite gilt. Die anderen sollen umkehren und gefälligst ihre Positionen räumen, die wahlweise als antiquiert, verstaubt, nicht mehr katholisch oder modernistisch bezeichnet werden. Wie in Stellungskämpfen übrig, wird es so freilich keine Sieger, dafür viele Verlierer geben, Verwundete und Verletzte auf allen Seiten. Eine verheerende Verwüstung ist das, was übrig bleibt. Das Leben flieht solchen Situationen, in denen immer nur die anderen umkehren sollen. Man selbst möchte schließlich bleiben, wie man ist. Fatalerweise wähnen sich alle auf allen Seiten im Besitz einer Wahrheit, die sich aus dem Schlachtfeld ohrenbetäubender Argumente längst ins Niemandsland zurückgezogen hat. Die Wahrheit ist halt ein verschwebender Hauch. Wer sie zu besitzen glaubt, hat sie wohl schon längst verloren. Wahrheit kann man nicht haben, nur hören, ahnen, sich ihr nähern. Die Gerechten wussten das zu allen Zeiten, verloren sie ihre Unschuld doch immer dann, wenn sie der Wahrheit Recht verschaffen wollten und ihre Autorität in dem Moment zur Gewalt wurde, wo sie die Größe der Wahrheit auf das Format zu kleiner Herzen schrumpften. Das ist wohl der Moment, in dem Gott, der Herr, in der ersten Lesung vom 26. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A durch seinen Propheten Ezechiel gegen sein eigenes Volk aufbegehrt:
Ihr sagt: Der Weg des Herrn ist nicht richtig. Hört doch, ihr vom Haus Israel: Mein Weg soll nicht richtig sein? Sind es nicht eure Wege, die nicht richtig sind? Wenn ein Gerechter sich abkehrt von seiner Gerechtigkeit und Unrecht tut, muss er dafür sterben. Wegen des Unrechts, das er getan hat, wird er sterben. Ezechiel 18,25f
Das Wähnen des Besitzes der Wahrheit wird also offenkundig schnell zum Wahn – vor allem dann, wenn man den Höchsten und Ewigen zähmen und dem eigenen Denken gefügig machen will. Wie oft hört man auch heute noch in Verlautbarungen und Predigten, was Gott vermeintlich so alles will – als hätten die Prediger – und in diesem Fall sind es in der römisch-katholischen Tradition dann tatsächlich nur Männer – morgens zum Frühstück noch persönlich mit dem Schöpfer einen Plausch gehalten. Dabei liegt auf dem Frühstückstisch die alles entscheidende Frage in der Regel offen vor Augen: Was war früher? Das Ei oder das Huhn? – Und daraus folgend: Ist die innere Stimme der eigene Vogel oder tatsächlich geistreiche Inspiration. Die Situation bleibt eben ambivalent, denn so wendig die Wahrheit als Ganzes sich dem menschlichen Besitzstreben verweigert, so macht sich auch der Schöpfer seinem Geschöpf nicht gefügt … selbst wenn heilig gesprochene Priester, wie der Pfarrer von Ars, glauben, Gott würde auf ihres Wortes Geheiß die Substanz des Brotes in den eucharistischen Leib Christi verwandeln. Auch da sind Ursache und Wirkung in eine so mächtige Verwechslung geraten, so dass man schon fragen muss, ob einer, der solches denkt, nicht manches durcheinander bringt. Der Durcheinanderbringer aber wird auf griechisch als rechter διάβολος (gesprochen: diábolos) bezeichnet – eben ein Durcheinanderwerfer.
Sich gerecht zu wähnen ist also zuerst einmal immer ein Ausweis von Selbstgerechtigkeit. Ob man in dieser Selbstgerechtigkeit tatsächlich gerecht ist, steht auf einem anderen Blatt Papier. Kritisch wird es dann, wenn die Wege Gottes so offensichtlich in eine andere Richtung weisen, als man selbst zu gehen gewillt ist; wenn man denn überhaupt gehen und nicht bloß den eigenen Standpunkt verteidigen möchte. Dabei sollte man freilich nie vergessen, dass ein Standpunkt sich per Definition als äußerst beschränkt erweist. Standpunkte haben, wie alle Punkte, ja keine Ausdehnung. Ihr Aktionsradius tendiert gegen Null. Liegt hier der Grund, dass die kirchlichen Stellungskriege nunmehr seit Jahrzehnten keinerlei Fortschritt erkennen lassen? Auch in den Kirchen des Westens gibt es nichts Neues.
Die Frage des Höchsten aus des Propheten Mund sollte deshalb zu denken geben:
Sind es nicht eure Wege, die nicht richtig sind? Ezechiel 18,25d
Es ist bemerkenswert, dass hier keine einzelnen Adressaten im Blick sind. Das ganze Volk Israel wird so angesprochen. Man sollte sich also davor hüten, die göttliche Frage vorschnell einzelnen Protagonisten vor die Füße zu werfen. Ganz im Gegenteil: Der Fortgang der Gottesrede im Mund des Propheten weist den Ausweg aus der verfahrenen Situation:
Wenn ein Schuldiger von dem Unrecht umkehrt, das er begangen hat, und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, wird er sein Leben bewahren. Wenn er alle seine Vergehen, die er verübt hat, einsieht und umkehrt,
wird er bestimmt am Leben bleiben. Er wird nicht sterben. Ezechiel 18,27f
Grabenkämpfe und Stellungsschlachten sind tödlich. Es gibt keine Sieger, nur Verwundete auf allen Seiten. Umkehr ist tatsächlich vonnöten. Der wahre Gerechte fordert die Umkehr aber nicht vom anderen. Er beginnt bei sich selbst. Die Umkehr beginnt mit der um Selbsterkenntnis bemühten Frage, was an der eigenen Sicht auf die Wahrheit wohl falsch sein könnte. Sie beginnt damit, sich dem Segen des Zweifels über den eigenen Standpunkt zu ergeben. Es ist jene Gnade der Falsifikation, von der lange vor Karl Popper bereits 1868 August Weismann sagt, dass
„sich eine wissenschaftliche Hypothese zwar niemals erweisen [lässt], wohl aber, wenn sie falsch ist, widerlegen, und es fragt sich deshalb, ob nicht Tatsachen beigebracht werden können, welche mit einer der beiden Hypothesen in unauflöslichem Widerspruch stehen und somit dieselbe zu Fall bringen.“ (August Weismann Über die Berechtigung der Darwin’schen Theorie. Leipzig 1868, S. 14f)
Der alleinige Verweis darauf, etwas sei geschrieben – und sei es im kanonischen Recht, dem Katechismus oder einer vatikanischen Instruktion – reicht alleine eben nicht, wenn das so Behauptete sich der Möglichkeit der Falsifizierung entzieht. Selbst der Hinweis darauf, dieser oder jener Papst habe etwas mit hoher Lehrautorität gesagt, sagt zuerst immer nur, dass dieser oder jener Papst etwas gesagt hat. Bei aller Autorität, die päpstlichen Äußerungen selbstredend zukommen, müssen aber auch sich der Möglichkeit der Falsifizierung unterziehen, wenn sie nicht in den Verdacht geraten wollen, sich selbst über die Wege Gottes zu stellen. Wenn dem so wäre, so mahnt der Prophet, wäre das eben eine Abkehr von der Gerechtigkeit und würde Unrecht wirken. Da sei Gott vor!
Die Suche nach der Wahrheit ist eben nie Sache einzelner. Auch besitzen lässt sich die Wahrheit nie von einzelnen. Besser ist es, sich der Frage nach dem eigenen Irrtum auszusetzen und – wenn man zur Erkenntnis des eigenen Irrtums gelangt – umzukehren und den eigenen Standpunkt zu räumen …
Wie schön wäre es, wenn aus solcher Umkehr aller ein neuer Weg entstehen würde, keine Fluchtbewegung, sondern ein gemeinsamer Weg, ein echter σύνοδος (gesprochen: synodos), ein Miteinandergehen, das entstehen kann, wenn alle ihre Standpunkte verlassen würden – und sei es, um nur einmal auszuprobieren, wie Kirche und Welt so vom Standpunkt des oder der anderen aussehen. Wer weiß: Vielleicht würde man die eigenen blinden Flecken und gedanklichen Degenerationen erkennen, die den Blick auf die Wahrheit eintrüben. Also:
Schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Warum wollt ihr denn sterben, ihr vom Haus Israel? 32 Ich habe doch kein Gefallen am Tod dessen, der sterben muss – Spruch GOTTES, des Herrn. Kehrt um, damit ihr am Leben bleibt! Ezechiel 18,31b.32
So spricht Gott, der Herr, durch seinen Propheten. Es war noch nie einfach, ein wahrer Prophet zu sein. Kann man seine Worte heute noch hören und danach handeln? Gott ist doch ein Gott des Lebens. Er lässt sich nicht mit schwarzen Strichen auf weißem Grund zähmen. Er ist groß! Versucht doch wenigstens nach einem Zipfel seines Gewandes zu jagen. Aber dafür müsstet ihr euren Standpunkt verlassen – wo auch immer der ist …
Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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