Dies domini – 2. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Das Land hat schon bessere Zeiten gesehen, die Kirche auch. Hier wie dort ist deutlich eine Wendezeit erkennbar, die zur Zeitenwende werden wird. Im Land wütet das Corona-Virus, dessen die Menschen nach Wochen im Lockdown müde zu werden drohen. Müdigkeit führt zu mangelnder Wachsamkeit, mangelnde Wachsamkeit aber zu Nachlässigkeit. Die schwer Erkrankten röcheln auf den Intensivstationen des Landes nach Luft. Man sieht sie in der Regel nicht. Aus den Augen, aus dem Sinn – die virale Gefahr ist nicht sichtbar. So wägt man sich in einer scheinbaren Sicherheit, wähnt sich möglicherweise sogar als unangreifbar. Die Sicherheit ist trügerisch. Die trotz Lockdowns weiterhin hohen Infektionszahlen zeigen, dass die Gefahr noch lange nicht gebannt ist. Bis die Ausbreitung des Virus durch Impfungen eingedämmt sein wird, werden noch Monate vergehen – Monate, in denen Abstand, Masken und wahrscheinlich immer wieder Lockdowns das gesellschaftliche Zusammenleben prägen werden. Neue Gewohnheiten sind längst entstanden, vieles ist aber bereits jetzt auf der Strecke geblieben. Wer auch immer von einer Rückkehr zur „Normalität“ redet, scheint zu übersehen, dass die alte Normalität längst Vergangenheit ist – abgesehen davon, dass zu fragen wäre, ob die alte „Normalität“ ein erstrebenswertes Ziel für eine Rückkehr wäre; schließlich ist das Streben nach Profit und Gewinn, das auch vor der Natur nicht Halt macht, mitursächlich für eine solche Pandemie. Wo Wälder gerodet werden, kommen die Tiere in die Städte. Zoonosen, wie sie auch ursächlich für die Corona-Pandemie sind, sind da eine logische Folge.
Es ist also, ob man es sehen will oder nicht, wahrlich eine Zeitenwende. Es ist Krisenzeit Zeit der Entscheidung. In einer solchen befindet sich auch die Kirche. Wieder einmal. Der von Klerikern begangene Missbrauch wird in all seiner Ungeheuerlichkeit zunehmend, aber doch viel zu schleppend offenbar. Der Umgang mit Betroffenen zeugt von einer dramatischen Empathielosigkeit, aber auch Hilflosigkeit vieler Verantwortlicher. Die einen haben wissentlich vertuscht, andere wussten halt einfach nicht, wie sie den Betroffenen begegnen sollten. Das eine ist so ungeheuerlich wie das andere. Was soll man von Bischöfen, die doch die obersten Seelsorger einer Diözese sein sollen, halten, wenn sie denen, die unter die Räuber gefallen und schwerst an Leib und Seele verwundet wurden, nicht helfen. Zieht man da einfach weiter?
Es ist dramatisch, wieviel Hohlheit unter manch klerikalem Gewand lauert, eine Hohlheit, die auch in Zeiten der Corona-Pandemie laut und scheppernd dröhnt. Wegen der zur Eindämmung der Pandemie notwendigen Hygiene- und Infektionsschutzmaßnahmen werden Gottesdienste abgesagt oder finden mit reduzierter Teilnehmerzahl statt. Gesang ist weitestgehend untersagt. Sakramente können nur „mit Abstand“ gespendet werden. Wenn überhaupt werden die Riten zwar zelebriert; gefeiert werden können sie unter den gegebenen Umständen wohl kaum. Wie sehr sich die Kirche auf ihre rein rituelle Dimension zu reduzieren scheint, wird deutlich, wenn nun manch ein Pfarrer und sogar der ein oder andere Bischof das fast wehleidige Lamento anstimmt, man fühle sich überflüssig. Hat die Kirche in diesen Zeiten keine Visionen mehr? Gibt es kein Wort, das man in das Land zu verkündigen hätte? Gibt es da nichts, was die Menschen aufrichtig aufrichtet? Was ist los mit dieser Kirche, die sich im Angesicht des massenhaften Missbrauches nicht nur des Glaubens nicht mehr würdig erweist, sondern offenkundig auch des Glaubens nicht mehr fähig ist?
In diese Situation hinein dröhnt geradezu die erste Lesung vom 2. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B. Es ist eine dieser Lesungen, die die für die Leseordnung Verantwortlichen etwas zurechtgestutzt haben. Allein die Stellenangabe 1 Samuel 3,3b-10.19 deutet an, dass da doch einiges fehlt. Wo aber etwas fehlt, lohnt es sich, genau hinzusehen, was da fehlt. Texte, die mittendrin anfangen oder bei denen man etwas herausgeschnitten hat, sind nicht mehr die Texte, wie sie eigentlich in der Bibel, dem Wort Gottes beurkundet sind. Gut – manchmal betreffen die Kürzungen endlos lange Reiseberichte oder Namenslisten, die man vielleicht ohne Sinnverlust für das Ganze im Gottesdienst überspringen kann. Manchmal aber bekommen die Texte durch die Kürzungen einen neuen Sinn, der nicht dem ursprünglichen entspricht. So nämlich, wie die Lesung am 2. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B in den Gottesdiensten verkündet wird, entspricht sie nicht dem Sinn, den der Text im Kontext eigentlich hat. Es klingt zu freundlich, ja fast niedlich, wie der junge Samuel da im Tempel von Gott gerufen wird und der nach einigen Missverständnissen und einigem Hin und Herr endlich Gott als wahren Rufer erkennt:
„Samuel!, Samuel!“ – „Rede, denn dein Diener hört.“ (vgl. 1 Samuel 3,10)
Das ist ebenso hübsche wie banale Berufungsgeschichte, die man Kindern erzählt. Der dramatische Rahmen aber bleibt nicht nur Kindern erspart, sondern auch den Erwachsenen, denen man sie verkündet …
Es beginnt schon mit den fehlenden einleitenden Versen:
Der junge Samuel versah den Dienst des HERRN unter der Aufsicht Elis. In jenen Tagen waren Worte des HERRN selten; Visionen waren nicht häufig. Eines Tages geschah es: Eli schlief auf seinem Platz; seine Augen waren schwach geworden und er konnte nicht mehr sehen. 1 Samuel 3,1f
Der Hinweis, dass Visionen nicht häufig waren, ist markant und alles andere als zufällig. Es sind müde Zeiten. Man lebt wohl vor sich hin. Auch Eli, der in 1 Samuel 2,28 als Priester Gottes vorgestellt wird, erfüllt seinen Dienst pflichtgerecht, aber wohl mit wenig Leidenschaft. Die Opfer werden zwar zelebriert, aber nicht gefeiert, so dass Gott selbst klagt:
Habe ich mich dem Haus deines Vaters nicht deutlich offenbart, als deine Vorfahren in Ägypten dem Haus des Pharao gehörten? Ich habe sie aus allen Stämmen Israels für mich als Priester erwählt, damit sie zu meinem Altar hinaufgehen, das Räucheropfer darbringen und vor meinen Augen das Efod tragen. Auch habe ich dem Haus deines Vaters alle Feueropfer der Israeliten überlassen. Warum missachtet ihr Schlachtopfer und Speiseopfer, die ich für die Wohnung angeordnet habe? Warum ehrst du deine Söhne mehr als mich und warum mästet ihr euch mit dem Besten aller Gaben meines Volkes Israel? 1 Samuel 2,27b-29
In diese Situation hinein kommt der junge Samuel in den Tempel und wird von Eli unter seine Fittiche genommen. Davon erzählt die erste Lesung vom 2. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B. Herrlich, wie Gott den Samuel ruft, der aber zuerst zu Eli geht, weil er denkt, sein Fürsorger hätte nach ihm gerufen. Der erkennt schließlich, dass da mehr ist als ein Missverständnis. Er trägt dem Samuel auf:
Geh, leg dich schlafen! Wenn er dich ruft, dann antworte: Rede, HERR; denn dein Diener hört. 1 Samuel 3,9
Und Samuel tut, wie ihm geheißen ist …
Bemerkenswert, was sich so alles im Schlaf zuträgt, wenn der Wille des Menschen abgeschaltet ist und so den Weg für den Willen Gottes frei macht. Gott scheint ein Trickser zu sein, der sich der menschlichen Schwächen bedient, um den Menschen zu begreifen. Die Berufung, die sich hier ereignet, ist konkret, krass konkret sogar. Sie ist kein Gefühl, kein innerliches Bewusstwerden. Sie ist unausweichlich. Gott lässt nicht nach. Er teilt sich mit, denn er hat ein Ziel. Die Berufung gilt nie dem Berufenen um seiner selbst willen. Berufung ist keine Frömmigkeitsübung, schon gar keine Erhöhung über andere durch Erwählung. Berufung ist eine Beauftragung. Man wird immer berufen, um etwas im Auftrag des Herrn zu tun. Der Fehler Elis war es, sich dieses Auftrages entledigt zu haben und sich im Glanz seines priesterlichen Amtes gesonnt zu haben. Dieser Fehler wird offengelegt, denn dazu wird der Knabe Samuel erwählt. Es sind jene Verse, die in der Lesung ausgelassen werden. Es sind drastische Verse, die durch die Zeiten in die Situation der Kirche des Jahres 2021 hallen:
Der HERR sagte zu Samuel: Fürwahr, ich werde in Israel etwas tun, sodass jedem, der davon hört, beide Ohren gellen. An jenem Tag werde ich an Eli vom Anfang bis zum Ende alles verwirklichen, was ich seinem Haus angedroht habe. Ich habe ihm angekündigt, dass ich über sein Haus für immer das Urteil gesprochen habe wegen seiner Schuld; denn er wusste, wie seine Söhne Gott lästern, und gebot ihnen nicht Einhalt. Darum habe ich dem Haus Eli geschworen: Für die Schuld des Hauses Eli kann durch Opfer und durch Gaben in Ewigkeit keine Sühne erwirkt werden. Samuel blieb bis zum Morgen liegen, dann öffnete er die Türen zum Haus des Herr. Er fürchtete sich aber, Eli von der Vision zu berichten. 1 Samuel 3,11-15
Man kann sich die Sorge des jungen Samuel, diese Worte an seinen Fürsorger zu überbringen, gut vorstellen. Welch eine Zumutung muss es für den Jungen sein, dieses Urteil einem Erwachsenen zu verkünden. Da ist nichts Niedliches, nichts Hübsches mehr. Die Berufung wird zur Zumutung. Der Junge aber nimmt sie an. Er stellt sich dieser Herausforderung, für die er kein Gebrauchsmuster, keine Ausbildung, keine Vorerfahrung hat. Es muss getan werden:
Da rief Eli Samuel und sagte: Samuel, mein Sohn! Er antwortete: Hier bin ich. Eli fragte: Was war es, das er zu dir gesagt hat? Verheimliche mir nichts! Gott möge dir dies und das antun, wenn du mir auch nur eines von all den Worten verheimlichst, die er zu dir gesprochen hat. Da teilte ihm Samuel alle Worte mit und verheimlichte ihm nichts. Darauf sagte Eli: Es ist der HERR. Er tue, was ihm gefällt. 1 Samuel 3,16-18
Die Botschaft wird überbracht. Eli erkennt sein Versagen und nimmt das Urteil an. Er stellt sich dem Verdikt. Es wird nichts vertuscht und verheimlicht. Gott selber hat das Versagen offengelegt. Ach, hätte Eli es doch selbst getan, bevor ihm das Heft des Handelns aus der Hand genommen wurde. Wer nicht agiert, kann nur reagieren. Er hatte seine Chance. Jetzt kann er nur hinnehmen, was ohnehin unausweichlich ist. Der HERR wird tun, was ihm gefällt.
Hier endet die Geschichte Elis und die Samuels beginnt erst richtig. Der Beginn ist der letzte Vers der ersten Lesung vom 2. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B:
Samuel wuchs heran und der HERR war mit ihm und ließ keines von all seinen Worten zu Boden fallen. 1 Samuel 3,19
Der Schluss ist bemerkenswert. Keines der Worte lässt Samuel auf den Boden fallen. Das ist ein merkwürdiges Bild. Es erinnert an die Sämannsgleichnisse (vgl. Markus 4,1-20 parr) und ist doch ganz anders. Dort soll das Wort ja geradezu auf fruchtbaren Boden fallen. Hier aber wird nichts liegen oder fallen gelassen. Samuel hat das Wort Gottes ganz in sich aufgenommen. Er hat es sich einschreiben lassen – ganz und ohne Ausnahme, ungekürzt und unverfälscht. Warum man eine Lesung kürzt, die mit einer solche Weisung aufhört, wird wohl ein Rätsel derer bleiben, die für die Leseordnung verantwortlich sind. Sie haben so aus einem herausfordernden Wort Gottes eine niedliche Berufungsgeschichte gemacht, die so harmlos ist, dass man sie ins Reich kindlicher Erzählungen verweisen möchte. Die Mahnungen aber, die allen Verkünderinnen und Verkündern, den weihevollen wie den weihelosen, in den Ohren klingeln und dröhnen sollte, bevor sie über die Lippen geht, spart man aus: Wer das Wort nicht beim Schopf ergreift und ganz und gar mit Haut und Haaren verinnerlicht, wird nichts haben, was er den Menschen, die es beizeiten nötig haben, geben kann. Welch ein Urteil fällen gerade die, die sich Christus ähnlicher als ähnlich gemacht wähnen, wenn sie nicht wissen, was sie denen, die unter die Räuber gefallen sind, nicht helfen können? Was für ein Urteil fällen sie über sich, wenn sie in Zeiten der Not kein aufrichtig aufrichtendes Wort haben, sich selbst aber überflüssig fühlen? Der HERR wird tun, was ihm gefällt … er tut es schon. Seht ihr es nicht?
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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