Die domini – 6. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Der moderne Mensch hat das Warten verlernt. Alles muss schnell wieder so funktionieren, wie er es gewohnt ist. Bestenfalls sind kleine Variationen der vermeintlichen Normalität gewünscht – kleine, feine Dissonanzen, die dem Alltag Würze geben, den gewohnten Trott aber nicht allzu sehr stören. Die Normalität an sich aber soll im Großen und Ganzen fortdauern. Jede größere Veränderung aber bedeutet eine Störung dieses grauen Grundrauschens wohlständiger Behäbigkeit. Der Wahlspruch des modernen Menschen westlicher Prägung lautet deshalb „Bitte nicht stören!“. Kommen da Menschen, die vor Krieg im Nahen Osten oder Dürrekatastrophen in Afrika fliehen – „Bitte nicht stören!“. Auftauender Permafrost, schmelzende Gletscher und die Ausbreitung von Wüsten führen vor Augen, dass der Klimawandel längst kein schleichender Prozess mehr ist – „Bitte nicht stören!“. Ein kleines Virus verursacht eine Pandemie, die Leben nimmt, Leben erschwert, Leben bedroht – „Bitte nicht stören!“. Solange ich nicht betroffen bin, möchte ich – bittschön! – nicht gestört werden! – das ist die Maxime des modernen Menschen westlicher Prägung. Der kognitive Aktionsradius endet am eigenen Gartenzaun. Dahinter liegen fremde, andere Welten, die einen nichts angehen. Dass aber schon der Samen des Unkrauts aus der Nachbarschaft vor den Grenzen des eigenen Gartens keinen Halt macht, dürfte schon Menetekel genug sein, dass die zwischenmenschlichen Vernetzungen selbst bei größtem Unwillen nicht zu leugnen sind. Da hilft auch kein Gezeter am Maschendrahtzaun, der Nachbar möge doch bitte sein Unkraut selbst vernichten!
Die Befindlichkeiten des gemeinen Menschen westlicher Prägung aber sind stärker. Krisen haben lösbar zu sein – und zwar stante pede! Sofort! Man möchte schließlich nicht gestört werden, in seinem Stammkaffee den gewohnten Koffeindrink zu sich nehmen, sich im Kino die Zeit vertreiben und endlich wieder dem gewohnten Trott nachgehen. Aber dann kam Corona …
Corona kränkt den modernen Menschen. Das SARS-CoV-2-Virus liefert den Menschen an sich selbst aus. Er muss jetzt warten. Warten bis die Inzidenzen so niedrig sind, dass die Pandemie sich nicht exponentiell entwickelt und das Gesundheitssystem vor die Wand fährt. Warten auf einen Impfstoff, der in rasanter Geschwindigkeit entwickelt, aber noch nicht in ebenso rasanter Geschwindigkeit für die Massen bereit gestellt werden kann. Warten auf die neuesten Entscheidungen, um die Politikerinnen und Politiker ringen im Abwägen zwischen gesundheitlichen, juristischen, wirtschaftlichen und noch vielen anderen Parametern, um dem Eid, den sie geschworen haben, nämlich dem Wohl des Volkes zu dienen, möglichst gerecht zu werden. Und dann kommen noch neue Mutationen, die alles wieder in Frage stellen. Wird der Impfstoff noch wirken? Was wird werden, wenn die Virusmutante ansteckender ist als ihre Vorgängerviren? Wieder warten?
Wieder warten! Warten könnte eine Tugend sein – wenn man sich nicht so selbst ausgeliefert wäre! Das ist wohl das schwerste in diesen viralen Zeiten: Die Last des eigenen Ich ertragen zu lernen. Dieses Ich ist das Wesen, mit dem die Mitmenschen immer schon klar kommen mussten. Kann man sich denn nun selbst aushalten?
Paulus – in seiner Streitbarkeit sicher kein einfacher Zeitgenosse – scheint da mit sich im Reinen zu sein. In der zweiten Lesung vom 6. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B empfiehlt er unumwunden:
Nehmt mich zum Vorbild, wie ich Christus zum Vorbild nehme! 1 Korinther 11,1
Das klingt auf den ersten Blick doch schon recht eitel – wäre da nicht die Selbstrelativierung einen Vers zu vor:
Auch ich suche allen in allem entgegenzukommen; ich suche nicht meinen Nutzen, sondern den Nutzen aller, damit sie gerettet werden. 1 Korinther 10,33
Das ist der entscheidende Hinweis: Probleme, die alle angehen, kann man nur nutzen, wenn man den Blick von sich weg zu den anderen wendet. Die Frage lautete nicht nur in diesen Zeiten: Was nutzt den anderen? Das ist weniger altruistisch, als es auf den ersten Blick erscheint. Zum einen kommt man, wenn auch die anderen so denken, selbst in nutznießerischen Genuss des Handelns anderer; zum anderen aber vermehrt sich der Nutzen der Gemeinschaft – und steigert so den Wohlstand aller. Das ist der Hintergrund der Weisungen der ersten Lesung vom 6. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B, die auch gut 2.500 Jahre nach ihrer schriftlichen Niederlegung nichts an Aktualität eingebüßt hat. Mehr noch: Es scheint, als spreche diese Lesung in diese pandemische Zeit. Statt mit Aussatz schlagen sich die Zeitgenossen mit einem Corona-Virus herum. Ansonsten klingt das alles doch fast wie aus einem Bulletin der letzten Konferenz der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten:
Der Aussätzige mit dem Anzeichen soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungekämmt lassen; er soll den Bart verhüllen und ausrufen: Unrein! Unrein! Solange das Anzeichen an ihm besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten. Levitikus 13,45f
Hat sich soviel verändert? Kein Friseur darf sich gegenwärtig um ungekämmtes Haar kümmern, Masken verhüllen die Bärte und wer infiziert ist muss sich in Quarantäne absondern.
Und doch ist etwas entscheidend anders. Heilung von Aussatz war damals nahezu unmöglich. Wer nicht gerade dem menschgewordenen Sohn Gottes begegnete, dürfte kaum Chancen auf Heilung gehabt haben. Aber auch die Begegnung mit Jesus von Nazareth an sich macht nicht heil. Das Entscheidende liegt in der Motivation des kranken Mannes. Davon erzählt das Evangelium vom sechsten Sonntag im Jahreskreis:
In jener Zeit kam ein Aussätziger zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will – werde rein! Sogleich verschwand der Aussatz und der Mann war rein. Markus 1,40-42
Der Kranke wendet sich aus eigener Motivation an Jesus. Dazu muss er eine Grenze überschreiten. Er muss die Isolation verlassen – ein hohes Risiko. Wenn das Schule machte, dann wäre die Verbreitung mit Aussatz nicht aufzuhalten. Wenigsten bleibt er auf Abstand – auch darauf verweist die Bemerkung, dass er auf die Knie fällt. Das Risiko aber bleibt. Der Kranke weiß um dieses Risiko. Er hat alles auf diese Karte gesetzt:
Wenn du willst, kannst du mich rein machen. Markus 1,40c
Es ist diese Hoffnung, die die Grenzüberschreitung motiviert. Das allein ist die Legitimation der Aufhebung des Wartens. Und danach? Rückkehr zur Normalität? So sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus, denn der Kranke soll sich dem Priester zeigen und das vorgeschriebene Opfer für seine Heilung darbringen. So könnte er wieder resozialisiert werden. Es kommt aber anders. Nichts ist mehr so, wie es war – auch für Jesus nicht, der sich nicht mehr blicken lassen kann, ohne dass die Menschen zu ihm kommen. Mit der Ruhe im eigenen Vorgarten ist es vorbei …
Heute haben Kranke keine Chance mehr, dem menschgewordenen Sohn Gottes leibhaftig zu begegnen. Aber viele befinden sich in der Nachfolge des fleischgewordenen Wortes Gottes. Es ist ja jenes Wort, das Wirklichkeit schafft, das Universum gebiert und Leben erweckt. Die vielen Forscherinnen und Forscher folgen diesen Spuren des Schöpfers. Sie folgen dem Höchsten nach, um Lösungen für die Probleme der Gegenwart zu finden, Mittel der Heilung, Zeichen der Hoffnung. Wer forscht weiß um den Wert des Wartens. Bis es heißt: Heureka! – Ich habe es gefunden! – braucht Erkenntnis Zeit. Warten gehört zum Geschäft derer, die so auf den Spuren des Schöpfers unterwegs sind. Und wenn man als Forscherin oder Forscher gar nicht an den Schöpfer glaubt? Es ist dem Schöpfer offenkundig egal, denn er lässt sich und seine Gesetze auch so entdecken – zum Heil der Menschen.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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