Der menschliche Geist ist auf vielfältige Weise abgründig. Das mag daran liegen, dass in ihm stetig widerstreitende Kräfte am Werk sind. Soll man mutig zur Tat schreiten? Das kann bemerkenswerte Innovationen bewirken, aber auch dazu führen, dass man Kopf und Kragen riskiert. Die BUGA ist da ein bemerkenswertes Beispiel. Wenn sie kommt (Wenn!), dann wird man erst im Nachhinein erkennen, ob die vielen Versprechungen Verheißungen oder Verführungen waren.
Der menschliche Geist wird aber auch von der eigenen Befindlichkeit regiert. Natürlich macht es zufrieden, anderen zu helfen; den meisten ist jedoch das eigene Hemd näher als die Hose der anderen. Die Beantwortung Frage, ob man sich nun gegen das Corona-Virus impfen lassen soll oder nicht, hat so längst den Pfad der Rationalität verlassen. Im Unterholz der Bedürfnisse verirren sich die einen wie die anderen. Alle wollen, dass es endlich aufhört. Während die einen dafür aber eine Impfpflicht fordern, tönen die anderen, dass alle sich stets testen lassen sollen. Ohne eine Verpflichtung für alle wird es also so oder so nicht gehen. Wen interessieren schon Fakten, wenn es die Fiktion eines Mittelpunktes gibt, in dem man sich wähnt. Was für ein Irrtum! Sie glauben, Sie seien der Mittelpunkt der Welt. Wie unverschämt – das bin doch ich! Was glauben Sie denn?
Mut und Begehren sind starke emotionale Kräfte im menschlichen Geist. Der antike Philosoph Platon erkennt in seinem Dialog Phaidros, dass diese starken Affekte einer Zähmung bedürfen. Er vergleicht sie mit zwei ungestümen Pferden, die einen starken Wagenlenkers brauchen – der Vernunft. Die Vernunft wägt ab, plant, überlegt, denkt nach, um die zukünftigen Konsequenzen des eigenen Handelns über den Moment hinaus zu antizipieren: Was wird sein, wen ich so handle, und was, wenn ich einen anderen Weg gehe. In diesem Sinn ist die Vernunft im wahrsten Sinn des Wortes vor-sichtig. Lernt man nicht schon in der Fahrschule, mit Weitblick zu fahren? Wessen geistiger Horizont da nur bis zum eigenen Kühlergrill reicht, wird schnell die Konsequenzen des eigenen fahrerischen Unvermögens erkennen – bisweilen ohne jede Einsicht. Das kann man gegenwärtig täglich am Laurentiusplatz in Wuppertal-Elberfeld sehen, wenn die mittlerweile doch schon etwas in die Tage gekommene Fußgängerzone zwischen Laurentiusstr. und Auer Schulstr. immer wieder mutig und dem Bedürfnis einer flotten Abkürzung folgend befahren wird. Wird man dann – natürlich unerwartet – von einem echten und weithin gut erkennbaren Ordnungshüter – die Rede ist hier nicht von den selbsternannten Kiez-Sheriffs – angehalten, wäre es vernünftig, das eigene Versagen einzugestehen und erwachsen die Folgen zu tragen. Bisweilen aber ist dann zu hören, das würde man doch eigentlich immer machen. Was soll der Ordnungshüter da tun: Für jeden Tag ein Honorar mutiger Bedürfnisorientierung im Nachhinein berechnen? Mit Weitblick könnte man vorsichtig das Befahren des fraglichen Stücks Fußgängerzone vermeiden. Aber was soll man machen, wenn Emotion vor Information geht und die eigenen Bedürfnisse unnötig mutig machen …
Ob die Fußgängerzone am Laurentiusplatz, die BUGA-Pläne, die Corona-Pandemie oder der Klimawandel – irgendwie ist es im Kleinen wie im Großen unübersehbar, dass die zeitgenössische Menschheit den Weitblick verloren hat. Wer auf Sicht fährt, hat eben keine Vorsicht. Er kann nur reagieren, statt zu agieren. Es wird Zeit, wieder Vernunft walten zu lassen und der Mahnung des Psalmisten zu folgen:
„Werdet nicht wie Ross und Maultier, die ohne Verstand sind. Mit Zaum und Zügel muss man ihr Ungestüm bändigen, sonst bleiben sie nicht in deiner Nähe.“ (Psalm 32,9)
Sapere aude! Versuchen Sie es einfach: Wagen Sie es, vernünftig zu sein.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 19. November 2021.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.