Dies Domini – Erster Fastensonntag, Lesejahr A
Auch nach der Aufklärung scheint der moderne Mensch nicht frei von magischem Bewusstsein. Gerade angesichts des terroristischen Angriffs auf die Ukraine wird diese Anfälligkeit vieler modernen Zeitgenossen deutlich. Die scheinbare Stärke Russlands und die bloße Drohung Putins, er könne, wenn er wollte, Atomwaffen einsetzen, löst tiefsitzende Ängste aus, ein Gefühl der Ohnmacht, das nur schwer zu ertragen zu sein scheint. Die Frage, warum die Russen in bisherigen Konflikten – in Syrien, Mali, Afghanistan, Tschetschenien und Georgien – nie die Atomwaffe eingesetzt haben, sondern mit blinder und unmenschlicher Zerstörungswut Städte und Landschaften niedergebombt haben, wird gar nicht näher gestellt. Diese Konflikte waren offenkundig zu weit weg – und hatten offenkundig auch den europäischen Beistand nicht so nötig, dass man einfach wegschauen konnte. Das ist nun anders. Die Ukraine ist nah – und damit juckt plötzlich der eigenen Pelz. Der ehemalige KGB-Offizier und Tschekist Putin weiß, wie man die Unsicherheit schürt. Die Tscheka – die russische Geheimpolizei – war ein guter Lehrmeister: Mit Geld oder mit Angst und Einschüchterung wurden die Gegner gefügig gemacht. Dieses Spiel spielt jetzt auch Putin. Wer sich auf seine Spieregeln einlässt, hat schon verloren und verdammt sich selbst zur Unterwerfung. Oder er duckt sich weg, um gar nicht erst auf das Spielfeld zu geraten. Oder er schreibt öffentliche Briefe und beschwört wortreich das Ende eines Krieges, auf den er nicht einmal den Hauch von Einfluss hat, weil er gar nicht auf dem Spielfeld steht oder stehen will. Die Angst als Lehrmeisterin treibt halt absurde Blüten …
Die Versuchung ist groß, aus Eigenschutz den Beistand zu verweigern. Das ist durchaus legitim. Jede Polizistin und jeder Sanitäter lernt, dass Eigenschutz Vorrang hat. Moralisch verwerflich ist das Streben nach Eigenschutz also keineswegs. Aber es hat einen Preis. Die Verletzten und Leidenden bleiben auf der Strecke. Es wäre gut, wen die, die in subtil-magischem Bewusstsein Worte machen, mit denen man den Terror zu beenden sucht, sich wenigstens des inhärenten Dilemmas bewusst würden, in dem wir alle stehen – und wir stehen in diesem Dilemma nur dabei, denn das Leid, die Vergewaltigungen, das Sterben findet in der Ukraine statt, nicht bei uns. Wer hier nur zusieht, sich aus Angst wegduckt und danebensteht, schützt sich möglicherweise selbst, ist aber auch für unterlassene Hilfeleistung verantwortlich; wer hingegen nicht zuschauen kann, sondern helfend eingreift, muss sich bewusst sein, dass er – etwa durch Waffenlieferungen – eben auch Verantwortung auf sich lädt, denn Waffen töten. Es gibt kein Entkommen aus diesem Dilemma, gerade weil in dieser Krieg auf einem terroristischen Angriff beruht, dem keine Fehde- oder Kriegserklärung vorausging und keine Verhandlungsbereitschaft seitens des Angreifers. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Sie ist und bleibt ein unmenschlicher Terrorakt, mit dem Putin – und das sagte er selbst bereits 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz – wieder als Großmacht erscheinen möchte. Der erstrebten Einverleibung der Ukraine ging die teilweise Annexion Georgiens, der Krim und des Donbass voraus. Man muss kein Prophet sein, dass weitere Schritte geplant sind, um Putins Großmachtphantasien wiederherzustellen. Ob die mit gutgemeinten Friedensapellen und öffentlichen Aufrufen, an den Verhandlungstisch zu gehen, zu vermeiden sind?
Wie teuflisch das Dilemma ist, wird gerade im Evangelium vom 1. Fastensonntag im Lesejahr A deutlich. Nach der Taufe im Jordan durch Johannes den Täufer zieht sich Jesus in die Wüste zurück. Es ist eine Zeit der Transition, des Übergangs aus der Zeit der Verborgenheit vor dem Schritt in die Öffentlichkeit. Jesus hat große vor: Die Verkündigung des nahe Reiches Gottes. Er ahnt die Größe dieser Botschaft. Und er ahnt den Anspruch und die Gefahr, die für ihn selbst besteht. Sie begegnet ihm in der Figur des Teufels, jenes Einflüsterers von Großphantasien, aber auch von Vermeidungsstrategien. Die Versuchung ist groß, sich einfach wegzuducken und ein Leben in scheinbarem Wohlstand zu führen:
Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Mt 4,3
Auch die Versuchung, volles Risiko ohne Verstand einzugehen, wird geschildert:
Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab; denn es heißt in der Schrift: Seinen Engeln befiehlt er um deinetwillen, und: Sie werden dich auf ihren Händen tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt. Mt 4,6
Schlussendlich lockt die Fantasie grenzenloser Macht:
Er zeigte ihm alle Reiche der Welt mit ihrer Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest. Mt 4,8b.9
Jesus duckt sich bei keiner dieser Versuchungen weg, den Wegducken würde bedeuten, sich niederzuwerfen. Wegducken ist eben keine Option – auch nicht um des lieben Friedenswillen. Wer sich wegduckt, muss in der letzten Konsequenz bereit sein, sich zu unterwerfen.
Jesus bietet dem Versucher stattdessen die Stirn. Er erliegt damit ebenso wenig der Versuchung, sich wegzuducken noch sinnlose Risiken einzugehen.
Damit aber ist das Dilemma noch nicht gelöst, in dem der Westen heute steht. Eine einfache Antwort gibt auch Jesus nicht. Er sagt lediglich:
Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen. Mt 4,10
Zwei Aspekte sind es, die zu beachten sind: 1. Die Zurückweisung des Aggressors – und das durch aus im wörtlichen Sinn. Der Angreifer wird auf Distanz gehalten, des Feldes verwiesen. Der Kontakt wird abgebrochen. 2. Wenigstens für Gottgläubige gilt es, die Entscheidungen so zu fällen, dass sie von hinten, von ihren Konsequenzen her gedacht werden. Die letzte Konsequenz ist die Frage, wie eine Entscheidung vor Gott Bestand haben kann. Dort aber steht nicht nur die Rechtfertigung der Taten zu Gebote, sondern auch deren Unterlassung:
Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. Und diese werden weggehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber zum ewigen Leben. Mt 25,45f
Wie Jesus dem Angreifer die Stirn zu bieten und sich nicht wegzuducken, heißt, alle zur Hilfe für die Angegriffenen Mittel zu prüfen und diese Hilfe nicht zu verweigern. Das geht nur mit aufrechtem und aufrichtigem Handeln. Für Christinnen und Christen ist aber eines klar: Das Gute wird siegen! Diese Hoffnung sollten wir uns auf keinen Fall nehmen lassen.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.