Dies Domini – Vierter Sonntag der Osterzeit, Lesejahr B
Die Kirche ist noch nicht am Tiefpunkt ihrer selbstgemachen Krise angelangt. Das Unvermögen derer, die sich Hirten nennen und die Vorgeben, die Kirche zu führen zu leiten, im Umgang mit denen, die von klerikalem Missbrauch betroffen sind, und die Unfähigkeit, sich konstruktiv kritisch mit ethischen Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen, zeitigen eklatante Folgen. Saßen früher in Talkshows fast schon obligat geweihte oder ungeweihte Theologinnen und Theologen in den Gesprächsrunden, in denen sie mehr oder weniger kompetent mitdiskutierten, sind sie nunmehr fast vollständig verschwunden. Das gilt zunehmend auch für Arbeitskreise und Expertenrunden, die die Politik in ethischen Fragen beraten sollen. Aktuell ist in der Arbeitsgruppe, die sich mit der möglichen Abschaffung des §218 des StGB befasst, keine (moral-)theologische Expertise mehr gefragt. Die Begründung ist frappierend und müsste allen, die Verantwortung tragen, die Schamesröte ins Gesicht steigen lassen: Eine Kirche, die es in eigenen Reihen offenkundig an Moral mangeln lässt und nicht in der Lage ist, den von Missbrauch Betroffenen würdig zu begegnen, hat jedes Recht und jeden Anspruch auf Mitwirkung an ethischen Diskursen verwirkt. Das, wofür die Kirchen einmal standen, haben sie selbst in den Staub getreten. Sie taugen noch nicht einmal mehr als clowneske Skurrilität in Talkshows; sie haben sich selbst unmöglich gemacht … und tun es offenkundig weiterhin.
Man könnte auf diese Krise offensiv reagieren, in dem man sich endlich der Verantwortung stellt. Das geschieht sogar in Teilen. Der Gesamteindruck aber ist eklatant schlecht. Die Heiligkeit der Kirche, deren Beschädigung vertuschend bewahrt werden sollte, ist unzweifelhaft befleckt. Das aber ficht viele nicht an. Die Liturgien werden gewohnt feierlich zelebriert, die eigene Erwählung sogar dadurch bestärkt suggeriert, in dem man das Bild vom „Heiligen Rest“ aktiviert. Möge die Welt sich abwenden (so wird es wohl im inneren Kreis der Kirche in fataler Leugnung der Selbstabwendung von der Welt wahrgenommen), der Heilige Rest sonnt sich eitel im blind gewordenen Spiegel selbstdefinierter Heiligkeit. Man bricht den Stab über andere, nie aber über sich selbst. Ob die, die anderen gerne das Katholischsein absprechen und im Skandal des Missbrauchs durch Kleriker eher eine lästige Störung eigener sakraler Befindlichkeiten sehen, ahnen, wie sehr sie gegen das Wort Jesu, auf den sie sich sonst immer berufen, stehen:
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!“ (Mt 7,1-5)
Die biblische Rede vom „Heiligen Rest“ jedenfalls ist kein erstrebenswerter Dauerzustand. Sie stammt aus der Erfahrung des Exils in Babylon, als die jüdische Elite weggeführt war und der Tempel nicht mehr bestand. In diese Situation hinein spricht der Prophet Jesaja ein tröstendes Wort:
„Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet Jerusalem zu Herzen und ruft ihr zu, dass sie vollendet hat ihren Frondienst, dass gesühnt ist ihre Schuld, dass sie empfangen hat aus der Hand des HERRN Doppeltes für all ihre Sünden!“ (Jes 40,1f)
Der Heilige Rest muss sich der Schuld stellen. Es ist an ihm, zu sühnen, um einen Neuanfang zu ermöglichen. Der Heilige Rest ist kein erstrebenswerter Zustand, sondern eine Wendepunkt, dem ein Neuaufbau folgen muss, eine Heilung und Reinigung, die nicht ohne Gott gehen wird:
„Siehe, GOTT, der Herr, kommt mit Macht, er herrscht mit starkem Arm. Siehe, sein Lohn ist mit ihm und sein Ertrag geht vor ihm her. Wie ein Hirt weidet er seine Herde, auf seinem Arm sammelt er die Lämmer, an seiner Brust trägt er sie, die Mutterschafe führt er behutsam.“ (Jes 40,10f)
Gott wirkt wie ein Hirte. Und ein guter Hirte hat ein Problem, wenn eines seiner Schafe verloren geht. Es kann ihm nicht egal sein, denn er ist nicht der Besitzer der Herde. Er ist ein Tagelöhner, der seinem Herrn Rechenschaft schuldig ist. Ein merkwürdiges Bild, das da von Gott gesagt wird! Ist er nicht der, dem wir Rechenschaft schuldig sind?
Die Gottesrede bei Jesaja gibt ein vorbildhaftes Beispiel. Gott selbst würde nicht ruhen, wie ein guter Hirte, der keines seiner Schafe verloren gibt. Genau das ist der eigentliche Impuls des Gleichnisses vom verlorenen Schaf im Lukasevangelium (siehe Lk 15,4-7). Nicht das Schaf hat ein Problem, der Hirte hat eines! Er kann sich nicht mit dem braven Heiligen Rest begnügen, er muss das Verlorengegangene suchen!
Genau das spricht Jesus im Evangelium vom vierte Sonntag der Osterzeit im Lesejahr B an:
„Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, lässt die Schafe im Stich und flieht; und der Wolf reißt sie und zerstreut sie. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe.“ (Joh 10,11-15)
Der echte Hirte drückt und verdrückt sich nicht. Er stellt sich der Aufgabe – auch wenn sie eine Zumutung und eine Gefahr bedeutet. Er tut das sogar nicht nur für seine vertraute Herd:
„Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.“ (Joh 10,16)
Wie kann man da von einem „Heiligen Rest“ reden? Die Herde Jesu soll wachsen – und die, die vorgeben, Hirten zu sein, sollten endlich seinem Beispiel folgen. Die Krise der Kirche ist nicht zu leugnen; sie ist eklatant tiefer, als manche glauben. Die Kirche hat in der Welt ihr Gesicht verloren – und offenkundig ist keiner derer, die sich als Hirten wähnen, in der Lage, der Kirche wieder ein glaubhaftes Gesicht in der Welt zu geben. Was dann passiert, ist beim Propheten Ezechiel bezeugt:
„So spricht GOTT, der Herr: Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und fordere meine Schafe aus ihrer Hand zurück. Ich mache dem Weiden der Schafe ein Ende. Die Hirten sollen nicht länger sich selbst weiden: Ich rette meine Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein. Denn so spricht GOTT, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern.“ (Ez 34,10f)
Wenn die irdischen Hirten versagen, tritt die Herde unmittelbar vor Gott:
„Ihr aber, meine Herde – so spricht GOTT, der Herr -, siehe, ich sorge für Recht zwischen Schaf und Schaf. Ihr Widder und ihr Böcke, ist es euch zu wenig, dass ihr auf der besten Weide weidet und euer übriges Weideland mit euren Füßen zertrampelt? Dass ihr das klare Wasser trinkt und den Rest des Wassers mit euren Füßen verschmutzt? Meine Schafe müssen abweiden, was eure Füße zertrampelt haben, und trinken, was eure Füße verschmutzt haben. Darum – so spricht GOTT, der Herr, zu ihnen: Siehe, ich selbst bin es, ich sorge für Recht zwischen fettem Schaf und magerem Schaf.“ (Ez 34,17-20)
Für die, die noch da sind, gibt es also einen klaren Auftrag: Nicht auf die zu hören, die sich immer noch für Hirten halten, sondern unmittelbar den Willen Gottes in Wort und Tat zu erfüllen:
„Sie werden erkennen, dass ich, der HERR, ihr Gott, mit ihnen bin und dass sie mein Volk sind, das Haus Israel – Spruch GOTTES, des Herrn. Ihr seid meine Schafe. Die Schafe meiner Weide seid ihr, Menschen. Ich bin euer Gott – Spruch GOTTES, des Herrn.“ (Ez 34,30f)
Offenkundig ist diese Zeit gekommen. Es ist soweit. Gott ist da – ohne klerikale Vermittlung. Der Heilige Rest aber sollte sich nicht ausruhen, sondern neue Weidegründe für die Herde Gottes suchen.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Die Kirche und die kirchlichen Gemeinschaften haben in Deutschland ihren Platz längst gefunden. Der Deal lautet:
Ihr zahlt brav eure Kirchensteuer und arrangiert euch mit den Grünen. Dafür erzählen wir euch, daß ihr in den Himmel kommt.
Lieber Dr. Kleine,
dieser Text berührt mich tief! Gerade die Verbindung zum Hirte-Schafe, spiegelt die Verhältnis, wie es gemeint war, wie es misbraucht wird und wie es sein soll. Der Text von Ezechial ist so klar und deutlich, ich frage mich wie Kleriker, die Theologie studiert haben,deren Botschaft nicht erkennen können. Der „Balken“?
Danke für Ihre klare Wörter, sie starken die innere Kräfte weiter sich einzusetzen für eine katholische Kirche in den das Evangelium gelebt wird.