Wenigstens einmal im Jahr verlassen katholische Gläubige die schützenden Mauern der Kirche. Die Monstranz mit dem Allerheiligsten wird durch die Straßen getragen, jenem Stückchen ungesäuertem Brot, das nach katholischem Glauben durch die Konsekration zum Leib Christi selbst gewandelt wurde. Die, die dem Allerheiligsten durch die Straßen folgen, zeigen ihren Glauben mit offenem Visier. Zweifelsohne teilen nicht alle den Glauben an die reale Gegenwart Jesu Christi in der konsekrierten Hostie. Gerade deshalb zeugt es von Freimut, sich öffentlich zu seinem Glauben zu bekennen.
Öffentlicher Freimut – griechisch „Parrhesia“ – ist ein prägendes Wesensmerkmal, zu dem das Neue Testament immer wieder auffordert. Der Autor des 1. Petrusbriefes fordert unumwunden:
„Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt.“ (1 Petr 3,15)
Die freimütige Rede ist auch in der aktiven Verkündigung gefordert:
„Verkünde das Wort, tritt auf, ob gelegen oder ungelegen, überführe, weise zurecht, ermahne, in aller Geduld und Belehrung!“ (2 Tim 4,2).
Leisetreterei scheint offenkundig nicht die Haltung der Zeugen Jesu Christi zu sein.
Tatsächlich kann die freimütige Rede in Konflikte führen. Das erlebt nicht nur Paulus, der betont, dass er Christus stets mit Freimut öffentlich verkündet hat und verkünden wird (vgl. Phil 1,20); das aber bringt ihm nicht nur Zustimmung ein, sondern auch Anfeindung, Kritik, ja sogar lebensbedrohliche Verfolgung (vgl. 2 Kor 4,8-10) – ein Schicksal, dass der so von ihm Verkündete selbst teilt. So antwortet Jesus dem Hohepriester nach seiner Verhaftung:
„Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im Geheimen gesprochen.“ (Joh 18,20)
Die Römer werden ihn trotzdem zum Tod am Kreuz verurteilen.
Das öffentliche Eintreten für das, was als wahr erkannt wurde, führt nicht zwingend zu umjubelter Anerkennung, sondern kann mitunter sogar harsche Folgen zeitigen. Kein Wunder, dass feinfühlige Zeitgenossen lieber in der Versenkung bleiben. Der scheinbare Schutz der Anonymität erlaubt aber auch rhetorischen Heckenschützen, drastische, menschenfeindliche oder kontrafaktische Ansichten zu äußern, ohne dass man Konsequenzen zu befürchten hätte. Da kann man dann mal eben eine Aufforderung zur Intifada an die Wand sprühen, wie sie derzeit an der Südstraße in der Unterführung der B7 zu sehen ist; oder man wirft im Schutz der Namenlosigkeit eine Ziegelstein auf eine Wohneinrichtung für Behinderte der Lebenshilfe, wie jetzt in Mönchengladbach geschehen, auf dem „Euthanasie ist die Lösung“ steht. Darf man angesichts solcher oder ähnlicher Angriffe, die es eben oft nicht nur bei Worten belassen, noch tatenlos zusehen?
Artikel 5 des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland garantiert das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das impliziert, dass man auch gegenteilige Meinungen ertragen und sich der Kritik an der eigenen Meinung stellen muss. Mitunter kann das sogar dazu führen, dass man die eigene Meinung aufgrund neuer Erkenntnisse oder Erfahrungen ändert. Was glauben Sie denn?
Demokratie kann nur funktionieren, wenn dieser öffentliche Diskurs von Angesicht zu Angesicht stattfindet. Die Anonymität mag Schutz bieten. Sie hat keine Anschrift, an die man eine Antwort adressieren könnte. Angesicht der Folgen, die die freimütige Rede zeitigen kann, kann man verstehen, dass manch einem hier das Herz von der Zunge in die Hose rutscht. Nur ist das das Ende jenes öffentlichen Diskurses, von dem die freie Demokratie lebt. Wenn die Angst regiert, gewinnen nur die, die selbst den größten kontrafaktischen Blödsinn als Wahrheit verkaufen. Gerade weil es für ein „Wehret den Anfängen“ zu spät ist, ist freimütiges Eintreten für die Würde aller Menschen Pflicht. Es ist Zeit, Gesicht zu zeigen, bevor man es verliert.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 31. Mai 2024.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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