Die Zeit ist ein hohes Gut. Jede Sekunde, jeder Moment, jeder Augenblick ist einmalig. Was vergangen ist, kann nicht wiedergeholt werden. Es gäbe nichts zu verschwenden, nichts zu vertrödeln. So aber hat man schließlich ein ganzes Leben, scheinbare Zeit im Überfluss. Und dann bekommt man in der Nacht von Samstag auf Sonntag, wenn die Uhren wieder von Sommerzeit auf Winterzeit umgestellt werden, sogar noch eine Stunde geschenkt!
Natürlich wird da nichts geschenkt. Die Lebenszeit ist begrenzt. Auch wenn wir in der Regel weder den Tag noch die Stunde kennen, in der wir das Kontinuum von Raum und Zeit verlassen, man kann sich Zeit weder kaufen noch kann man die Zeit vermehren.
Tatsächlich fließt die Zeit beständig vor sich hin. Die Augenblicke rinnen uns nur so durch die Finger. In unserer irdischen Existenz können wir wirkliche Gegenwart nicht empfinden. Das, was gerade noch auf uns zukam, ist einen Wimpernschlag später schon Vergangenheit. Nichts kommt zurück, alles fließt.
In der Jugend, wenn die Zeit noch im Überfluss vorhanden zu sein scheint, ist der Sinn für den Wert der Zeit oft noch nicht so ausgeprägt. Wenn aber das Ende naht und das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit wächst, tritt auch der Wert der Zeit deutlicher hervor. Dem Tod Geweihte erleben ihre verbliebene Zeit oft bewusster. Sie haben nichts mehr zu verschenken. Todkranke ringen um jede Sekunde, greifen nach jedem Strohhalm, dem Leben noch Zeit abzuringen. Erst wenn die Zeit knapp wird, wird der Mensch sich ihres Wertes bewusster.
Plätschert der Fluss der Zeit im Normalfall friedlich vor sich hin – wenn die Zeit drängt, ist plötzlich keine Zeit mehr. Umso verwunderlicher ist es, dass bei den großen Fragen das Drängen der Zeit keine Rolle zu spielen scheint. Die meisten Menschen scheinen etwa schon verstanden zu haben, dass der Klimawandel in nicht allzu ferner Zukunft zu existentiellen Bedrohungen führen wird. Und trotzdem ist diese Zukunft gefühlt noch zu weit weg – sie ist nicht greifbar. Dabei drängt die Zeit. Die Unwetterkatastrophen, Überschwemmungen und Stürme zeigen, dass eigentlich keine Zeit mehr bleibt.
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) –
mit diesen beiden prägnanten Sätzen stellt Jesus selbst am Beginn des Matthäusevangeliums sein Programm vor. Sicher: Nicht alle Leserinnen und Leser werden glauben; statistisch dürfte sogar die Mehrheit zu den Nichtglaubenden zählen. Die Rede vom „Reich Gottes“ und vom „Glauben an das Evangelium“ mag sie nicht erreichen. Aber dass die Zeit erfüllt ist und die Notwendigkeit zum Umdenken und zum Andershandeln längst eingetreten ist, ist evident. Für Glaubende ist das nahe gekommene Reich Gottes und der Glaube an das Evangelium kein Opium, das das Zeitempfinden betäubt; es ist eine zusätzliche Motivation, die Paulus im Galaterbrief veranlasst auszurufen:
„Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes tun, besonders aber den Glaubensgenossen!“ (Gal 6,10)
Christinnen und Christen, leben im Bewusstsein der Zeitknappheit. Im Markusevangelium schlägt sich das darin nieder, dass immer Eile herrscht. Alles geschieht immer „sogleich“ und „sofort“. Wie anders sähen Politik und Verwaltung aus, wenn bei den dort Handelnden das Bewusstsein bestünde, dass vom eigenen Handeln das Anbrechen des nächsten Tages abhängen würde. Tote haben keine Zeit mehr, wir Lebenden haben sie noch. Wir sollten sie nicht vergeuden, den kommenden Generationen die Zeit nicht stehlen, sondern unsere Zeit nutzen, die Welt jeden Tag ein wenig besser machen. Das ist nun wirklich keine Frage des Glaubens mehr, sondern einfach eine des Respekts vor dem vergessenen Wert der Zeit! Was glauben Sie denn?
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 25. Oktober 2024.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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