Amsterdam – das war einmal die Faszination von Tulpen, Freiheit, Hippietum. Für Menschen, die ihre Kindheit und Jugend in den 70er und 80er Jahren verbracht haben, war es oft jener Sehnsuchtsort, den die Band Cora 1984 besang:
„Komm, wir fahren nach Amsterdam. Ich weiß, dass uns nichts passieren kann.“
Dieser Traum ist für Juden spätestens seit dem 7. November 2024 zerplatzt. Die Umstände werden in den Niederlanden noch diskutiert. Wieder einmal. Anhänger des jüdischen Fußballclubs Maccabi Tel Aviv haben offenkundig eine palästinensische Fahne von einem Haus gerissen. Angeblich war das der Anlass für muslimische Jugendliche mit geringer Frustrationstoleranz für eine Hatz auf Juden durch die Straßen Amsterdams, bei denen am Boden liegende Personen getreten und auch Fußgänger überfahren wurden. Am Ende waren 30 Juden verletzt – und das alles wegen einer abgerissenen Fahne? Was glauben Sie denn?
Die Umstände in Amsterdam sprechen nicht unbedingt für einen spontan agierenden Mob. In Telegramgruppen hatte man sich offenkundig vorher schon verabredet. Und die Hetzjagd auf Juden geht in der Stadt der Grachten weiter. Wenige Tage später gab es „Juden-Geschwür“-Rufe und brennende Straßenbahnen. In Hannover soll ein Redner bei einer Demo im Rahmen einer Nahost-Friedensdemonstration die Taten von Amsterdam bejubelt haben. In Berlin werden jüdische Restaurants angegriffen. Juden trauen sich nicht, die Kippa zu tragen. Jüdinnen verstecken ihre Ketten mit der Magen David, dem Davidsstern, aus Angst vor Übergriffen. Ein solcher Davidsstern wurde auch an der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Elberfeld aus einem Banner herausgeschnitten.
Während Politikerinnen und Politiker längst nicht aller Parteien die zur Hohlphrase zu mutieren drohende Formel von der „Sicherheit Israels als deutscher Staatsräson“ eilfertig im Munde führen, ohne dass die Sicherheit der in Deutschland lebenden Juden gewährleistet werden kann, twittert die Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz, die sich mit 57 Jahren nicht mehr auf jugendlichen Leichtsinn berufen kann, das Bild eines Feuerinfernos, das mit großen Buchstaben „This ist Zionism“ tituliert ist. Das Leid der Menschen in Gaza groß. Es ist entstanden, weil die Hamas am 7. Oktober 2023 ein Massaker in jüdischen Kibbuzim und auf dem Super-Nova-Festival angerichtet hat, das in seiner Grausamkeit zeigt, dass es um die Vernichtung des jüdischen Volkes geht. Kein Staat der Welt, dessen Bürgerinnen und Bürger auf diese Weise niedergemetzelt worden wären, würde das hinnehmen. Es entsteht auch, weil sich die Hamas hinter den eigenen Zivilisten versteckt. Das aber wird bei allem berechtigen Anmahnen der Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerne immer wieder übersehen. Die Schuld für das Grauen in Gaza scheinen die Juden weltweit allein zu verantworten zu haben. Der Jude war immer schuld und er ist es, wenn man den irrlichternden Selbstgerechten in dieser Welt glauben darf.
Wie sonst ist es zu erklären, dass es in Brühl im Rahmen einer Gedenkveranstaltung zur Reichskristallnacht am 9.11.2024 zu einem Eklat kam, als eine Frau aufgefordert wurde, eine schlichte weiße Fahne mit einem von einem Herz umrandeten Davidstern und der Aufschrift „Wir schützen jüdisches Leben“, wieder einzupacken, weil das zu provokant sei. Der Davidsstern und die Aussage, jüdisches Leben zu schützen, stören in einer deutschen Stadt bei einem Gedenken an den Tag, als die Synagogen in Deutschland brannten. Die Brühler Bürgermeisterin und die Leiterin einer Brühler Gesamtschule solidarisieren sich. Als ein Journalist die Szene fotografieren will, wird er von Vertretern einer Initiative für Völkerverständigung, die das jüdische Volk offenkundig nicht miteinschließt, bedrängt, die Frau mit der Fahne entfernt sich aus der kritischen Situation.
Auch in Wuppertal muss man – obschon die israelische Stadt Beerscheba Partnerstadt ist – schwere argumentative Geschütze auffahren, damit die israelische Fahne bei Kundgebungen, die Israel und das jüdische Leben in Wuppertal unterstützen, auch am Rathaus weht. Immer wieder hört man, das könnte muslimische Mitbürger provozieren. Vielfach, ist das Gedenken an den Novemberpogrom von 1938, das in Wuppertal am 10.11. auf dem jüdischen Friedhof Weinberg begangen wurde, oft neben einem Foto, das halt Menschen zeigt, wenige Tage nach den pogromartigen Ereignissen von Amsterdam kaum mehr wert als eine schnöde Bildunterschrift.
Was ist los in diesem Land? Man fühlt sich den Juden nach dem, was im dritten Reich geschah, irgendwie verpflichtet. Man führt fahle Worte im Mund, redet von Staatsräson, „Nie wieder ist jetzt“ und ist routiniert betroffen. Solange den Worten keine wirklichen Taten folgen, ist das wohl nicht mehr als Heuchelei. Und so singt die Band Cora nur konsequent weiter:
„Traum von Amsterdam. Der die Hoffnung nahm. Allein in einer fremden Stadt. Allein in Amsterdam.“
Es ist zutiefst beschämend, dass wir in einem Land leben, in dem jede und jeder leben und sagen darf, was und wie er oder sie es will – solange man nicht zeigt, dass man Jude ist. Das ist so unvernünftig und töricht, dass man da wirklich zur Räson rufen muss! Aber die Vernunft hat es schwer in diesen Tagen … Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs steh uns bei!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 15. November 2024.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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