Dies Domini – 4. Sonntag der österlichen Bußzeit
Das Befinden changiert irgendwo zwischen Irritation, Verstörung, Desillusion und Belustigung. Mit dem Regierungsantritt von Donald Trump als Präsident der USA und seiner Administration sind die alten Gewissheiten innerhalb weniger Wochen aufgerieben worden. Möglicherweise entsprachen diese vermeintlichen Gewissheiten eher einem Wunschdenken, dass auf jenen Gewohnheiten beruhte, der große Bruder jenseits des Atlantik würde die kleine Schwester Europa schon beschützen, wenn es eng würde. Nun aber entpuppt sich der große Bruder als wenig zuverlässig, eitel, selbstsüchtig und unzuverlässig. Möglicherweise hätte man das schon lange ahnen können. Spätestens nach dem Ende des kalten Krieges hat sich der Abstand der Gesellschaften dies- und jenseits des großen Teiches schleichend vergrößert. Man denke nur an den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der 2003 die Weigerung Frankreichs und Deutschlands, die USA im Krieg gegen Saddam Hussein zu unterstützen, damit quittierte, dass „das alte Europa“ des Westens den Nationen des „neuen Europa“ des Ostens gegenüberstehe. Schon damals blickte man auf jenen Kontinent hinab, von dem man sich am 4. Juli 1776 mit der Unabhängigkeitserklärung befreit hatte. Europa war damals monarchisch geprägt; das neue Amerika wollte frei sein, demokratisch, modern. In der Nachkriegszeit hielten die USA – sicher nur aus moralisch-gutherzigen Gründen – ihre Hände über die westlichen Partner, auch um den großen Gegner Sowjetrusslands in Schach zu halten. Das alles ist Geschichte. Die Welt hat sich verändert. Der Blick der USA geht schon lange eher in Richtung Asien. Unter Donald Trump wird nun immer deutlicher, dass das Gewinnstreben die eigentlich Motivation ist. Der Dealer jenseits des großen Teiches ist nur am eigenen Erfolg interessiert. Im eingebildeten Wissen einer scheinbaren Stärke verprellt er ehemalige Verbündete, meldet verstörende Gebietsansprüche an, erhebt Zölle im Tagesrhythmus, die er kurz darauf wieder streicht. Kurz: Auf die USA ist kein Verlass mehr. Und doch zeichnete sich vieles schon ab. Für aufmerksame Beobachterinnen und Beobachter des Zeitgeschehens überrascht allenfalls die Überraschung vieler, die jetzt aus ihren Wolkenkuckucksheimen fallen und in Rekordzeit mündig werden müssen. Die kleine Schwester Europa muss sich selbst ermächtigen. Längst schon hätte sie erwachsen sein sollen …
Die kleine Schwester ist älter als der große Bruder. Der hat sich einst aufgemacht, um die Welt zu entdecken. Es ist ähnlich wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, das viele auch als Gleichnis vom barmherzigen Vater bezeichnen, das am vierten Sonntag der österlichen Bußzeit verkündet wird. Das Gleichnis ist sattsam bekannt. Der jüngere Bruder verlangt von seinem Vater das Erbteil und macht sich auf. Das ist unspektakulärer als es auf den ersten Blick aussieht. Nach jüdischem Erbrecht erhält der älteste Sohn den doppelten Anteil. So heißt es in der Thora, dass ein Mann, wenn er sein Erbe unter seinen Söhnen verteilt,
„den Sohn der geliebten Frau nicht als Erstgeborenen behandeln und damit gegen das Recht des wirklichen Erstgeborenen, des Sohnes der ungeliebten Frau, verstoßen. Vielmehr soll er den Erstgeborenen, den Sohn der Ungeliebten, anerkennen, indem er ihm von allem, was er besitzt, den doppelten Anteil gibt. Ihn hat er zuerst gezeugt, er besitzt das Erstgeborenenrecht.“ (Dtn 21,16f)
Der Nachgeborene im Gleichnis Jesu hätte also ohnehin nur Anspruch auf ein Drittel des Erbes, das er sich zudem vorher auszahlen lassen kann, um eine eigene Existenz aufzubauen. Dass der jüngere Sohn sein Erbteil verlangt, ist also nicht unüblich. Skandalös ist eher, wie er sein Erbteil nutzt. Er investiert es nicht, sondern er versäuft, verhurt und verschleudert es. Die Thora hat bei einem solchen Verhalten einen eindeutigen Rat:
„Wenn ein Mann einen störrischen und widerspenstigen Sohn hat, der nicht auf die Stimme seines Vaters und seiner Mutter hört, und wenn sie ihn züchtigen und er trotzdem nicht auf sie hört, dann sollen Vater und Mutter ihn packen, vor die Ältesten der Stadt und die Torversammlung des Ortes führen und zu den Ältesten der Stadt sagen: Unser Sohn hier ist störrisch und widerspenstig, er hört nicht auf unsere Stimme, er ist ein Verschwender und Trinker. Dann sollen alle Männer der Stadt ihn steinigen und er soll sterben. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Ganz Israel soll davon hören, damit sie sich fürchten. “ (Dtn 21,18-21)
Der Vater im Gleichnis Jesu aber handelt ganz anders. Er schenkt dem jüngeren Sohn, der sein Erbteil nicht nutzte, um Gutes zu schaffen, ein neues Leben. Er handelt nicht wie ein strenger Vater, der seinen Sohn züchtigt, sondern eher wie eine barmherzige Mutter, die ihren Sohn selbst dann noch liebt, wenn er den größten Mist gebaut hat. Kein Wunder, dass der ältere Sohn nicht fassen kann, dass der jüngere nicht nur eine neue Chance bekommt, sondern offenkundig wieder Erbe ist. Man kann ihn verstehen. Aber wie wird er reagieren? Wird er mitfeiern beim Fest des neu gewonnenen Lebens? Oder wird er gekränkt von dannen ziehen und verloren gehen? Lukas lässt das Ende des Gleichnisses offen. Was glauben Sie denn?
Der jüngerer Sohn ist gescheitert. Der andere hingegen hat die Freiheit nie gekostet. Ist er, obschon der ältere, wirklich erwachsen geworden? Ist er dem Leben gewachsen? Die an ihn im Gleichnis gerichteten Worte des Vaters lassen Zweifel aufkommen:
„Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein.“ (Lk15,31)
Er hat sich immer darauf verlassen können, gut versorgt zu sein. Der jüngere hingegen ist gescheitert, aber er hat das Leben gelernt, musste sich durchlagen. Im Scheitern ist er gereift und erwachsen geworden.
Diese Aufgabe stellt sich jeder Gesellschaft. Sie ist nicht leicht. Vor allem, wenn man sich an die gute Versorgung gewöhnt hat und glaubt ein Anrecht auf diesen Besitzstand zu haben. In der ersten Lesung vom vierten Sonntag der österlichen Bußzeit steht das Volk Israel vor dieser Aufgabe. Bevor Josua das Volk nach langer Wüstenwanderung in das gelobte Land und in den Kampf um Jericho führt, empfängt es beim Pessachfest das letzte Mal das Manna, jenes Himmelsbrot, das ihm in der Wüste das Überleben sicherte:
„Vom folgenden Tag an, nachdem sie von dem Ertrag des Landes gegessen hatten, blieb das Manna aus; von da an hatten die Israeliten kein Manna mehr, denn sie aßen in jenem Jahr von der Ernte des Landes Kanaan.“ (Jos 5,12)
Israel muss sich vom Rockzipfel Gottes lösen und erwachsen werden. Es muss von der eigenen Arbeit leben, um den Auftrag Gottes erfüllen zu können.
Genau vor dieser Aufgabe steht nun der ältere Kontinent. Er darf nicht länger die kleine Schwester sein, sondern muss sich seiner eigenen Kräfte erinnern. Es nutzt nichts, zu klagen. Es ist endlich Zeit, aufzustehen, sich aufzurichten und die Hände zu stärken. Schließlich war es die kleine Schwester, die als ältere den jüngeren Bruder, der groß geworden ist, mal groß gezogen hat. Man sollte den großen Bruder beizeiten daran erinnern. Es gibt keinen Grund für Europa, sich unnötig klein zu machen.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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