Eine Reportage: Über Peter und sein Herz, ein Leben nach dem Nahtod, Endorphin und Gott auf dem Laurentiusplatz
Von Øle Schmidt
»Ich will, dass du meine Beerdigung organisierst, ich vertraue dir.« Ein ansatzloser Haken in die Eingeweide raubt mir kurz die Luft. Eben noch war ich froh, überhaupt Peters Stimme am Telefon wiederzuhören. »Ja, klar«, stammele ich, »wie hättest du es denn gerne?« Er lacht kurz. »Du machst das schon. Keine Lust auf einen geschmacklosen Abgang.« Was passiert war? Am Tag nach dem Unfall ist es seltsam still im Kaffeehaus, unserem Wohnzimmer am Wuppertaler Laurentiusplatz. Peter ist an Tisch drei bewusstlos zusammengebrochen, sagt Christoph, als er den Espresso bringt. Hatte »so etwas wie einen Herzinfarkt«. Die Ärzte auf der Intensivstation geben ihm zwanzig Prozent. Falls er überlebt, braucht er ein neues Herz. Ende der Durchsage. Hinsetzen. Das Schild kurz nach der Autobahnausfahrt ist verwittert, kaum lesbar. »Roderbirken. Eine Klinik der deutschen Rentenversicherung«. Die Sonne wärmt, als ich Peter dort im Park treffe. Der Bau versprüht einen Siebziger-Jahre-Ost-Charme. Wer hat an der Uhr gedreht? Ich habe den Geruch von FDGB-Ferienheimen in der Nase. Ein guter Platz zum Entschleunigen, zur Rehabilitation. In Peters Brust wohnt jetzt ein kleines Kästchen, dessen Drähte sicherstellen sollen, dass es anspringt, wenn sein Herz wieder den Rhythmus verliert. Letzte Ausfahrt vor einer Transplantation. »Pathetisch betrachtet hat meine Tochter mir das Leben gerettet!«, Peters Blick ist klar, »alleine Zuhause wäre ich gestorben.« Weil er Rosa noch aus der Schule abholen muss, trinkt er an jenem Tag einen Tee im Kaffeehaus, obwohl ihm Hundeelend ist. Der Krankenwagen ist schnell da. Das Gerät zeigt an: kein Puls! »Ich war Tod. Zumindest klinisch.« Während die Crew im Krankenwagen um Peters Leben kämpft, ist der zwar bewusstlos, aber nicht ohne Bewusstsein. Auch wenn sein Herz nicht schlägt, sein Geist ist wach. In seinem Film ist der Laurentiusplatz eine blühende Wiese. »Ich saß dort in der Mitte, ihr alle um mich herum, Freunde, die Frauen, die ich geliebt habe, meine Tochter.« Peter atmet schwer. »Ich hatte ein Glas Wein in der Hand, wie immer mit Eiswürfeln. Wir alle waren verbunden, haben uns ausgetauscht, ohne Worte.« Tränen verzweigen sich in Peters tiefen, schwarzen Augenrändern. »Ich habe mich wie ein Tropfen im Meer gefühlt, wunderschön.« Hinter uns plätschert ein Springbrunnen. Peter zuckt mit den Schultern, wie jemand, der sich über sich selbst wundert.
Nächste Inkarnation, Gotteserfahrung? Oder doch ein Endorphin-Cocktail?
Mystische Einheitserfahrung oder Erfahrung göttlicher Potenz? Übergang in die nächste Inkarnation oder Übergang ins nächste Level, diesseits? Ein astraler Ausritt aus dem Körper oder etwa doch nur, ganz profan, eine Überdosis Endorphine in eben diesem Körper, wie Schulmediziner felsenfest glauben? Allein die unterschiedlichen Deutungen einer Nahtoderfahrung zeigen, wie sehr Auslegungssache ist, was leichtfertig Realität genannt wird, um dann oftmals kurzerhand zur letzten Wahrheit verklärt zu werden. Doch letztlich steht wohl die persönliche Erfahrung, wenn Menschen wie Peter auf dieser Null-Linie zwischen Leben und Tod balancieren, auf der kein Herzschlag mehr gemessen werden kann; zählt womöglich die Integration dieser Erfahrung in das neue, alte Leben. »Das war kein Traum! Es floss Liebe. Entweder war das eine ganz vorzügliche Droge, oder es war wirklich ein Übergang.« Peter strahlt wieder. Raum und Zeit jedenfalls haben sich längst aufgelöst für Peter, drei Wochen zuvor bei seinem physischen Tod, der sich damals selbst beobachten kann. »Dann habe ich mich von euch verabschiedet, und bin aus meinem Kopf ausgetreten.« Wir müssen beide lachen. »Ärgerlich«, sage ich, »da ist tatsächlich für einen Wimpernschlag die Trennung zwischen uns Menschen aufgehoben, unter der wir alle so leiden. Und wir sind ausgeschlossen von dieser Erfahrung, obwohl wir dabei waren.« Peng! Peng! Peng! Peng! Peng! »In Höhe des Kirchenkreuzes bin ich dann von diesen mörderischen Erschütterungen in meiner Brust wach geworden«, sagt Peter, »leider im Krankenwagen.« Nach fünf Stromschlägen eines Defibrilatoren haben sie Peter in sein altes Leben zurückgeholt. Für die Ärzte ist es eine schweißtreibende, irdische Minute. Peter erlebt drei, vier Stunden, die ihn verändern. »Ich wollte wieder zurück! Der Tod war das Schönste, was ich bislang in meinem Leben erfahren habe.« Ich begleite Peter zu seiner täglichen Fitnesseinheit. Im Treppenhaus stieren uns große Bullaugen an, Türen öffnen automatisch. »U59 Ergometertraining«. Peter klebt drei Elektroden auf seine Brust. Schwarz. Rot. Gold. Sie messen seine Herzleistung, während er auf einem Fahrrad trampelt, ohne von der Stelle zu kommen. »Tempo 50-60« mahnt ein Schild die Reha-Patienten. »Ich habe meine Angst verloren«. Peter spricht leise. »Seit meinem Nahtoderlebnis fürchte ich mich nicht mehr, alleine zu sein, oder kein Geld zu haben. Erstaunlich!« Als Peter verkabelt auf der Intensivstation seinen Lieblingssong von Mando Diao hört, ist für ihn klar, »all das, was jetzt noch kommt, sind Bonustracks.« Merkwürdig, dass er vor seiner Impfung mit Urvertrauen erst sterben musste. Wieder müssen wir lachen, wie so oft an diesem Nachmittag. Auf dem Weg zum Ausgang will Peter im Keller vorbeischauen. »Da muss die Pathologie sein.« Der Fahrstuhl stoppt. Jetzt sind wir alleine. Seltsam antiseptisch riecht es, nach Sauerstoff minus Keimen. Die erste Tür geht auf, die nächste auch. »K44 L-Halle«. Die Leichen-Halle. Peter dreht den Knauf. »Schade«, sagt er, »sie ist verschlossen.« Kabel hängen von der Decke. »Beschwör’ es nicht«, merke ich an. »Diese Tür öffnet sich noch früh genug.«
Author: Oele Schmidt
Der Journalist Øle Schmidt lebt und arbeitet in Lateinamerika und Deutschland.
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