Form follows function – ein Traditionsprinzip – Dies Domini – 15. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Es ist bisweilen eigentümlich, wie sehr sich Traditionalisten und Progressive in manchen Punkten einig sind. In der katholischen Kirche gehört zu diesen Themen die Frage des Kirchenrechtes, das offenkundig eine nicht zu hinterfragende Instanz ist. Unabhängig davon, dass auch das Kirchenrecht das Ergebnis einer Entwicklung ist, und unabhängig davon, dass Institutionen sicher einen entsprechenden Rahmen benötigen, der sich auch rechtlich manifestiert, muss doch festgestellt werden, dass das Kirchenrecht die Form festschreibt, noch nicht den Inhalt. Speziell beim Kirchenrecht von 1983, das sich im sogenannten Codex Iuris Canonici (CIC) 1983 findet, wird das deutlich. Hier wurden die theologischen Erkenntnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils umgesetzt, die eine Reform das CIC von 1917 nötig machten. Was den einen wie den anderen wohl schwer im Magen liegt, ist die grundlegende Veränderbarkeit des rechtlichen Rahmens der Kirche. Der alte, von dem Bildhauer Horatio Greenough stammende Satz „Form follows function“ (FFF) gilt offenkundig in seiner ganz eigenen Weise auch hier.
Wie könnte das auch anders sein. Die alte Botschaft des Evangeliums muss in alle Zeiten und Kulturen hinein neu verkündet werden. Der Inhalt ist nicht veränderbar, wohl die Form. Die Form muss zeit- und kulturgemäß sein, soll die Kommunikation zwischen Verkünder und Hörern gelingen. Genau darin ist die Tradition begründet. Tradition ist kein Zustand, schon gar kein Inhalt. Tradition, das ist ein Vorgang. Es ist die Weitergabe der Botschaft von Generation zu Generation. Wer hier einen Zustand als endgültig festschreiben möchte, handelt nicht nur willkürlich; er verweigert auch das, was er festhalten möchte: die Weitergabe, das heißt, die Tradierung des Glaubens. Zu Recht stellt deshalb Karlheinz Ruhstorfer in seinem eben erschienen Buch „Glaube im Aufbruch“ fest:
„Ohne jeden Zweifel muss die Katholische Kirche ihrer Tradition treu bleiben, doch impliziert Treue zur Tradition gerade die Pflicht zur Veränderung.“ (K. Ruhstorfer, Glaube im Aufbruch. Katholische Perspektiven, Paderborn 2013, S. 167)
Als größter Feind der Tradition enttarnen sich damit die Traditionalisten selbst. Ihr Hang zur Festschreibung des Glaubens in Rechtsnormen und dogmatischen Formeln macht den Glauben blutleer. Ein Katechismus enthält sicher die Darstellung der Fülle des Glaubens. Worte des ewigen Lebens aber sehen anders aus.
Es ist bezeichnend, dass Jesus selbst keine Satzungen für seine Jüngerschaft entworfen hat. Von ihm wurden auch keine Glaubensformeln überliefert. Und von einem Kapharnaumer Katechismus ist nichts bekannt. Stattdessen hat man Worte weitergegeben. Geschichten wurden von ihm erzählt – solche über ihn und solche, die von ihm stammen.
Es sind Geschichten, mit denen das Wesen eines Menschen mehr erfasst werden kann als alle Daten und Fakten über ihn. Es sind Geschichten, mit denen Menschen ihr Wissen von Generation zu Generation weitergegeben haben. Es sind die Traumpfade und Mythen, die über Generationen hinweg lebendig bleiben und die Welt begreifbar machen. Es sind die Märchen und Sagen, die die Wahrheit besser wiedergeben können als eine wissenschaftlich korrekte Beschreibung. Es die Legenden und Epen, die eine Person in dem ihr angemessenen Licht besser darstellen als ein korrekter Lebenslauf.
Die frühen Christen haben ein gutes Gespür bewiesen, als es galt, den Glauben an die Generation weiterzugeben, die Jesus, der am Kreuz starb und von den Toten auferstanden ist, nicht mehr persönlich kannte. Man verfasst keine Dogmen, sondern erzählte in Geschichten seine Worte und Taten. Als Evangelium schrieb man sie auf.
Eine solche Geschichte erzählt Jesus auch im Evangelium vom 15. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C. Es ist ein Gleichnis, also eine symbolische Erzählung, die die Zuhörer motiviert, selbst Stellung zu beziehen. Jesus gibt nicht einfach die richtige Antwort auf die Frage des Pharisäers, wer denn der Nächste sei. Er erzählt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Die Antwort muss der Zuhörer selbst geben. Das ist sehr demokratisch und gar nicht oberlehrerhaft. Jesus mutet den Zuhörern damals und heute zu, die Antwort selbst zu finden.
Das Kirchenrecht ist kein Evangelium. Das Gesetz ist der Mensch und nicht toter Buchstabe. Wie lebendig wäre die Kirche, würden die Christen wieder lernen, Geschichten zu erzählen. Die Weitergabe des Glaubens wird gelingen. Es lebe die Tradition!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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