„Es war einmal“ – so fangen gewöhnlich Märchen an. Jedem, der sie hört oder liest, ist klar: Das, was jetzt kommt, ist so nicht geschehen; aber das was erzählt wird, besitzt trotzdem Wahrheit. Es ist eine Wahrheit, die tiefer liegt als das bloß Sicht- und Messbare. Es ist die Moral von der Geschichte. Es ist eine ethische Wahrheit. Märchen sind wahr und wirklich. Sie wirken, weil Geschichten mehr erinnert werden können als Lehren.
„Es war einmal“ – mit diesen Worten beginnt auch das Evangelium des 26. Sonntags im Jahreskreis des Lesejahrs C nach der Einheitsübersetzung. Wörtlich übersetzt müsste der Anfang heißen: „Es war ein gewisser Mensch.“ Die Einheitsübersetzung liegt trotzdem auf der richtigen Linie. Denn die Geschichte, die Jesus erzählt, ist eingebettet in einen Dialog, den er mit den Pharisäern im Anschluss an seine Mahnung führt, man könne nicht zwei Herren dienen, Gott oder dem Mammon. Von denen, mit denen Jesus spricht, wird gesagt, sie hingen am Geld und lachten über Jesus (vgl. Lukas 16,14). Jesus hält ihnen ihr bigottes Verhalten entgegen:
Ihr redet den Leuten ein, dass ihr gerecht seid; aber Gott kennt euer Herz. Denn was die Menschen für großartig halten, das ist in den Augen Gottes ein Gräuel. (Lukas 16,15)
Daran schließt sich ein kurzer Exkurs über die Gültigkeit des Gesetzes an, dessen Zeit mit Johannes – gemeint ist Johannes, der Täufer – zu Ende ging; jetzt ist die Zeit des Reiches Gottes. Das Gesetz aber vergeht nicht. Die, die sich auf das Gesetz berufen und glauben, ihr Wohlstand zeige an, wie sehr Gott sie für das Befolgen des Gesetzes belohne, werden die Folgen des Gesetzes zu tragen haben.
Das ist eine steile These, die Jesus aufstellt; eine These, die begründet werden muss. Statt jetzt aber in rechtsphilosophische oder dogmatisch-theologische Argumentationen und Streitereien einzutreten, erzählt Jesus eine Geschichte. Es ist kein Gleichnis, sondern ein erzähltes Lehrstück – eine Geschichte, von der man noch Generationen später hören wird: Die Geschichte vom reichen Menschen und dem Armen Lazarus, der in den Armen Abrahams selig wird, während der Reiche seine Chance verpasst hat.
Nimmt man die Geschichte aus dem Zusammenhang des Lukasevangeliums, dann gewinnt man schnell den Eindruck, Jesus wende sich gegen den Reichtum an sich. Das aber kann man so nicht sagen. Es geht eher um die Frage, wie der Reiche mit seinem Reichtum umgeht. Lazarus würde ja gerne seinen Hunger mit dem stillen, was vom Tisch des Reichen herunterfällt. Aber selbst scheint ihm nicht gegönnt zu werden. Es ist nicht der Reichtum, der verwerflich ist, sondern der Geiz, der nach immer mehr Reichtum giert. Die, zu denen Jesus spricht, sahen in ihrem Reichtum einen Ausweis der persönlichen Belohnung Gottes für ihre Gesetzesgerechtigkeit. Je mehr Reichtum, desto mehr Lohn. Die darin verborgene Ich-Bezogenheit macht blind für die Not der anderen.
Die Geschichte macht eine scharfe Wendung. Sowohl der Reiche als auch Lazarus sterben. Während aber der Reiche in der Unterwelt an dem, was er in dem irdischen Leben nicht getan hat, leidet, wird Lazarus in Abrahams Schoß selig.
Die Nennung Abrahams scheint auf den ersten Blick merkwürdig. Wie kommt der Urvater aller Glaubenden in diese Geschichte. Des Rätsels Lösung findet sich in Genesis 15,3. Dort heißt es im Zusammenhang des Bundesschlusses zwischen Gott und Abraham:
Das Wort des Herrn erging in einer Vision an Abram: Fürchte dich nicht, Abram, ich bin dein Schild; dein Lohn wird sehr groß sein. Abram antwortete: Herr, mein Herr, was willst du mir schon geben? Ich gehe doch kinderlos dahin, und Erbe meines Hauses ist Eliëser aus Damaskus. Und Abram sagte: Du hast mir ja keine Nachkommen gegeben; also wird mich mein Haussklave beerben. Da erging das Wort des Herrn an ihn: Nicht er wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein. (Genesis 15,1-4)
Lazarus ist die griechische Form des hebräischen Namens Eliëser. Es besteht also eine Beziehung zwischen Abraham und Lazarus. Aber die Beziehung wird gewandelt. Aus dem Haussklaven, dessen niedrige Existenz von dem Lazarus in der jesuanischen Erzählung noch gesteigert wird, wird einer, der Sohnschaftsrechte genießt. Lazarus tritt im Himmel das Erbe an, das er auf Erden nicht erhalten konnte, weil Abraham den von Gott verheißenen Sohn bekam.
Die Lazarusgeschichte ist eine Geschichte von der Gerechtigkeit. Das Gesetz hat Gott seinem Volk um der Gerechtigkeit willen gegeben. Wer aber glaubt, durch Beachtung des Gesetzes gerecht zu werden und nur an der eigenen Gerechtigkeit interessiert ist, missversteht das Gesetz. Nicht Selbstgerechtigkeit ist das Ziel des göttlichen Gesetzes, sondern Gerechtigkeit für alle. Das Reich Gottes schafft Gerechtigkeit für alle. Wer da nur auf sein eigenes Wohlergehen schaut, verfehlt die Gerechtigkeit, die er sucht.
Der primäre Ort der Gerechtigkeit Gottes ist die Welt und nicht das Jenseits. Hier gilt es Gerechtigkeit zu leben. Und eben diese Gelegenheit hat der reiche Mensch in seiner Selbstgerechtigkeit verpasst. Hätte er doch nur anders gehandelt! Aber der Konjunktiv ist der Feind des Handelns. Da aber, wo die Gerechtigkeit in der Jetztzeit verwehrt bleibt, gilt die Verheißung der endgültigen Gerechtigkeit im Angesicht Gottes.
Die Moral von der Geschichte des Lazarus führt zur Erkenntnis der Wahrheit, dass jetzt die Zeit ist, Gerechtigkeit zu üben. Wer nur auf seine eigene Berufung schaut, wird in der eigenen Eitelkeit gefangen bleiben. Das Ziel der Gerechtigkeit Gottes ist nie das eigene Selbst, sondern der Andere. Auserwählt zu sein, kann sich daher bisweilen wie bei dem reichen Menschen als Illusion entlarven, denn Gott begegnet vor allem im anderen. Dazu darf man nicht in den Himmel schauen, sondern in die Augen der Mitmenschen. Jetzt ist die Zeit dazu!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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