Dies Domini – 4. Sonntag der Osterzeit, Lesejahr A
Das Glück ist eine scheue Gefährtin. Der Mensch sehnt sich danach. Wer es empfindet, kann es doch nicht halten. Glück zu haben, es zu besitzen, ist nicht möglich. Vielleicht ist die Sehnsucht nach der Glückseligkeit der Grund für die Suche nach dem Paradies auf Erden. Freilich muss jeder Versuch scheitern, ein solches Paradies zu schaffen. Allein die historischen Versuche der Errichtung solcher Paradiese zeigen, wie schnell die Glücksversprechen in der Hölle totalitärer Systeme enden. Allzu viele fielen denen zum Opfer, die ihr eigenes Glück im Feuer menschlicher Verheißungsgläubigkeit schmiedeten. Mit schmeichelnder Stimme versprechen sie das Paradies, rauben aber vielen Zukunft und Leben. Man muss schon wie Odysseus fest an den Mast unverrückbarer Prinzipien gebunden sein, um solchem Sirenengesang zu widerstehen.
Die Gegenwart ist wie manche Zeit zuvor von einem Gewirr der Stimmen geprägt. Einen Nachricht jagt die andere. Das Ende der Welt liegt im eigenen Wohnzimmer. Und über die sozialen Netzwerke wie Twitter und Facebook lassen uns Freunde an jeder kleinen Banalität ihres Lebens teilhaben: „Bin gerade in den Zug gestiegen“, „Fahre los“, „Halte in Köln, viel los auf dem Bahnsteig“, „Fahre weiter“ usw. usw. Wer da nicht mitmacht, ist schnell als „tweetfaul“ verschrien.
Man fragt sich unwillkürlich, ob diese Menschen die reale Wirklichkeit noch erleben. Wer heute einen Film schaut, muss ihn per second Screen parallel kommentieren. Und so lesen viele, was sie doch gerade selbst sehen können. Pandemisch greift die Banalität dieser Paralelluniversen um sich. Verflucht – wer hier nicht mitredet, ist draußen. Es ist schon fast asozial, in den sozialen Netzwerken nicht mitzumachen. Und wer in der Timeline oben sein will, der muss ständig neu posten. Der Auswurf ist mächtig und die Logorrhöe greift um sich. Das Stimmengewirr schwillt zu einem großen digitalen Tinnitus an, einem pfeifenden Versprechen irdischen Glücks, dessen Symbol aus einem Doppelpunkt und einer Klammer besteht und so als Smiley in die Welt strahlt: :).
Dass dieses Phänomen nicht wirklich neu ist, lässt sich zwischen den Zeilen des Evangeliums vom vierten Sonntag der Osterzeit im Lesejahr A erkennen. Jesus erzählt zuerst ein Gleichnis:
Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter, und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen. (Johannes 10,1-5)
Als die Jünger den Sinn des Gleichnisses nicht verstehen, fügt Jesus hinzu:
Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. (Johannes 10,7-10)
Es obliegt also den einzelnen Menschen, die Stimmen zu unterscheiden. Menschen sind nicht nur für das verantwortlich für das, was sie sagen; sie tragen auch die Verantwortung für das, was und wie sie etwas hören. Die Stimmen zu unterscheiden ist die Aufgabe jedes einzelnen.
Eine Zumutung ist das. So kann sich doch niemand mehr herausreden, er hätte dieses oder jenes gehört: Der oder die hat doch dies oder das gesagt.
Tatsächlich kann man das, was andere Leute sagen, nicht verhindern. Die Interpretation, Deutung und Einordnung dessen, was gesagt ist, bleibt aber jedem Hörer (und Leser) aufgetragen. Davon kann sich niemand befreien.
Dabei steht einiges auf dem Spiel. Wer den Falschflüsterern folgt, wird oft schneller seiner Illusionen beraubt, als ihm lieb ist. Demgegenüber verspricht Jesus denen, die ihm folgen eine Leben in Fülle.
Ein Leben in Fülle – das hört sich schon wieder sehr nach Paradiesverheißung an. Und tatsächlich gibt es nicht wenige Jesusjünger – damals und heute -, die den Ernst dieser Worte unterschätzen. Jesus definiert hier nicht, was das Leben in Fülle ist. Oberflächlich betrachtet steht diese Verheißung in engem Zusammenhang mit der Reich-Gottes-Botschaft. Wer Jesus folgt, wird des Reiches Gottes teilhaftig. Die Kirche wird dann schnell zum irdischen Abbild des göttlichen Reiches. Katholiken- und Weltjugendtage, Heiligsprechungen und andere Großveranstaltungen werden dann zu einem farbenfrohen Fanal christlicher Begeisterung, die ihren Ausdruck in gemeißelt grinsenden Gesichtern findet. Das Reich Gottes ist nahe, und wir sind mitten drin.
Erstaunlich ist allerdings, dass die frühesten Christen wenig vom Reich Gottes sprachen, viel hingegen von dem am Kreuz Leidenden und Sterbenden, der schließlich doch von den Toten auferstand. Im Mittelpunkt der christlichen Botschaft steht nicht zuerst das Reich Gottes, sondern Kreuzestod und Auferstehung Jesu. Sie werden von den frühen Christen in zahlreichen Liedern besungen, von denen einige im Neuen Testament überliefert wurden. Eines wird am vierten Sonntag der Osterzeit des Lesejahres A in der zweiten Lesung verkündet:
Christus hat für euch gelitten
und euch ein Beispiel gegeben,
damit ihr seinen Spuren folgt.
Er hat keine Sünde begangen,
und in seinem Mund war kein trügerisches Wort.
Er wurde geschmäht,
schmähte aber nicht;
er litt, drohte aber nicht,
sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.
Er hat unsere Sünden mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen,
damit wir tot seien für die Sünden
und für die Gerechtigkeit leben.
Durch seine Wunden seid ihr geheilt.
(1 Petrus 2,21-24)
Das Leben in Fülle hat, wer sich an den Mast der Kreuzesbotschaft bindet, wer sich festmacht an Kreuz, Tod und Auferstehung Jesu. Erst von hier aus wird Gerechtigkeit möglich.
Kreuz, Leiden und Tod – das sind noch keine Freudenbotschaften. Tatsächlich stirbt Jesus als Gescheiterter. So haben es auch seine Jünger empfunden, die angesichts seiner Verhaftung panisch die Flucht ergreifen und sich von ihm lossagen. Mit dem Scheitern Jesu scheitert aber auch seine Reich-Gottes-Predigt. Sie hat nicht dazu geführt, dass sich die Menschen mit ihm solidarisieren. Der Euphorie des Anfangs, als Jesus im galiläischen Frühling die Menschen mit seiner Botschaft begeisterte, folgt die Krise, als sich viele nach der ersten Hochstimmung abwenden. Der Alltag wartete halt. Die Krise führt schließlich in das Scheitern am Kreuz.
Mit der Erfahrung des Auferstandenen verändert sich für die Jünger Jesu die Perspektive. Sie brauchen Zeit, das Unerhörte zu verstehen: Der, der als Gottverlassener starb, wird von Gott auferweckt. Von der Auferstehung her wird nun auch die Botschaft Jesu neu gehört und gelesen. Der 1999 verstorbene Neutestamentler Helmut Merklein hat in seiner Dissertation herausgearbeitet, dass die Reich-Gottes-Botschaft tatsächlich die innere Mitte der Verkündigung Jesu in Wort und Tat war. Bedeutung aber erhält sie erst von Kreuzestod und Auferstehung her.
Bei genauerem Hinsehen ist es aber vor allem die Art des Leidens und Sterbens, die die frühe Verkündigung prägte. Die frohe Botschaft ist eben keine banale Botschaft. Sie ist eine Botschaft, für die einer gestorben ist und für die noch viele andere ihr Leben lassen werden. Wer diese Botschaft ernst nimmt, wird das Reich Gottes nicht auf farbenfrohen Kirchentagen, bunten Gottesdiensten und anderen schrillen Versuchen, das Paradies dingfest zu machen, finden. Wer die Botschaft Jesu ernst nimmt, der wird das Reich Gottes in der Grauheit des Alltags finden, bei den Armen und Gefallenen, bei denen, die man schnell als Sünderinnen und Sünder bezeichnet – auch wenn man diese Wort heute so nicht mehr sagen würde. Das Leben in Fülle wird ihnen verheißen, nicht denen, die hüpfend, tanzend und mit erhobenen Händen Halleluja singend hilflos in Ekstase zu geraten versuchen um der Illusion einer Erfahrung Gottes zu erliegen, den sie im Nächsten längst hätten erblicken können. Nicht umsonst heißt es in den Seligpreisungen der Bergpredigt:
Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehrt das Himmelreich. (Matthäus 5,3)
und:
Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. (Matthäus 5,10)
Das Reich Gottes ist nichts für Sucher flüchtiger Glückserfahrungen. Die Fülle des Lebens kann nur empfangen, wer sie anderen bringt – so wie Jesus selbst sie bringt und nicht behält. Das Reich Gottes besteht eben nicht aus einem Doppelpunkt und einer Klammer. Es besteht aus einem Kreuz, an dem man stoßen und leiden kann. Am Kreuz aber kann man sich auch fest machen, um dem Stimmengewirr der Zeit nicht zu erliegen. Wer diesen Halt verliert, wird sich im Gesang der modernen Sirenen verlieren. Er wird das Reich Gottes nicht finden können.
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Ah, hier geht’s weiter 😉 Sie haben mal einen äußerst guten Beitrag zum jüdischen Opferbegriff gebracht, ich erinnere nur noch, dass Opfer eine Art unverdiente Spende sei, ein gegenüber dem Germanischen positiv besetzter Begriff (hoffe, ich erzähle jetzt hier keinen Unsinn, sie werden mich korrigieren!). Ich habe immer noch ein Problem mit DIESER Art von Kreuzestheologie, in der das Kreuz letztendlich dann doch Wille Gottes ist, sein Sohn germanisch (?) geopfert wird. Ist nicht die Menschwerdung samt Menschentod die Spende Gottes, die den Menschen Gott offenbart bis in die Auferstehung? Und nein, ich will das Kreuz nicht wegschieben, es ist und war real. Aber kann es nicht auch als Symbol für die historische Konsequenz der Menschwerdung gelesen werden? Aber vielleicht ist das auch Haarspalterei?
Die biblische Kreuzestheologie setzt den jüdischen Opfergedanken ja nicht außer Kraft. Im Gegenteil! Sie dient als Interpretament des Kreuzestodes Jesu. Sie haben völlig Recht: Rein historisch mag es jede Menge anderer Möglichkeiten für Jesus gegeben haben. Das ist gar nicht so abwegig. Nach der sog. „Tempelreinigung“ etwa versteckt er sich in Bethanien und entzieht sich so dem Zugriff der Tempelpolizei. Auch der sog. Verrat des Judas gehört hierhin: Man wusste eben nicht, wo Jesus sich aufhielt, weil er sich versteckte. Über die Motive des Judas kann man lange streiten. Manche Exegeten gehen sogar soweit, dass Jesus Judas beauftragt hätte. Das alles bleibt aber mangels entsprechender Quellen reine Spekulation.
Was feststeht ist, dass wir im NT eine Linie der nachösterlichen Interpretation der Ereigniss vorliegen haben. Es gibt andere Varianten, die teilweise in den Apokryphen vorliegen. Die ersten christlichen Jahrhunderte waren von einem intensiven Streit geprägt, in dem unter anderem die Position, Jesus sei gar nicht am Kreuz gestorben, durchaus machtvoll vertreten wurde (Doketismus).
Für die christliche Theologie prägend geworden ist die ntl. Linie. Sie sieht nachösterlich im Kreuzestod eine Notwendigkeit, mit der der Sohn Gottes die Sünde besiegt hat. Das „Opfer“ im jüd. Verständnis besteht dann gerade darin, dass in Kreuzestod und Auferstehung deutlich wird: Weil Jesus wie ein Gottverlassener und wie ein Sünder stirbt, trotzdem aber von Gott von den Toten auferweckt wird, gilt dies jetzt prototypisch für alle: Selbst die absoluten Sünder werden von Gott nicht fallengelassen. Darin besteht das „Opfer“ als In-Beziehung-Treten zu Gott.
Nur so ergibt das Kreuz einen Sinn. Nur so kann die zeitgeschichtlich späte Paradoxie zwischen Vorherbestimmung und freier Entscheidung aufgelöst werden. Kreuz und Auferstehung werden zum Symbol der Liebe Gottes – aber nur in der Zusammenschau Kreuz und Auferstehung.
In gewisser Weise haben Sie deshalb Recht, wenn Sie da als symbolische Konsequenz der Menschwerdung lesen. Gott wird Mensch, um gerade diese Totalidentifikation aufzuzeigen. Für Menschen, die von einer grundlegenden Trennung zwischen Gott und Mensch ausgingen, die durch menschliches Handeln überwunden werden muss (Halten der Tora als Zeichen der Gerechtigkeit), ist gerade das das Novum. Selbst die Umkehrpredigt Johannes‘ des Täufers war noch in diesem alten Denken behaftet. Erst die christliche nachösterliche Kreuzestheologie löst dieses Dilemma auf: Weil der Sohn Gottes wie ein Sünder stirbt und aufersteht, können jetzt selbst die Sünder Hoffnung haben.
Wer hier nachträglich, wie es bisweilen auch in der kirchlichen Verkündigung geschehen ist und geschieht, immer noch denkt, man müsse sich die Gnade Gottes verdienen, hat nicht nur die Botschaft des Kreuzes missverstanden – er hängt auch dem germanischen Opfergedanken an, bei dem die Gottheit durch Opfer gnädig gestimmt werden muss. Gerade das sagt die Botschaft vom Kreuz aber nicht aus.
Das ist beileibe keine Haarspalterei, wie die vielen erkennen lassen, die durch ein falsches Opferverständnis in eine falsche Gottesangst geraten. Die Menschwerdung Gottes und die theologische Konsequenz des Kreuzestodes und der Auferstehung sind eng verwoben. Dass hinter diesem historischen Faktum auch andere Möglichkeiten denkbar gewesen wären, sei dahin gestellt. Die Geschichte weist allein dieses Faktum auf, mit dem sich insbesondere die ntl. Theologen auseinandersetzen mussten – eine Auseinandersetzung, die bis heute nicht frei von Spannungen ist. Allein das zeigt schon, dass die Rede von der „Vorherbestimmung“ in sich divergent ist. So lange man interpretieren kann, ist auch die Vorherbestimmung ein Interpretament von mehreren. Auch das zeigt aber schon das NT.
Vielen Dank für die sehr ausführliche und überzeugende Antwort!