Dies Domini – 19. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Das Auge gehört sicher zu den komplexesten Organen, die die Evolution hervorgebracht hat. Die Komplexität dieses Organs, die Umwandlung photonisch-physikalischer Impulse in elektrische Signale, die das Gehirn als Bilder wahrnimmt, ist für sich genommen schon eine Herausforderung. Der Mensch ist zwar in der Lage, die optischen Signale als solches in Film und Foto zu fixieren. Die vitale Qualität des Reiz-Reaktions-Schemas und die menschliche Fähigkeit, die optischen Reize mit Bedeutung zu versehen, ist bisher nicht künstlich zu reproduzieren. Nicht selten ist es daher gerade die Komplexität des Auges, die angesichts dieses Meisterwerkes der Evolution vor die Frage führt, ob ein solches Organ wirklich nur ein Produkt des Zufalls sein kann.
Das Auge versetzt den Menschen in die Lage, die Farben und Formen der Welt wahrzunehmen. Er erkennt die Vielfalt und Buntheit der Welt, in der er seinen Platz finden muss. Sehen und Erkennen werden nicht umsonst in der deutschen Sprache synonym verwendet. Allein der Aspekt des Erkennens zeigt schon, dass „Sehen“ nicht nur ein optisches Phänomen ist. Man muss nicht physikalisch sehen können, um Erkenntnis über die Vielfalt der Welt zu erlangen.
Um so erstaunlicher ist es, dass viele Menschen – nicht nur in der Gegenwart – offenkundig nur zu einem Denken in Schwarz-Weiß-Mustern in der Lage sind. Grauabstufungen und Buntheit sind wohl zu komplex und überfordern das eigene, selbstgestrickte Weltbild. Eine Welt, die in Freunde und Feinde aufgeteilt ist, ist leichter zu beherrschen als eine differenzierte Welt, in der man seinen eigenen Standpunkt immer wieder selbst in Frage stellen muss. Eine bunte Welt fordert intensive Kommunikationen, ständige neue Selbstvergewisserungen, weil nichts so scheint, wie es eben noch aussah. Eine bunte Welt fordert ständige Evolution, Weiterentwicklung des Selbst. Das ist anstrengend und herausfordernd. Manch einer möchte da doch lieber weiter bei seinen einfachen Denkmustern bleiben.
Das erlebt unser Land auch jetzt wieder. Die gegenwärtigen Krisen und Konflikte der Welt sind medial präsent. Sie gehen uns etwas an. Sie werden in unsere Gesellschaft hineingetragen. Und wo differenziertes Hinsehen notwendig wäre, greifen viele zu vorgefertigten Schwarz-Weiß-Mustern.
Insbesondere der Konflikt zwischen den Palästinensern in Gaza und dem Staat Israel führt zu groben Vereinfachungen. Wie Kinder im Sandkasten streiten die Kontrahenten hierzulande über die Frage, wer angefangen hat. Gegenseitige Schuldzuweisungen verhindern ein gegenseitiges Zuhören. Schlimmer noch: Die allgegenwärtige Gefahr der Generalisierung greift wie eine Seuche um sich. Plötzlich ist jeder Muslim ein Palästinenser und jeder Jude ein Israeli. Es wird nicht mehr nur nicht zwischen Politik und Religion unterschieden; die Verantwortung für das, was in Gaza und Israel geschieht, wird denen, die in dieser Gesellschaft leben, angelastet – ob sie überhaupt jemals in Gaza oder Israel waren, tut da ebenso wenig etwas zu Sache, wie die Frage, ob Israel sich überhaupt als jüdischer Staat versteht.
Vor allem das Ressentiment gegenüber den Juden ist alt. Ein Blick in die Christentumsgeschichte zeigt, dass Christen hierfür nicht ohne Verantwortung sind. Wohlgemerkt: Christen, nicht das Christentum – um die Gefahr einer vorschnellen Generalisierung beim Namen zu nennen.
Der Grund für die Entwicklung liegt in einer ekklesialen Kränkung, die im Neuen Testament an vielen Stellen spürbar ist und die die theologischen Auseinandersetzungen des ersten christlichen Jahrhunderts geprägt hat. Sie hat ihre Wurzeln in der Praxis der Heidentaufe, die von Antiochia – in der Zeit der Urkirche dem zweiten Zentrum neben Jerusalem – ausging. Während die Jerusalemer Urgemeinde daran festhielt, nur Juden zu taufen, begann man in Antiochia, auch Unbeschnittene durch die Taufe aufzunehmen. Die Christen verstanden sich dabei noch nicht als eigenständige Kirche. Sie verstanden sich als Teil des Judentums, als Teil derer, die den einen Gott verehrten. Sie gehörten freilich zu denen, die in Jesus den Messias erkannten. Andere Juden taten das nicht. Das war an sich nicht das Problem. Das Problem entstand vielmehr um die Frage, ob ein Gekreuzigter der Messias sein konnte; denn am Kreuz zu sterben, bedeutete, von Gott verlassen zu sein.
Die Christen erkannten gerade in der Auferstehung die Infrage-Stellung dieser herkömmlichen Deutung. Aber genau die blieb in der frühen Kirche der Dreh- und Angelpunkt eines ursprünglich innerjüdischen Streites. So schreibt Paulus im 1. Korintherbrief:
Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft. (…) Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: Für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1 Korinther 1,18.22-24)
Allein dieser Abschnitt zeigt schon, dass eine vorschnelle Generalisierung – hier die verstockten Juden, dort die erlösten Christen – völlig fehl am Platze ist. Die frühen Christen verstanden sich als Juden. Und selbst die, die als Heiden, also als Unbeschnittene getauft wurden, verstanden sich als zur jüdischen Gruppe derjenigen, die an Jesus Christus als Messias glaubten. Das Christentum war ein Teil des Judentums.
Freilich war das Miteinander von Heiden und Juden nicht ohne Probleme. Der Umgang mit Heiden machte nach damaligem jüdischen Verständnis kultisch unrein. Hier liegt die Wurzel für ein theologisches Problem, das innerhalb des frühen Christentums ausgetragen wurde. Es führte schließlich zum sogenannten Apostelkonzil, war aber auch danach, wie der berühmte Besuch des Petrus in Antiochia und sein Streit mit Paulus zeigt, nicht erledigt (vgl. Galater 2,1-21).
Und genau hier hat die ekklesiale Kränkung der Heidenchristen ihre Wurzel. Während die Juden von jeher Gottes auserwähltes Volk sind und jeder Jude von Geburt an diesem Volk selbstverständlich angehört, sind die getauften Heiden wie Stiefkinder in diese Familie gekommen. Viele moderne Patchwork-Familien können davon ein Lied singen. Die Eltern mögen sich noch so sehr lieben: Niemand kann die Kinder zwingen, seine Brüder und Schwestern zu lieben. Und das wird unter Stiefgeschwistern nicht leichter.
Die frühen Heidenchristen leiden unter dieser ekklesialen Zweitrangigkeit. Sie buhlen um die Anerkennung ihrer jüdischen Brüder und Schwestern. Sie veranstalten sogar eine großangelegte, auf dem Apostelkonzil vereinbarte Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde. Allein die Angst bleibt, ob die dieses Zeichen des Respektes überhaupt annehmen wird. Nicht umsonst bittet Paulus am Ende des Römerbriefes um das Gebet, dass sein
„Dienst in Jerusalem von den heiligen dankbar aufgenommen wird.“ (Römerbrief 15,31)
Das frühchristliche Gezänk treibt seine eigenen Blüten und führt schon in der frühen Kirche zu manchem Schwarz-Weiß-Muster. Manch einer scheint sich sogar befugt gesehen zu haben, den Juden generell das Heil abzusprechen. Paulus jedenfalls sieht sich im Römerbrief genötigt, solchen Auffassungen klipp und klar eine Absage zu erteilen. In der zweiten Lesung vom 19. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr A heißt es deshalb:
Ich sage in Christus die Wahrheit und lüge nicht, und mein Gewissen bezeugt es mir im Heiligen Geist. Ich bin voll Trauer, unablässig leidet mein Herz. Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind. Sie sind Israeliten; damit haben sie die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die Verheißungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach entstammt ihnen der Christus, der über allem als Gott steht, er ist gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Römerbrief 9,1-5)
Es besteht kein Zweifel: die Juden sind und bleiben Gottes auserwähltes Volk. Die getauften Heiden kommen hinzu. Und die meisten Christen heute sind getaufte Heiden. Wir sind es, die hinzukommen zum auserwählten Volk.
Das mag auch heute mancher eher als Kränkung, denn als Segen begreifen. Wo aber der Segen dieser Verheißung aus dem Blick gerät und die Kränkung ihr Gift verbreiten kann, da ist der brutale Streit unter Geschwistern vorprogrammiert. Die Kirchengeschichte ist voll von den Auswirkungen dieses Dramas. Sie weist immer wieder auch Zeiten der Besonnenheit auf, der Differenzierung, der Erkenntnis, dass – wie Paulus es im Römerbrief formuliert – das Christentum nicht die jüdische Wurzel trägt, sondern die jüdische Wurzel das Christentum (vgl. Römerbrief 11,18). Und trotzdem hat erst die Shoah, hat erst Ausschwitz zu einer grundlegenden Neubesinnung geführt.
In dem Dokument „Nostra aetate“ formuliert das Zweite Vatikanische Konzil das Erbe, das aus Sicht der Kirche Juden und Christen gemeinsam anvertraut ist. Das ist notwendig. Denn da, wo das Christentum die jüdischen Wurzeln verleugnet, wird es seine Botschaft zwingen falsch verstehen. Jesus war Jude, die zwölf Apostel waren Juden, Paulus war Jude, die sieben Diakone waren Juden. Wir werden nicht nur sie, wir werden vor allem ihre frohe Botschaft falsch verstehen, wenn wir ihre jüdischen Ursprünge verleugnen.
Gott ist treu. Er steht zu seinen Verheißungen. Die Juden waren, sind und bleiben das auserwählte Volk Gottes. Wir Christen kommen im Bekenntnis zum Evangelium hinzu. Mehr noch: Christen müssen im Herzen Juden sein, wenn sie den Kontakt zur Wurzel ihres Glaubens nicht verlieren wollen.
Gerade deshalb kann es keinen aufrechten Christen unberührt lassen, wenn Juden angegriffen werden. Der Frankfurter Stadtdekan Johannes zu Eltz hat Recht, wenn er feststellt:
Wer Juden angreift, greift Katholiken an. (Quelle: J. zu Eltz, Predigt gegen Antisemitismus vom 2.8.2014)
Das Schwarz-Weiß – hier die guten Christen, dort die verstockten Juden – geht nicht auf. Die Erwählung bleibt. In dieser Erwählung, sei sie durch das Bekenntnis oder dem Fleische nach begründet, werden Juden und Christen zu Geschwistern. Zumindest sehen Christen das so. Ob die älteren jüdischen Brüder und Schwestern sich darüber freuen müssen? Diese Frage mag nur der beantworten, der erlebt hat, wie Erstgeborene auf die Ankunft kleiner Brüder und Schwestern reagieren. Geschwister müssen sich nicht unbedingt immer mögen. Verdammt: Sie müssen sich lieben!
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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