Dies Domini – 22. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Es gibt Legenden, die halten sich hartnäckig, obwohl ihnen jede Grundlage fehlt. Die standhafte Wiederholung und redundante Behauptung schafft eine Wirklichkeit, die es gar nicht gibt. Im Mittelalter war es die Behauptung der sogenannten Konstantinische Schenkung. Mit dieser Legende, die auf einer nachweislich um das Jahr 800 n.Chr. gefälschten Urkunde beruhte, behaupteten die Päpste ihren Anspruch auf das gesamte ehemalige weströmische Reich. Die notorisch behauptete Echtheit hatte tiefgreifende politische Folgen; den Investiturstreit, die weltliche Macht der Päpste, aber auch die sixtinische Kapelle – es hätte sie ohne dieses Constitutum Constantini, die vermeintliche Schenkungsurkunde nicht gegeben.
Ähnlich verhält es sich mit einem Brief, der im 12. Jahrhundert auftauchte. Er sollte angeblich der Feder des Priesterkönigs Johannes entstammen – einer mythischen Figur, die angeblich als Regent ein großes christliches Reich in Ostasien beherrscht haben soll. Dieser Brief, der ebenfalls als Fälschung enttarnt wurde, war bis in das 17. Jahrhundert hinein entscheidend für mehrfache Expansionsversuche des christlichen Abendlandes nach Osten.
Ende des 19. Jahrhunderts war es ein weiterer Schwindel, der – obschon er relativ schnell aufgedeckt wurde – verheerende Folgen für das gesellschaftliche und friedliche Zusammenleben in Europa hatte. Ein gewisser Léo Taxil bezichtigte die Freimaurerei nicht nur satanischer Riten. Zusammen mit den ebenfalls als Fälschung entlarvten Protokollen der Weisen vom Zion, die den Juden eine Verschwörung zum Zwecke der Weltherrschaft unterstellten, wurde eine tiefgreifende Angst vor einer neuen, unüberschaubaren Weltordnung geschürt. Die kruden Behauptungen dieser Intrigen zeitigten – obschon schnell ihre Falschheit enthüllt wurde – menschenverachtende Folgen; sie bildeten auch ein Fundament der nationalsozialistischen Ideologie, die das Ziel der Ausrottung der vermeintlichen Verschwörer verfolgte und ihre furchtbare Konsequenz in Auschwitz fand.
Das sind nur drei Beispiele von Legenden, die – obwohl ihnen jede faktische Grundlage fehlt – immense Konsequenzen für Geschichte und Gesellschaft gezeitigt haben. Man fragt sich unwillkürlich, wie es dazu kommen konnte, dass Menschen in Massen auf diese Fiktionen und Fälschungen hereinfallen konnten. Ein Grund liegt sicher in der Präsentation der Behauptungen. Sie wurden in Form emotionaler Geschichten erzählt. Dabei hatten diese Fiktionen – wie der italienische Semiotiker Umberto Eco feststellt – einen Vorteil:
„Sie klang[en] als Erzählung wahrscheinlich, jedenfalls wahrscheinlicher als die historische oder alltägliche Realität, die sehr viel komplexer und unglaubwürdiger klingt; sie schien etwas gut zu erklären, was sonst schwer zu verstehen war.“ (U. Eco, Die Kraft des Falschen, in: Der Friedhof in Prag, München 2011, im Anhang).
Die Gegenwart erlebt wieder die Grausamkeiten fantastischer Legendenbildungen. In Osteuropa wird ein Krieg in der Ukraine entfesselt, in Libyen und Syrien ringen Fanatiker um die Macht, in Israel und Gaza wird mit Raketen und Bomben ein tödliches Patt fortgeführt und im Nordirak ziehen mordende Banden mit einer Menschenverachtung eine blutige Schneise durch die Länder, die mittlerweile 11 Millionen Menschen aus Todesangst in die Flucht getrieben hat. Selbstanmaßend bezeichnen sie sich als „Islamischer Staat“, während sie Allahu akhbar schreiend dem so als groß bezeichneten Gott die abgetrennten Köpfe ihrer Opfer hinhalten. Unwillkürlich fragt man sich, was das denn für ein Gott sein soll, der die Köpfe seiner Geschöpfe fordert.
All diesen Krisen und Kriegen, die das Abendland wie einen Halbmond im Osten umringen, ist eine grundlegende Legendenbildung gemein. Die Komplexität der Welt wird vereinfacht. Der Islam werde im Westen unterdrückt, heißt es dann. Und alle, die im Westen unterdrückt werden, sind deshalb Brüder und Schwestern des Islam. Jugendliche fallen leicht auf diese vermeintliche Solidarisierung herein. Die Not manches Spätpubertären wird ausgenutzt – nicht zuletzt von den Salafisten, die eine Bruderschaft suggerieren, die aus Schwächlingen starke Männer macht, Krieger, auf die Allah schon gewartet hat. Der Gotteskrieger braucht da nicht mehr lang zu denken. Wer nicht für ihn ist, ist gegen ihn; und wer gegen ihn ist, verdient den Tode. Er ruft dabei einen Gott an, den es nicht gibt. Es ist bestenfalls ein Gott, den er sich zurecht gemacht hat, damit er seinem kleinen Weltbild genügt. Würde der Fanatiker denken, er würde erkennen, dass er nicht über Gott verfügen kann. Er würde erkennen, dass jedes Allahu akhbar mit einem Kopf in der Hand eine Lästerung des Namens Gottes ist; denn wer das Leben mit Füßen tritt hat Gott als Urheber jeden Lebens missverstanden. In der endgültigen Demütigung der Opfer beraubt er sich selbst seiner Würde. Wer Unheil sät, kann kein ewiges Heil ernten.
Die Welt steht mit Abscheu und Ekel vor diesen Bildern, für die es keine Worte gibt. Selbst die muslimischen Gemeinden schweigen. All die Worte über den friedlichen Islam werden momentan im Nordirak begraben. Es muss einen Aufstand geben. Lasst euch das nicht gefallen, möchte man ihnen zurufen. Lasst nicht zu, dass im Namen Allahs Menschen geopfert werden, unschuldige Kinder, Männer und Frauen, nur weil sie nicht islamisch sind. Was hat euren jungen Männern in unserem Land gefehlt? Durften sie ihren Glauben nicht leben? Durften sie keine Schulen besuchen? Durften sie keine Ausbildung machen? Ist dieser Gott, dem sie huldigen wirklich Allah?
Wenn der Mensch sich über das Leben stellt, ist Gott ohnmächtig. Eine solche Lebenslüge kann nur entstehen, wenn der Mensch die Orientierung verliert. Um sich orientieren zu können, braucht der Mensch etwas, an dem er sich festmachen kann. Die pure Geometrie weist schon darauf hin, dass es zur Ortung mindestens zwei Fixpunkte braucht, Koordinaten, die erst die eigene Ortsbestimmung ermöglichen. Wer die nicht hat, schwirrt hilflos durch den Raum. Er wird verloren gehen, unauffindbar, weil er die Fixpunkte aus dem Blick verloren hat.
Für die heute wieder einmal brennende Frage, wer oder was der Mensch an sich, aber auch jeder einzelne für sich ist, sind also diese Fixpunkte zu bestimmen. Es müssen absolute Fixpunkte sein, zu denen sich der Mensch verhalten muss. Diese Relationen spielen in der zweiten Lesung vom 22. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A eine wichtige Rolle. Paulus schreibt dort an die Römer:
Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Geschwister, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst. (Römerbrief 12,1)
Der erste Fixpunkt ist Gottes Erbarmen. Alles menschliche Handeln geschieht im Angesicht dieses barmherzigen Gottes. Jede Tat wird sich daran messen lassen müssen, ob sie diesem Erbarmen Gottes gerecht wird. Wie kann man angesichts des Allbarmherzigen unbarmherzig sein.
Daraus ergibt sich der zweite Punkt, denn das Handeln des Menschen bezieht sich immer auf seine Umwelt und Mitmenschen. Es gibt kein Handeln ohne diesen Kontext. Jedes Handeln ist zielgerichtet. Für Paulus bringt sich der Mensch darin selbst als lebendiges und heiliges Opfer dar. Ein Opfer in seinem, jüdischen Sinn bewirkt eine Verbindung zwischen Gott und Mensch. Darin kommt aber auch zum Ausdruck, dass es der Mensch – jeder Mensch – ist, in dem sich Gott ereignet, ja gegenwärtig ist. Nicht umsonst sagt Jesus im Matthäusevangelium:
Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Matthäus 25,40)
Aber auch:
Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan. (Matthäus 25,45)
Gott und der Nächste – das sind die beiden Fixpunkte, an denen sich der Mensch orientieren und verorten kann. Übersieht man einen dieser beiden Fixpunkte, gerät die Selbstorientierung ins Schlingen. Wer sich nur brüllend in der Größe Gottes suhlt, nimmt nicht wahr, dass Gott nur allmächtig ist, wenn er auch ohnmächtig sein kann. Wer Gott aber vollständig ausblendet, läuft Gefahr, das einzig Absolute zu verlieren, an dem der Mensch sich überhaupt festmachen kann. Die Mörderbanden im Nordirak zeigen auf, wie wenig Menschenrechte wert sind, wenn sich der Mensch selbst absolut setzt.
Gott spiegelt sich im Antlitz des Nächsten wider. Und den Nächsten sucht man sich nicht aus. Es ist der nächste Mensch, dem man begegnet. Der Nächste ist real, er ist keine Legende. Der Nächste ist da, kein Gerücht. Der Nächste mag mich stören und herausfordern, das ist auszuhalten.
Wir können nicht schweigen, angesichts des himmelschreienden Unrechts in der Welt. Wir dürfen um Gottes Willen nicht schweigen angesichts des Blutes Unschuldiger, das in der Welt vergossen wurde und wieder vergossen wird. Warum geben wir dem bösen Verdacht so viel Raum, anstatt uns endlich für das Gute zu verschwören? Hier und jetzt – mit unseren Nächsten. Überlassen wir den unheilvollen Spaltern und Verführern nicht das Feld. Sie sind leider auch hier bei uns. Sie dürfen nicht schon wieder die Oberhand bekommen. Der Feind der falschen Behauptung ist die Wahrheit. Sie gilt es zu laut zu verkünden: Gott ist groß! Er ist da! Im Nächsten wirst Du seine Macht und Herrlichkeit sehen!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Mit „Verschwörung“, aber zumindest einer völlig unverständlichen Heimlichtuerei – und das auch noch anno 2014! – sind freilich noch ganz andere Geheimgesellschaften in Verbindung zu bringen…
Aber es gibt auch den „Glanz der Legende“!