Dies Domini – 3. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
In den Zeiten sozialpädagogischer Ganztagsbetreuung gerät langsam aber sicher in Vergessenheit, was man früher en passant erlernte: das eigene Selbst, das sich in im Spiel mit anderen maß und im Austeilen und Einstecken entdeckte, die eigenen Grenzen kennen lernte und so seinen Platz in der Gemeinschaft fand. Das war nicht immer einfach. Vor allem die Niederlagen schmerzten, waren aber auch eine Lehre. Das Selbstbewusstsein konnte wachsen in diesen Niederlagen. Es entwickelte sich auch eine Frustrationstoleranz, die einen später davor bewahrte, bei kleinen Schwierigkeiten vorschnell die Flinte ins Korn zu werfen. Wie in allen Gruppen gab es auch damals schon diejenigen, die am Rand der Gruppe standen. Hänseleien und Mobbing sind sicher keine Erfindungen der Neuzeit. Die Welt der Erwachsenen aber ließ das Spiel auf dem Platz des Lebens meist gewähren und schritt nur dann ein, wenn die Grenzen von Respekt und Anstand vor allem den Schwachen gegenüber überschritten wurden. Man lernte noch, dass man Schwächere nicht übervorteilt. Man lernte vor allem aber auch, dass man Kontakt aufnehmen musste, wenn man dazu gehören wollte. Von selbst passierte eigentlich nichts. Das Kinderleben war durchaus ein Kampf, aber ein spielerischer. Im Sandkasten lernte man spielerisch das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, mit Tränen und Lachen – und manche Schramme erinnert den Erwachsenen noch heute an diese Lehrzeit, die ihn an seinen heutigen Platz gebracht hat.
Der Spielplatz, das war ein Ort höchst lebendiger Kommunikation. Wer mit wem gerade was machte, musste immer wieder neu ausgehandelt werden. Und im Gewimmel der Kinderstimmen hörte man immer wieder, wie Mütter und Väter die Namen ihrer Kinder riefen. Meist ließ der Tonfall keinen Zweifel daran, dass er ernst gemeint war. Dem Ruf war Folge zu leisten. Der Tonfall alleine signalisierte schon: Komm! Sofort!
Der Ruf war nicht zu überhören. Sicher konnte man weghören und so tun, als wenn nicht gewesen wäre. Das hatte aber meist Konsequenzen. Wer den Ruf der Ahnen nicht hörte, musste damit rechnen, dass die Erziehungsberechtigten den akustischen Abstand physisch verringerten und einen von ganz nahe ins Gebet nahmen, dann sicher nicht mehr laut, aber doch mit deutlicher Stimme: Komm! Sofort! – und wenn ich das sage, dann meine ich das auch!
Den so Gerufenen war klar, wer hier ruft, hat Autorität. Vor allem aber war der Ruf nicht eingebildet, sondern höchst konkret. Man musste nicht bitten, um gerufen zu werden. Der Ruf war da. Er war konkret. Es bestand kein Zweifel.
Ähnlich stellt sich auch die Situation dar, von der das Evangelium des dritten Sonntags im Jahreskreis des Lesejahres B erzählt. Der Text beschreibt kurz und knapp, wie es die Art des Evangelisten Markus ist, die Situation:
Nachdem man Johannes den Täufer ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes. (Markus 1,14)
Die Gefangennahme Johannes‘ des Täufers wird zum Ausgangspunkt des öffentlichen Auftretens Jesu. Bisher lebte er im Verborgenen. Jetzt beginnt die Zeit seines öffentlichen Wirkens beginnt. Seine Botschaft ist prägnant:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Markus 1,15)
Der Umkehrruf steht in der Tradition der Verkündigung des Täufers. Anders als er ruft Jesus aber zum Glauben an das Evangelium auf, der Botschaft vom nahen Reich Gottes.
Offenkundig drängt es Jesus, diese Botschaft zu verkünden. Die Zeit ist da. Sie ist erfüllt. Es ist Zeit, der καιρός (kairos) ist da. Es ist offenkundig, dass er Mitarbeiter braucht, die die Botschaft vom genahten Reich Gottes mit ihm verkünden.
Die Art der jesuanischen Mitarbeiteraquise ist auffällig. Während man heute gemeinhin in öffentlichen Aufrufen nach an einer ehrenamtlichen Mitarbeit Interessierten sucht, wird Jesus konkret. Mit dem Anspruch natürlicher Autorität beruft er die, die er für seine Aufgabe haben möchte. Der Ruf erfolgt unmittelbar, wie bei Andreas und seinem Bruder Simon, den man später Petrus nennen sollte. Jesus sieht sie am See von Galiläa und spricht sie an:
Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. (Markus 1,17)
Das verwendete Verb εἰπεῖν (sprich eipeîn – sagen/reden) deutet einen unmittelbaren Kontakt an. Jesus muss auf sie zugegangen sein. Man steht sich gegenüber; man ist sich nahe. Die Distanz ist klein, so dass man direkt miteinander sprechen kann.
Anders verhält es sich bei den nächsten beiden, die Jesus bei sich wissen will. Jakobus und Johannes, die beiden Söhne des Zebedäus, sind noch im Boot und richten ihre Netze her. Sie sind etwas vom Ufer entfernt, so dass Jesus rufen muss. Das, was Jesus ruft, wird nicht überliefert. Es ist anzunehmen, dass die Botschaft dieselbe ist, die er auch an Andreas und Johannes richtete:
Kommt her, folgt mir nach!
Das Verb καλεῖν (sprich: kaleîn – rufen) mein ein lautes Anrufen. Jesus muss nicht nur die räumliche Distanz überbrücken; er muss sich auch die Aufmerksamkeit der mit Netzflicken Beschäftigten erregen.
In beiden Fällen ist der Ruf konkret, unzweifelhaft, autoritativ und unüberhörbar. Jesus sucht nicht ein paar Freiwillige und Interessierte. Er sucht die, die er für seinen Aufgabe haben will, weil er sie für fähig hält. Die Fähigkeiten der vier, die er zuerst beruft, besteht zuerst im Fischen. Es sind Handwerker, die zuzupacken wissen, auf die man zählen kann, die zuverlässig sind und mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Träumer werden es nicht gewesen sein, denn von Träumen kann man niemanden ernähren.
Solche Leute braucht Jesus bei sich. Handfeste Typen, die wissen, was sie tun – ohne Illusionen. – Ohne Illusionen? Wussten sie wirklich, worauf sie sich da einlassen? Es heißt doch, sie ließen unverzüglich ihre Netze liegen und folgten ihm nach.
Die Unmittelbarkeit der Reaktion der Angerufenen ist faszinierend und irritierend zugleich. Der Text erzählt nicht, wie Jesus sie wirklich überzeugt hat. Niemand lässt seinen Broterwerb zurück, um einer Fantasterei zu folgen – zumindest nicht die Fischer vom See in Galiläa. Noch war ja nicht abzusehen, wohin sie ihr Weg führen würde. Das unmittelbare Wirkungsgebiet Jesu bezog sich zu diesem Zeitpunkt ja auf das Gebiet um den See. Kafarnaum – so wird aus dem weiteren Verlauf des Markusevangeliums deutlich – ist eine Art Zentrum des Wirkens Jesu zu dieser Zeit. Die vier Auserwählten konnten also zu diesem Zeitpunkt nicht nur zu ihrer Arbeit zurückkehren; sie weilten auch weiter bei ihren Familien, wie etwa die Perikope der Heilung der Schwiegermutter des Simon Petrus belegt, die sich in Markus 1,29-31 findet.
Die Mitarbeit am Werk Jesu war also am Beginn überschaubar. Was daraus erwachsen sollte, die Konsequenzen für Existenz und Leben – all das war nicht zu erahnen. Man wirkte in vertrautem Umfeld, nutzte die sozial gewachsenen Kontakte, verkündete den Freunden und Feinden aus der Kindheit und baute auf die eigenen Erfahrungen und Kenntnisse der konkreten Umgebung. Die Berufung war konkret und baute auf vorhandene Kenntnisse. Jesus brauchte Typen mit Kontakten und Erfahrungen. Nur wer die richtigen Kanäle kennt, kann seine Botschaft effizient unter das Volk bringen. Verkündigung – das ist öffentliche Kommunikation. Jesus brauchte fähige Kommunikatoren. Und er beruft die in seinen Stab, die er gebrauchen kann.
Aus dem kleinen Anfang der vier, die Jesus um sich scharrte, entstand eine Bewegung, die bis heute wirkt. Es waren genau diese vier, die Jesus brauchte. Es waren keine Freiwilligen. Sie hatten nicht um die Berufung gebeten. Es sind aber diese vier, die er konkret berief, bildeten den Kern der Mitarbeiter Jesu. Die Zulassungsbedingungen waren Bodenständigkeit, Kommunikationsfähigkeit, bestehende Kontakte und Erfahrungen.
Heute wird immer wieder dazu aufgerufen, um Berufung zu beten. Ja, diejenigen, die sich berufen wähnen, beten selbst immer wieder darum, berufen zu sein. Die Berufung hat ihre Konkretion verloren. Sie ist zu einem Gefühl degeneriert, zu einer Abstraktion, die nicht fassbar ist. Berufen zu sein, ist darüber hinaus keine Frage der persönlichen Fähigkeiten mehr, sondern des Empfindens einer exklusiven Auserwählung. An die Stelle bodenständiger und kontextueller Kommunikation ist die Absonderung in einen geistlichen Stand getreten, der dem Volk Gottes gegenüber steht, getreten. Das Fehlen von Schwiegermüttern bei denen, die sich heute ihrer Berufung rühmen, ist letztendlich eine weitere Konsequenz der gegenüber dem Anfang veränderten Zulassungsbedingungen.
Die heutige Kirche fremdelt mit der Welt, in der sie die Botschaft vom nahen Reich Gottes verkünden soll. Sie hat den Kontakt zur Welt verloren. Ihr fehlen die kommunikativen Mittel, um die Menschen heute zu erreichen. Ihr fehlen die Typen, die Welt und Menschen kennen, das Umfeld des Lebens von heute. Ihr fehlen die bodenständigen Arbeiter, die wissen, das Beten nicht das Falten von Händen voraussetzt. Ihr fehlen die, die Gott im Antlitz des Nächsten suchen und nicht in der Stille selbstverliebter Einsamkeit. Ihr fehlen die, die zupackend bereit sind, sich Schwielen und Beulen zu holen, und das Glück getaner Arbeit kennen, anstatt der Illusion erhabener Sakralität zu frönen.
Die Zeit ist nahe für einen Paradigmenwechsel in der Berufungspastoral. Es braucht Menschen, die erfahren und fähig sind, andere im wahrsten Sinn des Wortes zu berühren, die mit Verstand, Herz und Seel der Menschen Kontakt aufnehmen und kommunizieren können. Nicht mehr die Abgrenzung in sakraler Heiligkeit ist das Ziel, sondern die Kommunikation des Evangeliums in die Welt von heute hinein. Wer dazu fähig ist, der und die muss berufen werden.
Berufung war konkret, Berufung muss wieder konkret sein. Die Zwölf, die ihre Berufung konkret hörten, beriefen ihre Nachfolger konkret. Es waren die Fähigkeiten dieser Berufenen, die ausschlaggebend waren, die das Gefühl der eigenen Erwählung. Und es ist erstaunlich, dass noch heute die Nachfolger der Apostel höchst irdisch berufen und bisweilen sogar gewählt werden. Die Berufung zum Bischof ist konkret. Warum sollte es die Berufung zum Priester- oder Diakonenamt nicht sein?
Es wird nichts helfen, um Berufungen zu beten. Die konkreten Pläne Gottes scheinen anders auszusehen. Sein Fingerzeig ist offenkundig. Es gilt, Ausschau zu halten nach den Männern und Frauen, die im Besitz der für die Verkündigung des Evangeliums notwendigen Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen sind. Die Kirche braucht diese Typen. Wieviele gehen der Kirche da verloren, weil niemand sie beruft. Die Berufung muss wieder konkret werden. Bisher ist die Charismenorientierung nur ein Schlagwort. Die Kirche wird sich verändern, wenn die Fähigkeit der Einzelnen zum Anlass für die Berufung wird, und nicht der Wunsch, berufen zu sein, für den man den Preis der Enthaltsamkeit zu zahlen bereit ist. Auch sie mag ein Charisma sein. Was die Kirche braucht, sind aber nicht Enthaltsame, sondern glaubwürdige Verkünderinnen und Verkünder des genahten Reiches Gottes, Menschen aus dem Volk, die die Sprache des Volkes sprechen, die bereit sind, unter die Menschen zu gehen und Gott in Wort und Tat unter den Menschen präsent zu machen – so wie damals, als Fischer vom See in Kapernaum ihre Kontakte nutzten, um das zu tun, was ihren Fähigkeiten entsprach: die Netze auszuwerfen, um einen Fang zu machen – nur, dass es diesmal Menschen waren, als Fische. Sie waren es, die als erste das Evangelium weitergaben. Wer ist heute dazu fähig?
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
[…] Schwächen bedient, um den Menschen zu begreifen. Die Berufung, die sich hier ereignet, ist konkret, krass konkret sogar. Sie ist kein Gefühl, kein innerliches Bewusstwerden. Sie ist unausweichlich. Gott lässt nicht […]