Dies Domini – 25. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Die Sehnsucht nach Harmonie kann nie ohne den Klang der Dissonanz sein. Erst wenn sich die Spannung der Dissonanz in die Harmonie hinein auflöst, wird der Moment des Glücks erfahrbar. Die Harmonie darf nur einen Moment dauern. Sonst verbreitet sie ihr klebriges Gift. Ein Leben in einem reinen C-Dur-Klang ist nicht nur langweilig. Es ist die Hölle. Die Dissonanz erst bringt Spannung und Würze. Wer auch immer die reine Harmonie sucht, wird sie nicht finden, wenn er des Lebens Dissonanz verleugnet. Harmonie und Dissonanz stehen in einer wechselseitigen Beziehung.
Es besteht kein Zweifel, dass dem Menschen in der Regel die Harmonie besser gefällt als die Dissonanz. Gerade weil die Bilder, die tagtäglich die heimelige Atmosphäre die Schutzzone des heimischen Wohnzimmers erreichen, eine mitunter verstörende Lebenswirklichkeit zeigen, wird das Bedürfnis nach Harmonie noch gesteigert. Die Dissonanz der Realität muss doch aufgelöst werden. Und die Strategien sind vielfältig. Nicht wenige dürften eine innere Distanz zu den verstörenden Bildern aufbauen und sich auf das Glück des eigenen Lebens in Frieden und Harmonie zuprosten. Man schüttelt sich dann wohlig grausend ob so viel Elendes in der Welt. Aber was kann man als Einzelner da schon ausrichten.
Andere empfinden die dargestellte Dissonanz als massive Bedrohung der eigenen Harmonie. Sie werden von Angst und Panik erfasst, die sich in einem hysterischen Schrei manifestieren, der sich der furchtsam engen Kehle entringt. Wo die Hysterie regiert, hat der Verstand schon lange verloren. Die Harmonie, die sich diese Menschen ersehen, ist – wie wir in unserem Land von 1933-1945 erfahren mussten – tatsächlich die Hölle.
Es gibt noch eine Reaktion auf die harmoniestörende Dissonanz. Diese Reaktion ist neu. Man versucht die Dissonanz mit Freundlichkeit niederzuklatschen. Es ist fast wie bei dem berühmten Stück „Für Elise“ von Ludwig van Beethoven, von dem man nicht weiß, ob es nicht doch der Feder eines gewissen Ludwig Nohl entstammt: Die Dissonanz der kleinen Sekunde wird durch die banal-spielerische Trillerhaftigkeit zu einer schmucken Preziose, einer Petitesse, die ihre Dissonanz fast ironisch zur Schau stellt und gar nicht erst ernst nimmt. E-Dis-E-Dis-E – da kann man schon einmal ins Träumen geraten … Wehe aber, wenn die Töne zusammenklingen. Ein Schrei im Ohr der Harmoniesüchtigen, kaum zu überhören, kaum zu ertragen. Der Traum war doch so schön …
Die Gegenwart kennt angesichts der Bilder heimatvertriebener Menschen, die sich vor den in Windeseile aufgebauten Stacheldrahtzäunen stauen, alle Facetten der Harmoniesucht. Die große Mehrheit wird kopfschüttelnd, aber schweigend das Vesperbrot vertilgen. Eine kleine schreiende Minderheit weiß nicht wohin mit der eigenen Angst und versucht die Dissonanz des Lebens mit Feuer und Steinen zu bekämpfen. Viele aber versuchen dem Schrecken mit Freundlichkeit zu begegnen und die Harmonie herbei zu lächeln. Die Bilder derer sind stark, die versuchen, eine Willkommenskultur zu pflegen und den müde und mit traumatisiertem Tunnelblick aus den Zügen steigenden Menschen mit der Not der eigenen Nächstenliebe auf den Pelz zu rücken, denn Nähe erzeugt Wärme, vor allem auch für das eigene dissonanzzerscheuerte Herz.
Im Hebräerbrief heißt es lakonisch:
Da wir nun einen erhabenen Hohenpriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat. (Hebräerbrief 4,14f)
Jesus Christus, den wir Christen als menschgewordenen Sohn Gottes bekennen, kennt also auch diese merkwürdige Sehnsucht nach Harmonie. Er kennt die Furcht vor dem Fremden, wie im Evangelium vom 23. Sonntag des Jahreskreises im Lesejahr B zu hören war. Die Skepsis Jesu der fremden und zudem noch heidnischen Syrophönizierin gegenüber musste die Frau erst überwinden. Aber auch nach der Überwindung ist nichts von überbordender Freundlichkeit zu spüren. Die Distanz bleibt. Die Begegnung ist einfach zu kurz. Ebenso wie das beklatschte Willkommen am Bahnhof noch keine Gastfreundschaft ist. Die Willkommenskultur – welch ein merkwürdiges Wort – mag noch irgendwie gelingen. Aber werden wir auch gastfreundlich sein können, wenn die Fremden bleiben? Wie werden die Reaktionen sein, wenn auf den Klatschmarsch die Dissonanz deutscher Nachbarschaftlichkeit folgt, wenn sich Kulturen nicht mehr nur im Vorübergehen begegnen und der Moment, in dem der Geber auf die dankbar leuchtenden Augen der von ihm Begabten wartet, sich in eine Realität verwandelt, in der die einen träumen und die anderen Traumata mit sich tragen.
Das Beispiel Jesu lehrt, sich der Realität zu stellen. Und zur Realität gehört die Dissonanz. Dissonanz ist Reibung, Spannung, Energie. Dissonanz ist Dynamik, die ein Musikstück ebenso vorantreibt, wie das Leben. Und Jesus stellt sich dieser Dissonanz. Mehr noch: Er erzeugt sie. Er ist es, der sie in der Begegnung mit der Syrophönizierin schafft. Erst aus dieser Dissonanz heraus kann die Überwindung geschehen, und mit ihr die Heilung.
Christen scheinen allerdings von Natur aus keine wirklich dissonanzfreudigen Menschen zu sein. Die Schmach des Kreuzes ist eigentlich kaum zu ertragen. Der Qualtod war ein Fluch. Nur verschämt sprechen die Evangelien davon. Wo Mel Gibson 2004 in seinem Blutepos „The Passion of the Christ“ nicht genug von schmerzschreienden und blutberauschten Bildern bekommen konnte, bei denen man auf den schon Geschundenen immer noch einen Stein warf und die Bilder ihr Übriges taten, den Gekreuzigten zur Schau gestellt zu entwürdigen, bemerken die Evangelien lapidar:
Sie kreuzigten ihn.
Die frühen Christen schämten sich des Kreuzes. Aber sie bekannten den Gekreuzigten als Auferstandenen. Gerade der vom Fluchtod Auferstandene ist die große Dissonanz des Christentums: Der am Kreuz von Gott Verlassene wird von Gott von den Toten auferweckt. Einen größeren Widerspruch kann es kaum geben, eine dissonante Spannung, die es auszuhalten gilt, die vorantreibt zur Suche der Erkenntnis, die man eben nicht einfach bekennen kann, weil sie Konsequenzen hat. Wer an den gekreuzigt Auferstandenen glaubt, kann nicht mehr für sich leben. Weil Gottes Sohn so tief gefallen ist, kann kein wahrhaft Christgläubiger an den aus dem Leben Gefallenen vorbei gehen. Wenn selbst der Auferstandene die Dissonanz der Todesmale trägt, muss sich der Gottsucher der Dissonanz der lebendigen Realität aussetzen.
Dass das kaum auszuhalten ist, haben die Christen durch alle Zeiten bewiesen. Das Kreuz war nicht immer ein frommes Symbol. Über 400 Jahre haben Christen den Gekreuzigten nicht dargestellt. Die älteste öffentliche Kreuzigungsdarstellung findet sich erst zu Beginn des 5. Jahrhunderts auf der Portaltür der römischen Basilika Santa Sabina. Und dort wird der Gekreuzigte schon als Auferstandener gezeigt. Wahrhaft: Die Christen wissen, wie man der Darstellung des Fluch- und Martertodes den Schrecken nehmen kann. Und sie protestieren fromm, wenn sie darauf hingewiesen werden, dass man den Blick auf den Geschundenen kaum erträgt. Das Kreuz ist harmlos geworden. Zu harmlos, um noch zu stören.
Wie das Evangelium vom 25. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B zu berichten weiß, suchten auch die Jünger Jesu eher die harmlose Harmonie:
In jener Zeit zogen Jesus und seine Jünger durch Galiläa. Jesus wollte aber nicht, dass jemand davon erfuhr; denn er wollte seine Jünger über etwas belehren. Er sagte zu ihnen: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert, und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach seinem Tod wird er auferstehen. (Markus 9,30f)
Jesus zieht sich zurück. Er geht auf Distanz. Die Euphorie des Anfangs, dem sogenannten galiläischen Frühling, liegt schon zurück. Die Realität holt ihn ein. Er spürt die Kräfte, die gegen ihn arbeiten. Er ahnt sein Schicksal. Er weiht die Seinen in seine verstörenden Gedanken ein. Die aber haben für derlei Dissonanz in der schönen Gemeinschaft kein Gespür. Sie reagieren mit völligem Unverständnis:
Aber sie verstanden den Sinn seiner Worte nicht, scheuten sich jedoch, ihn zu fragen. (Markus 9,32)
Man ist doch so schön beisammen. Warum heute an morgen denken? Doch, doch, die Zukunft ist wichtig. Da gilt es Pläne zu machen. Pläne für die Zeit des Sieges, wenn das Reich Gottes Wirklichkeit wird:
Sie kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von ihnen der Größte sei. (Markus 9,33f)
Offenkundig waren sich die Jünger einig, dass das alles kampflos, ohne Anstrengung und in voller Harmonie geschehen würde. Jesus, das war doch ein Wundermann. Sie hatten es doch immer wieder gesehen, wie er mit dem bloßen Wort die Mächte der Unterwelt beherrschte. In seinem Gefolge konnte man nur Sieger sein. Er würde die Dinge schon richten. Da konnte man doch jetzt schon einmal darüber sprechen, wer der Größte ist. Mit dem Mund sind das noch heute viele. Mit dem Herz und der Hand schon weniger.
Peinlich ertappt wie kleine Kinder in ihren Allmachtsphantasien bleibt ihnen nur Schweigen übrig. Da ist sie wieder: Die Dissonanz im eben noch harmonischen Hochgefühl. Und es ist diese Dissonanz, die die Energie für einen Erkenntnisgewinn hat:
Da setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein. (Markus 9,35)
Das stellt so ziemlich alles auf den Kopf. Die Ordnung der Dinge wird auf den Kopf gestellt. Menschen wissen um die Harmonie der Ordnung von Oben unten, Links und Rechts, Groß und Klein, Vorne und Hinten. Das Wort Jesu zerstört diese schöne Harmonie wie eine über das Vinyl kratzende Nadel, ein enervierendes Geräusch, das sich in den Synapsen fest setzt und gleich wieder beklatschend harmonisiert werden muss: Wie viele bezeichnen sich auch heute noch in der Kirche eitel kriechend als Diener und gebärden sich doch als Herren? Wie viele pflegen eine eitle Demut und überheben sich gerade darin über die vielen, die in ihren Augen nicht fromm genug sind? Wie viele wähnen sich im Besitz der Erkenntnis Gottes und scheuen doch die Begegnung mit dem Abbild Gottes, den Menschen, in deren Antlitz die Gegenwart Gottes gerade dann aufleuchtet, wenn sie so am Boden liegen, wie er es getan hat, bevor man ihn kreuzigte? Wie schön sie doch klingen kann, die Dissonanz der Geringseins, wenn man sie heuchelnd trillern kann – e-dis-e-dis-e …
Jesus scheint auch das geahnt zu haben. Er kennt die Seinen eben. Worte bleiben, was sie sind: Worte, Laute, die erst in die Luft gesprochen zu Schall werden, um dann doch im Wind zu verwehen. Worte allein reichen nicht. Es braucht Fakten. Vor allem Bilder. Bilder sind mächtig. Bilder wirken. Und Jesus setzt ein Bild:
Er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu ihnen: Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat. (Markus 9,36f)
Um ein Kind in die Arme zu nehmen, muss sich ein Erwachsener bücken. Er muss sich auf Augenhöhe begeben. Aber Jesus geht noch über den Augenblick hinaus. Er spricht von „aufnehmen“. Das ist mehr als ein Willkommen. Das ist Gastfreundschaft über den klatschharmonischen Augenblick hinaus. Und Gäste können sehr anstrengend sein.
Es gibt keine Alternative: Wer Gott suchen will, wird ihm nur begegnen können, wenn er ihm Herberge gibt. Die Herberge im Herzen reicht da nicht. Das ist zu eitel. Gott begegnet im Gegenüber. Wer ihn finden will, muss in das Antlitz der Nächsten schauen. Wer Gott im Herzen Heimat geben will, muss den Nächsten im eigenen Herzen Heimat geben. Die Fremden, die jetzt auf den vielen Bildern zu sehen sind, werden zu Nachbarn werden, zu Nächsten. Nach dem Willkommensjubel wird der Alltag nachbarschaftlicher Nähe eintreten – Dissonanzen vorprogrammiert! Wie dieses Stück wohl klingen wird, wenn das banale Geklatsche endlich die Ohren frei gibt für den wahren Klang dieser Komposition, die das Leben der Gegenwart schreibt. Auf ihr Christen: Spielt dieses Lied des Lebens mit, mit den kleinen und großen Sekunden! Vor allem aber macht Terz, wenn jemand die Dissonanz meiden möchte. Ein reiner, nicht endender C-Dur-Klang – das ist die Hölle …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Du kannst einen Kommentar schreiben.