Dies domini – Fest Taufe des Herrn, Lesejahr C
der Mensch ist seiner Natur nach ein Lückenfüller. Er kann nicht anders. Er kann mit Sinnlosigkeit nicht leben. Ob gekonnt oder aus Unvermögen, ob aus solidem Wissen oder unbewusst – der Mensch muss die Dinge in einen Zusammenhang bringen und sie ordnen. Dieser Vorgang ist nicht objektiv. Er kann es nicht sein. Es ist ja die subjektive Perspektive des Einzelnen, seine eigene Weltsicht, aus der heraus die Dinge gedeutet werden und so Bedeutung bekommen. Nur allzu gerne sieht sich der Einzelne als Absolutum, der die Dinge in Relation zu sich setzt.
Die Welt ist voller Lücken. Der Mensch kann schließlich nur die Oberfläche der Dinge betrachten. Von ihrer äußeren Erscheinung her muss er auf die inneren Zusammenhänge schließen. Die Objekte, die ihm mehr oder weniger unverbunden gegenüber stehen, setzt er so nolens volens – wollend nichtwollend – in Beziehung zueinander. Texte funktionieren so. Indem Sie, liebe Leserin und lieber Leser, diesen Text lesen, machen Sie sich ein konkretes Bild von dem Menschen, von dem bisher die Rede war. Der bisherige Text hatte noch nicht ausgeführt, ob es ein weiblicher oder ein männlicher Mensch war. Und doch hat dieser Mensch in Ihrer Phantasie bereits Gestalt angenommen – als Mann oder als Frau. Sie haben die Leerstelle, die der Text Ihnen bisher gelassen hat, bereits gefüllt. Sie haben diesem Menschen ein Gesicht gegeben. Es war möglicherweise ein westeuropäisches Gesicht, vielleicht aber auch ein Gesicht mit anderem Teint und anderer Physiognomie. Texte funktionieren genau so. Sie lassen Lücken, die wir als Leserinnen und Leser automatisch füllen. Wir können gar nicht anders. Selbst wenn dieser Text den Menschen, von dem bisher allgemein die Rede war, noch genauer gefasst und etwa seine Augen- und Haarfarbe, seine körperliche Statur usw. beschrieben hätte – es würden noch genügend Leerstellen übrig bleiben. Kein Text kann so exakt sein, dass er keine Lücken beinhalten würde. Selbst wenn der Text den intendierten Menschen in seiner Gänze zu beschreiben in der Lage gewesen wäre, es würde doch der Kontext fehlen, die Landschaft, der Raum, in den die Phantasie des Lesers und der Leserin den Menschen abbilden würde. Die Welt bleibt voller Lücken, die der Mensch zu füllen hat.
Gute Autoren wissen um die Macht der Lücke und Verfasserinnen von Texten setzen sie sogar bewusst ein. Manche Leerstelle wird bewusst eingebaut, um die Mitarbeit der Leserinnen und Hörer bei der Interpretation des Textes zu aktivieren. Ein berühmtes Beispiel einer solchen bewussten Leerstelle ist das berühmte Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl in Matthäus 22,1-14: Nachdem die von dem König zur Hochzeit seines Sohnes eingeladenen Gäste nicht kommen wollten, schließlich sogar die Boten des Königs misshandeln und umbringen und von ihm dafür bestraft werden, beauftragt er seine Diener erneut:
Das Hochzeitsmahl ist vorbereitet, aber die Gäste waren es nicht wert (eingeladen zu werden). Geht also hinaus auf die Straßen und ladet alle, die ihr trefft, zur Hochzeit ein. Matthäus 22,8f
Die Diener holen darauf hin alle zusammen, die sie trafen – ohne jedes Ansehen der Personen, gewissermaßen von der Straße weg. Und so füllt sich schließlich der Festsaal mit Gästen:
Als sie sich gesetzt hatten und der König eintrat, um sich die Gäste anzusehen, bemerkte er unter ihnen einen Mann, der kein Hochzeitsgewand anhatte. Matthäus 22,11
Der Mann ohne Hochzeitsgewand wird zum Mittelpunkt der weiteren Erzählung. Der König stellt ihn ob seiner Erscheinung zur Rede, er aber weiß keine Antwort als Entschuldigung zu geben. Schließlich befiehlt der König seinen Dienern:
Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird er heulen und mit den Zähnen knirschen. Matthäus 22,13
Es ist eine herausfordernde Erzählung, deren Ausgang die meisten Leser und Hörerinnen empört. Wie kann man den armen Mann, der doch schließlich von der Straße weg geholt wurde, so hart bestrafen.
Die Lösung dieses Affronts liegt in einem literarischen Spiel, das der Evangelist mit den Leserinnen und Hörern seines Textes treibt. Er hat eine bewusste Leerstelle in seinen Text eingebaut, die sich auf den ersten Blick nicht erschließt, die gleichwohl bei der Rezeption des Textes im Moment des Hörens bzw. Lesens höchst wirksam ist: Er beschreibt an keiner Stelle die Kleidung der Menschen, die dort im Festsaal zusammen kommen. Lediglich das Aussehen des einzelnen Mannes wird plötzlich betont. Machen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, einfach einmal ein Experiment: Erstellen Sie ein imaginäres Foto von der Szene, als es heißt:
Die Diener gingen auf die Straßen hinaus und holten alle zusammen, die sie trafen, Böse und Gute, und der Festsaal füllte sich mit Gästen. Matthäus 22,10
Gerade die Betonung, dass es sich um Gute und Böse handelt, verstärkt die Assoziation, dass dort ein bunt zusammen gewürfelter Haufen – wohl eher in Alltagskleidung – zusammen kommt. Nun aber die geradezu lakonische Bemerkung als der König den Festsaal betritt, um sich die Gäste anzusehen.
Er bemerkte unter ihnen einen Mann, der kein Hochzeitsgewand anhatte. Matthäus 22,11b
Die Phantasie des Lesers und der Hörerin füllt die so entstehende Lücke sofort auf. Plötzlich ist der Festsaal voll von vornehm gekleideten Menschen, aus denen der eine unangenehm und peinlich hervorsticht. Es scheint fast so, dass die Gäste immer schon, also auch in der Situation der Einladung festlich gekleidet waren. Allein: Der Evangelist hat das, was in der Realität ja auch absurd erscheint, nirgendwo erzählt. Er hat lediglich durch die Erzähltechnik des Stilmittels der Lakonie – so bezeichnet man eine bewusste Auslassung im Text – den Hörer und die Leserin seiner Erzählung bewusst manipuliert und so zu Komplizen seiner eigenen Botschaft gemacht: Seid allezeit bereit,
denn viele sind gerufen, aber wenige auserwählt. Matthäus 22,14
Die Lücke ist also von Wert. Wer die Lücke nicht beachtet, wird ins Schlingern und Stolpern geraten. Texte, Nachrichten, Botschaften, Bilder, Video – all diese medial-kommunikativen Erscheinungen beinhalten Lücken. Manche werden bewusst geschaffen. Die bewusste redaktionelle Entscheidung, eine Lücke zu lassen, ist immer manipulativ: Man will eine bestimmte Wirkung erzielen. Das kann den Rezipienten, also den Empfängern, gegenüber wohlwollend sein, weil man sie in die Interpretation eines Geschehens mit einbeziehen und sie nicht einfach bevormunden möchte. Es kann aber eben auch negativ sein, weil gerade durch die Auslassung wichtiger Informationen in Wort und Bild bestimmte Affekte erzielt werden sollen. Das Internet ist gegenwärtig voll von solchen auf die Affekte abzielenden Manipulationen. Gerade weil die einzelnen Rezipienten in den seltensten Fällen die Glaubwürdigkeit der Quellen und deren Kontexte hinterfragen, ist der Manipulation und der Entstehung von Verschwörungstheorien Tür und Tor geöffnet. Gerade die Timelines der sogenannten sozialen Netzwerke verstärken diesen Affekt noch. Die sich nahezu im Sekundentakt aktualisierenden Meldungen überfordern das Wahrnehmungsvermögen des Einzelnen, der aber nicht anders kann, die Wahrnehmungslücken mit Inhalt zu füllen. Das Gerücht tritt so an die Stelle der Nachricht und die Verschwörungstheorie mit ihren einfachen und grob gestrickten Denkmustern an die Stelle von differenzierter Reflexion, für die der Einzelne allein deshalb schon keine Energie mehr hat, weil er jedes seiner Vorurteile selbstreferentiell bestätigend in die Welt hinaus schreiben muss. Dabei offenbar zwar mancher Klugscheißer, dass er es faktisch nicht besser weiß – das aber tut der Eitelkeit derer keinen Abbruch, die es immer schon gewusst haben, dass sie allein im Besitz der Wahrheit sind.
Die Macht der Lücke kann man auch in diesen Tagen wieder beobachten. Nach den Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht 2015/2016 herrscht das informelle Chaos. Die einen waren selbst betroffen, die anderen haben nichts gesehen, die meisten aber haben ein Meinung, ohne zu wissen, was genau geschehen ist. Das scheint selbst für die amtlichen Informanten zu gelten, für die Polizeiberichte. So meldet die FAZ in einem Beitrag vom 9. Januar 2016:
Ein Polizistenbericht versucht, nachträglich das Chaos der Kölner Silvesternacht zu ordnen – aber nicht alle Informationen darin können auf eigener Anschauung beruhen. (Patrick Bahner, Die Regeln der Aussage, FAZ-online 9.1.2016, Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/koelner-polizei-die-regeln-der-aussage-14004599.html [Stand: 9.1.2016])
Ein Gewirr von Einzelstimmen und Wahrnehmungen beherrscht die mediale Öffentlichkeit. Dabei hatte ein Wort genügt, um die Emotion über die Information siegen zu lassen: Nordafrikaner.
Nordafrikaner – und schon hat der Mensch, von dem die Rede ist, ein Gesicht und einen Charakter. Und natürlich weiß jeder, wie so ein Nordafrikaner ist. Man kennt ihn ja, den Nordafrikaner an sich!
Mittlerweile ist durchgesickert, dass auch jugendliche Syrer beteiligt gewesen sein sollen. Wen schert es schon, dass der Syrer an sich kein Nordafrikaner ist. Das bisschen geographische Lücke kann man doch schnell füllen. Denn der Nordafrikaner an sich ist ja das Problem. Vor dem hatte man doch immer schon gewarnt. Und weil das noch nicht von jedem gesagt wurde, muss es jeder wiederholen. Und so sitzen die Hellseher der Nation vor den Tastaturen im sicheren Heim fern der faktischen Realität und klagen an: Die Polizei, die Kanzlerin, die Politiker und überhaupt alle, die nicht so sind, wie man selbst – also eigentlich alle anderen.
Der Apostel Petrus selbst kannte die Erfahrung, eigene Wahrnehmungslücken füllen zu müssen. In der ersten Auswahllesung der zweiten Lesung vom Fest „Taufe des Herrn“ im Lesejahr C heißt es:
In jenen Tagen begann Petrus zu reden und sagte: Wahrhaftig jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist. Apostelgeschichte 10,34f
Der kleine Textabschnitt entstammt dem größeren Erzählzusammenhang der Taufe des heidnischen Hauptmanns Kornelius. Er hatte in einer Vision die Begegnung mit einem Engel erfahren (vgl. hierzu Apostelgeschichte 10,1-8) und lässt daraufhin nach Petrus schicken. Petrus selbst weilt in Joppe und hat dort ebenfalls eine Vision (vgl. hierzu Apostelgeschichte 10,9-23a), die ihn allerdings ratlos zurücklässt, später aber zur Lehre wird:
Petrus war noch ratlos und überlegte, was die Vision, die er gehabt hatte, wohl bedeutete. Apostelgeschichte 10,17
Die Bedeutung der Vision wird freilich vorher in einem Satz zusammen gefasst:
Was Gott für rein erklärt, nenne du nicht unrein! Apostelgeschichte 10,15
Das ist die Lehre, die Petrus, der Jude, begreifen muss. Welche innere Lücke er davor überwinden muss, lässt sich erahnen, als er in der Begegnung mit dem Heiden Kornelius sagt:
Ihr wisst, dass es einem Juden nicht erlaubt ist, mit einem Nichtjuden zu verkehren oder sein Haus zu betreten; mir aber hat Gott gezeigt, dass man keinen Menschen unheilig oder unrein nennen darf. Darum bin ich auch ohne Widerspruch gekommen, als nach mir geschickt wurde. Nun frage ich: Warum habt ihr mich holen lassen? Apostelgeschichte 10,28f
Petrus hatte eben doch den inneren Widerspruch, das Vorurteil den Heiden gegenüber, das erst von Gott durch die Vision – also von höherer Stelle – überwunden wurde. Erst so kann er sagen:
Wahrhaftig jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist. Apostelgeschichte 10,34f
Nun gilt nicht mehr die nationale Herkunft, sondern ob jemand Gott fürchtet und tut, was recht ist.
In der Beurteilung eines Menschen geht es nicht um seine äußere Erscheinung. Es geht darum, ob er tut, was recht ist, und ob er Gott fürchtet. Genau das haben die Täter am Silvesterabend vor und im Kölner Hauptbahnhof eben nicht getan. Sie haben Menschen mit Worten verhöhnt und mit Taten verhöhnt, die die Täter als triebgesteuert entlarven. Welchem Gott geben sie so die Ehre? Dem Schöpfer, der den Menschen als Mann und Frau erschaffen hat, wohl kaum.
Genau so wenig tun die recht, für die das Wort „Nordafrikaner“ als Taterbeschreibung alleine schon ausreicht. Die Lücke der Kulturen, die sich am Silvesterabend aufgetan hat, betrifft nämlich nicht nur die kontinentalen Distanzen. Sie geht auch, wie die Auswüchse der PEGIDA-Demonstration am 9. Januar 2016 in Köln gezeigt haben (vgl. hierzu etwa Timo Steppat, „Dieses asoziale Verhalten ist nicht tolerierbar“, FAZ-online 9.1.2016), quer durch die deutsche Gesellschaft.
Kulturelles Wissen ist offenkundig keine Frage des Geburtsortes. Und doch ist der kulturelle Konsens Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Das ist die große Herausforderung, der sich die Gesellschaft stellen muss: Die kompromisslose Überwindung der kulturellen Lücken.
Das ist nicht mit „Multi-Kulti“ möglich, denn da im Multi-Kulti bleiben die Kulturen letztlich unter sich. Umgekehrt ist auch die Assimilation, die meist faktisch mit dem Wort „Integration“ bezeichnet wird, eine schwer zu gehender Weg, weil sie die Lebensgeschichten der Menschen und ihre Biographien verleugnet. Kulturelles Lernen ist ein Lernprozess, der Energie und Zeit in Anspruch nehmen wird. Es geht um die Vermittlung der kulturellen Werte, für die Europa steht. Das fängt bei der unterschiedslosen Begrüßung von Mann und Frau an und hört bei dem Respekt staatlichen Autoritäten gegenüber noch lange nicht auf. Dieser Lernprozess ist von Anfang an auch in den alltäglichen Begegnungen mit Konsequenz zu gehen. Wer hier bewusst oder unbewusst Lücken lässt, darf sich eben nicht wundern, wenn diese Lücken anderweitig gefüllt werden. Der Thron der Leader bleibt nie leer. Auf ihm sollten die richtigen Leute sitzen. Das sind meist nicht die, die sich für die Besten halten, sondern die, die sich selbst zu relativieren wissen. Gottesfurcht ist da nicht die schlechteste Eigenschaft, Rechtstreue auch nicht. Ein Blick in die Timelines der sogenannten sozialen Medien lässt allerdings zweifeln, ob die Kommentatoren, die vor allem Lückenbüßer für das eigene Weltbld der kleinen Karos suchen, für diese Aufgabe auch nur annähernd in Frage kommen. Mind the gap – Achte auf die Lücke!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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