Dies Domini – 9. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Die Begegnung mit dem Fremden bedeutet immer eine Herausforderung. Die fremde Sprache, die Andersartigkeit der Kultur, die unterschiedlichen Mentalitäten – all das muss kommunikativ erst einmal überwunden werden. Die Angst vor dem Fremden bedeutet zudem eine große Hürde, die überwunden werden muss. Nicht jeder will sich dieser Herausforderung stellen. Die Angst davor, sich selbst verändern und wandeln zu müssen, ist bei vielen groß. Manche leben geradezu davon, die Ängste vor dem Fremden zu schüren. Allein: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst führt in die Enge. Ihre Folge ist nicht Selbstentfaltung, sondern Selbstbeschränkung. Die Angst vor dem Fremden führt so letztendlich sogar zum Verlust der eigenen Identität. Wo die Angst die Herrschaft übernommen hat, ist das Selbstbewusstsein meist ferne.
Die Begegnung mit dem Fremden kann hingegen eine Bereicherung sein. Wohlgemerkt: Kann – sie muss es nicht. In jedem Fall erfordert die herausfordernde Begegnung mit dem Fremden ein gerüttelt‘ Maß an Überwindung. Es mag erstaunen, dass selbst Jesus hier überwunden werden muss. Das Markusevangelium etwa weiß von der Begegnung Jesu mit einer syrophönizischen Frau zu berichten. Jesus selbst hat seine Heimat verlassen und befindet sich auf fremden Terrain. Er ist in Tyrus. Dort begegnet er eben jener nichtjüdischen Frau, die sich an ihn mit dem Anliegen wendet, aus ihrer besessenen Tochter Dämonen auszutreiben. Jesus aber weist diesen Ansinnen zuerst brüsk zurück:
Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. (Markus 7,27)
Die Frau aber bleibt beharrlich. Sie lässt nicht locker:
Ja, du hast recht, Herr! Aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen. (Markus 7,28)
Mit diesem Einwand überwindet sie den Widerstand Jesu:
Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen. (Markus 7,29)
Es ist eine Augenblicksbegegnung, in der aus Fremden keine Freunde werden. Jesus und die Syrophönizierin bleiben einander fremd. Aber es ist eine Begegnung des Augenblicks, in der sich trotzdem Heil ereignet – die Tochter der Frau wird gesund (vgl. Markus 7,30).
Die erste Begegnung mit einem Fremden, von der das Lukasevangelium erzählt, bildet die innere Mitte des Evangeliums vom 9. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C. Jesus steht noch am Beginn seines öffentlichen Wirkens. Seine Bewegung ist noch jung. Seine Worte und Taten haben aber schon Konsequenzen gezeitigt. Eine erste Gefolgschaft hat sich gebildet (vgl. Lukas 5,1-11). Die ersten Heilungen haben sich herumgesprochen. Die Gemeinschaft um Jesus gewinnt genauso Gestalt im Kreis der zwölf Apostel (vgl. Lukas 6,12-16) wie die Zusammenfassung seiner Verkündigung in der sogenannten Feldrede (vgl. Lukas 6,20-49), die das lukanische Pendant zur Bergpredigt des Matthäusevangeliums ist. Das Evangelium vom 9. Sonntag im Jahreskreis setzt nach dem Ende dieser programmatischen Rede Jesu ein:
Als Jesus diese Rede vor dem Volk beendet hatte, ging er nach Kafarnaum hinein. (Lukas 7,1)
Der Text zeigt eine kleine Bewegung an. Jesus kehrt von der Peripherie des Feldes vor dem Ort Kafarnaum in den Ort selbst zurück. Kafarnaum darf wohl als Stützpunkt seines Wirkens gelten. So weiß das Matthäusevangelium:
Als Jesus hörte, dass man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, zog er sich nach Galiläa zurück. Er verließ Nazareth, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali. (Matthäus 4,12f)
Kafarnaum war also in der Anfangszeit seines öffentlichen Wirkens der Lebensmittelpunkt Jesu und seiner Gefolgschaft. Von hier aus organisierte er seine Arbeit. Schätzungen zufolge sollen zur Zeit Jesu ca. 1500 Menschen in Kafarnaum gelebt haben. Kafarnaum war also weniger eine Stadt, sondern eher ein Fischerdorf. Als Grenzort war Kafarnaum trotzdem von einer enormen militärstrategischen Bedeutung. Zu Zeiten des Herodes Antipas war Kafarnaum Stationsort einer Söldnertruppe. Der ausdrückliche Hinweis im Evangelium vom 9. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C, der Hauptmann (wahrscheinlich eben dieser Söldnergruppe) liebe das Volk der Juden und habe ihnen in Kafarnaum eine Synagoge gebaut (vgl. Lukas 7,5) deutet an, dass der Hauptmann selbst Nichtjude war.
In einem kleinen Fischerdorf dürften die Kontakte der Zivilbevölkerung zur Söldnergruppe schnell und informell entstanden sein. Es verwundert daher nicht, dass der heidnische Hauptmann von den Worten und Taten Jesu gehört hat. Bei der überschaubaren Bevölkerungszahl wird man sich möglicherweise sogar begegnet sein. Trotzdem blieb man sich fremd. Der Kontakt von Juden zu Nichtjuden beschränkte sich oft auf das Nötigste und Unvermeidbare. Gleichwohl scheint der Hauptmann von Kafarnaum vom jüdischen Glauben fasziniert gewesen zu sein. Nicht nur, dass er den Juden eine Synagoge im Ort errichten ließ. Er pflegte offenkundig engere Kontakte zu den jüdischen Ältesten, also den jüdischen Orts- und Synagogenvorstehern. Diese Kontakte waren sicher eine politische Notwendigkeit, mussten zwischen dem Hauptmann als militärisch Verantwortlichem und den jüdischen Verantwortlichen immer wieder diverse Absprachen getroffen werden. Das Miteinander zwischen solchen Ebenen kann durchaus Konfliktpotential in sich bergen. Hier aber scheint sich ein grundlegendes Vertrauensverhältnis entwickelt zu haben, denn der Hauptmann von Kafarnaum wendet sich offenkundig voll Vertrauen mit einem besonderen Anliegen an sein jüdisches Gegenüber:
Als der Hauptmann von Jesus hörte, schickte er einige von den jüdischen Ältesten zu ihm mit der Bitte, zu kommen und seinen Diener zu retten. (Lukas 7,3)
Von dem Diener wird zuvor gesagt, dass er todkrank war, dem Hauptmann aber sehr am Herzen lag. Der Hauptmann scheint also in vielerlei Hinsicht eine besondere Persönlichkeit gewesen zu sein – ausgestattet mit besonderem kommunikativen Talent und großer Empathie für seine Mitmenschen. Er ist wahrlich ein Fremder, von dem man Mitmenschlichkeit lernen kann.
Die Empathie zeigt sich gerade auch in der eher distanzierten Kommunikationsstrategie des Hauptmanns. Er weiß als Nichtjude, dass der direkte Kontakt für Jude schwierig ist. Möglicherweise hat sich auch Jesu – in den Evangelien nicht nur in der Begegnung mit der syrophönizischen Frau bekundete – Skepsis Fremden gegenüber zu ihm herumgesprochen. An einen, der seine Jünger mit den Worten aussendet:
Geht nicht zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. (Matthäus 10,5f)
wird sich auch ein selbstbewusster heidnischer Hauptmann mit seinem besonderen Anliegen nur zaghaft wenden. Er möchte ja etwas von Jesus. Da gilt es, geschickt vorzugehen.
So geht er also nicht selbst, sondern sendet die jüdischen Ältesten, die ihm durch verschiedene Kontakte offenkundig auch zu Vertrauten geworden sind, zu Jesus. Und die legen sich für den heidnischen Hauptmann ins Zeug, indem sie Jesus inständig bitten:
Er verdient es, dass du seine Bitte erfüllst; denn er liebt unser Volk und hat uns die Synagoge gebaut. (Lukas 7,4b.5)
Auch das ist geschickt formuliert. Die Ältesten scheinen fast mit Jesus zu handeln. Der Hauptmann hat mit dem Bau der Synagoge eine Art Vorleistung erbracht, die seine besondere Zuneigung zum jüdischen Volk unter Beweis stellt. Er verdient es eben, dass man ihm hilft, auch wenn er ein Heide ist.
Diese kleine Begebenheit zeigt, dass die Skepsis Jesu Fremden gegenüber durchaus bekannt war. Das ursprüngliche Ziel Jesu war die Wiederherstellung der Identität des jüdischen Volkes. Der Ruf zur Umkehr und die Botschaft vom nahen Reich Gottes, die Jesus verkündete (vgl. Markus 1,15), richteten sich zuerst an Israel. Erst nach seiner Auferstehung vom Kreuzestod wird der Auferstandene seine Jünger in die Welt entsenden:
Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt. (Matthäus 20,18b-20)
Dem irdischen Jesus aber musste man hier offenkundig mit einer gewissen Vorsicht begegnen, um sein Ziel zu erreichen.
Die Strategie des Hauptmanns und der jüdischen Ältesten aber geht auf. Jesus geht mit ihnen. In Sichtweise des Hauses angelangt aber scheint den Hauptmann der Mut zu verlassen. Er ahnt wohl, wer da auf dem Weg zu ihm ist. Er spürt, dass da jemand mit einer besonderen Vollmacht kommt. Sein Respekt vor dem jüdischen Volk gebietet ihm deshalb eine gewisse Distanz, so dass er erneut Vertrautet – Lukas spricht von Freunden – zu Jesus schickt und durch sie ausrichten lässt:
Herr, bemüh dich nicht! Denn ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst. Deshalb habe ich mich auch nicht für würdig gehalten, selbst zu dir zu kommen. Sprich nur ein Wort, dann muss mein Diener gesund werden. (Lukas 7,6bf)
Das Vertrauen auf Jesus ist groß. Der Hauptmann geht davon aus, dass ein einziges Wort Jesu reicht, um die Heilung des Dieners zu bewirken. Bemerkenswert ist die Begründung für dieses Vertrauen:
Auch ich muss Befehlen gehorchen, und ich habe selber Soldaten unter mir; sage ich nun zu einem: Geh!, so geht er, und zu einem andern: Komm!, so kommt er, und zu meinem Diener: Tu das!, so tut er es. (Lukas 7,8)
Offenkundig sieht der Hauptmann in Jesus eine göttliche Autorität wirksam. Wie ihm die Soldaten aufs Wort gehorchen müssen, so müssen die Mächte und Gewalten auf Jesus hören. Es reicht also, dass Jesus einen Befehlt ausspricht – genauso wie es reicht, dass er als Hauptmann einen Befehl ausspricht, ohne seinen Soldaten unmittelbar gegenüber zu stehen.
In dieser Analogie, die aus dem Alltag des Hauptmanns stammt, wird sein Vertrauen in die Macht Jesu erkennbar. Es ist geradezu ein Gelöbnis, dass er auf Jesus ablegt. Ein Gelöbnis aber begründet den Glauben. Beide Begriffe sind nicht umsonst im Deutschen miteinander verwandt. Glaube gründet auf einem Gelöbnis bzw. einem Bekenntnis, dem eine Erkenntnis vorausgeht. Hier wird deutlich, das Glaube und Wissen eben keinen Widerspruch darstellen, wie manche heute oberflächlich behaupten. Vielmehr gehen Wissen und Erkenntnis dem Glauben voraus. Wer legt schon ein Gelöbnis ab, wenn die Erkenntnislage unsicher ist.
Es ist also konsequent, wenn Jesus – nicht ohne erstaunt zu sein – zu den hinter ihm Stehenden, die ihm also leibhaftig „folgen“, sagt:
Ich sage euch: Nicht einmal in Israel habe ich einen solchen Glauben gefunden. (Lukas 7,9b)
Das Gelöbnis des Hauptmanns zur Macht Jesu führt letztlich zur Heilung des Dieners. Es ist eine Heilung auf Distanz. Dabei hat Jesus hat noch nicht einmal ein Wort der Heilung gesprochen. Offenkundig ist das gar nicht der Impetus der Erzählung. Der Hauptakzent liegt vielmehr auf der kommunikativen Dynamik, die in dem Dreieck Hauptmann – Vermittler (jüdische Älteste/Freunde) – Jesus sichtbar wird. Es ist eine Kommunikation über Bande. Der Text ist voller Distanzen. Es scheint zu gar keiner echten Begegnung zwischen dem Hauptmann und Jesu zu kommen. Sie bleiben sich fremd. Und doch ereignet sich das Heil, weil beide die Herausforderung der Kommunikation annehmen. Es ist eine Kommunikation auf Distanz. Aber auch diese Kommunikation heilt, weil sie den anderen trotz seines Fremdseins anspricht.
Es kommt aber noch etwas hinzu. Objekt der Heilung sind weder der Hauptmann noch Jesus. Es geht gewissermaßen um einen unbeteiligten Dritten – den Diener des Hauptmanns. Er spielt in der Dynamik des Textes scheinbar eine Nebenrolle. Und doch ist er der Katalysator, die die Kommunikation zwischen den Fremden, die einander auch fremd bleiben, in Gang. Die Kommunikation ist nicht selbstgefällig. Sie ist in jeder Hinsicht dienlich, auf ein anderes Ziel ausgerichtet, dem Heil eines anderen. Hier liegt ein bedeutsamer Unterschied zur Anrufung aus der römisch-katholischen Liturgie, bei der die Gemeinde in der Anschauung des erhobenen Leibes Christ ausruft:
Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.
Der Satz ist dem Evangelium, das am 9. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C entlehnt, aber eben doch entscheidend verändert. Auch hier ist die ehrfurchtvolle Distanz zwischen den Rufenden und dem Angerufenen spürbar. Das heilende Wort gilt hier aber nicht anderen Menschen, sondern der eigenen Seele.
Das Ich und dessen Erlösung tritt in der Anrufung der Liturgie an die Stelle des Altruismus des Hauptmanns. Das ist mehr als eine Perspektivverschiebung, denn es verengt den Blick weg von den Menschen auf das eigene Selbst. Wer nur auf das eigene Heil schaut, für den werden die Herausforderungen von Welt und Zeit zur Bedrohung. Den Christen wäre mehr Vertrauen zuzumuten, haben sie ihr Gelöbnis doch auf den abgelegt, der spricht:
Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. (Matthäus 28,20)
Die Erzählung vom Hauptmann von Kafarnaum hingegen lehrt, dass Fremde nicht unbedingt Freunde werden müssen. Wenn Friede in der Welt werden soll, dann müssen sie aber miteinander reden – wenn es sein muss, über Bande. Die Kommunikation an sich schafft eine Nähe, auch wenn die physische Distanz bleibt. Der Text lässt offen, ob Jesus und der Hauptmann von Kafarnaum sich nicht doch noch direkt begegnet sind. Sie mögen sich fremd geblieben sein. Nachbarn waren sie im Fischerdorf Kafarnaum allemal!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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