Dies Domini – 12. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Der Blick in die Welt ist immer parteiisch. Der Mensch kann nicht anders. Er ist verdammt dazu, die Welt um sich herum von seinem eigenen Standpunkt aus zu betrachten. Er ist immer der Mittelpunkt seines eigenen selbstgemachten Weltbildes. Die Verführung der solipsistischen Verabsolutierung der eigenen Sichtweise ist groß; jede andere Wahrnehmung könnte die eigene Definition der Wahrheit in Frage stellen. So schafft der Mensch sich eigene Räume, in denen der Horizont auf das eigene Sichere Unhinterfragbare verengt wird. Einer Makuladegeneration gleich wird so aber auch der Blick auf die Umwelt zunehmend verengt, bis man schließlich den selbstgestalteten Raum für das Eigentlich hält. Was wahr ist, ist dann schon längst keine Frage eines annähernd objektiven Diskurses mehr. Wahr ist das, was der Einzelne für wahr halten möchte. Wahrheit ist keine Herausforderung mehr, sondern ein wohliges Befinden in dem, was man sich als schön zurechtgemacht hat. Nichts darf darin stören. Nichts darf in Frage stellen. Der Zweifel, jener Freund der Wahrheit, der zur Selbstvergewisserung drängend penetrant zur tieferen Erforschung ihrer selbst antreibt, wird im psychedelischen Schein bunter Lampen und leicht wabernder Tücher in pastellenen Farben erstickt. Es ist kein Wunder, dass die behauptete Schönheit längst an die Stelle errungener Wahrheit getreten ist.
Auch die Kirche ist von dieser sich epidemisch verbreitenden Haltung nicht verschont geblieben. Wo einst die Nachfolgerinnen und Nachfolger des vom Kreuzestod Auferstandenen zu Apologeten heranreiften, die sich in hartem Ringen und klarer Sprache mit den Strömungen ihrer Zeit auseinandersetzen, sich verteidigen mussten und gerade darin Profil und Haltung gewannen, wird das harte Licht heute gedimmt bis die Augen vom Spiel der LED-erzeugten Farbenspiele irritiert nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden können. „Räume der Stille“ nennt man sie nicht selten, diese Ausgeburten einer spirituellen Autosuggestion, die Gott zwingen möchte, sich in der Lautlosigkeit zu Wort zu melden – aber bitte nicht zu laut, weil die Stille sonst ja nicht mehr still wäre. Ob Gott wirklich so still sein kann, wie es der selbstverliebte Mensch gerne hätte – jener Gott, von dem es in der Heiligen Schrift heißt:
Die Stimme des Herrn erschallt über den Wassern. Der Gott der Herrlichkeit donnert, der Herr über gewaltigen Wassern. Die Stimme des Herrn ertönt mit Macht, die Stimme des Herrn voll Majestät. Die Stimme des Herrn zerbricht die Zedern, der Herr zerschmettert die Zedern des Libanon. Er lässt den Libanon hüpfen wie ein Kalb, wie einen Wildstier den Sirjon. Die Stimme des Herrn sprüht flammendes Feuer, die Stimme des Herrn lässt die Wüste beben, beben lässt der Herr die Wüste von Kadesch. Die Stimme des Herrn wirbelt Eichen empor, sie reißt ganze Wälder kahl. In seinem Palast rufen alle: O herrlicher Gott! (Psalm 29,3-9)
Wie weit entfernt ist ein Gott wohl von jenen Räumen der Stille, die er selbst nicht zu suchen scheint. Gott ist laut. Er ist dort, wo es laut ist. Er ist im Lärm der Welt. Er ist im lauten Streit derer, die die Wahrheit suchen. Ist es da ein Wunder, dass in jüdischen Lehrhäusern so laut gestritten wird? Ist es ein Wunder, dass die Räume der Stille oft so merkwürdig leer sind, weil die Menschen doch eher die Wahrheit suchen, die man nie nur selbst finden kann, sondern nur im – manchmal auch lautstarken – Streit? Ist es ein Wunder, dass der, der nach langem Suchen endlich einen Hauch der Wahrheit Gottes erahnt – und sei es im Erschrecken über seine lärmende Größe –, nur jubeln kann, wie es im Antwortpsalm des 12. Sonntages im Jahreskreis des Lesejahres C heißt:
Ich will dich rühmen mein Leben lang, in deinem Namen die Hände erheben. Wie an Fett und Mark wird satt meine Seele, mit jubelnden Lippen soll mein Mund dich preisen. (Psalm 63,5f)
Wie wenig ist von diesem ergreifenden Jubel in der pastell-sedierten Stille jener Räume zu spüren, in denen sich die spirituelle Leere manifestiert, die nur allzu oft als Spiritualität bezeichnet wird, in denen sich aber doch nur das Unvermögen zu echter Verkündigung Ausdruck verschafft. Verkündigung aber braucht Adressaten. Ohne Adressaten kann es keine Verkündigung geben. In der Stille kann man nicht verkündigen. Wo keine Menschen sind, kann man nicht verkündigen. Wer wirklich und wahrhaftig verkünden will, darf keine Räume bauen, denn Räume schaffen Schwellen, bestehen aus Mauern und grenzen ab zwischen drinnen und draußen. Drinnen ist dann das wohlig Heilige, draußen die laute Welt. Ist Gott aber nicht in dieser Welt, in der die Zedern des Libanon brechen und die Wüste von Kadesch erbebt? Ist er nicht in der Wildnis der Großstadt und ihren Betonwüsten? Ist er nicht in den Häuserschluchten und Wohnhöhlen? Reicht es wirklich, dass sich diejenigen, die sich vor diesem lauten Gott lau in den selbstkonstruierten Räumen autosuggestiver Spiritualitäten verschanzen und warten, dass andere sie in der eigenen Selbstverliebtheit bestätigen? Eine Kirche, die so auf die Menschen wartet, um sich ihrer selbst zu vergewissern, verrät ihr inneres Wesen. Das Wesen der Kirche aber ist Verkündigung.
Wie aber kann die Kirche aus der selbstgegrabenen, immerhin aber bunt beleuchteten und weich gepolsterten Grube befreien? Das Evangelium vom 12. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C zeigt einen Ausweg. Es beginnt mit dem Ideal moderner Pastoralstrategen – mit der Einsamkeit:
Jesus betete einmal in der Einsamkeit. (Lukas 9,18a)
Der Text ist deutlich gegenüber dem vorhergehenden Kontext abgegrenzt. Dort wurde die Speisung der Fünftausend erzählt, jenes Lehrstück der Entgrenzung mit dem die Jünger Jesu konfrontiert werden. Sie wollten sich zurückziehen mit ihren fünf Broten und zwei Fischen und Ruhe haben. Jesus aber lässt genau das nicht zu. Alles sollen sie geben, alles, was sie haben: Fünf Brote, zwei Fische, ihre Zeit. Das Evangelium vom 12. Sonntag im Jahreskreis im Lesejahr C geht aber noch weiter. Die Nachfolger Jesu sollen nicht nur Habe und Zeit teilen. Sie sollen ihr Innerstes geben, ihr Leben!
Genau diese Steigerung wird schon in der griechischen Einleitung des Abschnittes deutlich: καὶ ἐγέντο (gesprochen: kaì egéneto) – „und es begab sich“; auf das Lehrstück der Brotvermehrung folgt der entscheidende Erkenntnisfortschritt. Erkenntnis braucht Träger; Verkündigung braucht Adressaten. Die, die erkennen sollen, sind bei Jesus:
Und die Jünger waren bei ihm. (Lukas 9,18b)
Die Einsamkeit Jesu war also nicht vollkommen. Jesus betet in der Mitte der Jünger. Sie werden wohl kaum still gewesen sein. Sie werden diskutiert haben über das, was sie erlebt haben, über jene Absurdität der Brotvermehrung, alles zu geben, was sie hatten, Brote, Fische, Zeit, und doch satt geworden zu sein. Konnten sie schweigen angesichts dieser außergewöhnlichen Erfahrung? Oder waren die Herzen so voll, dass der Mund überfloss? Der Ort des Gebetes Jesu war in der Mitte der Aufregung.
Er wird wohl mitbekommen haben, worüber sie so sprachen. Mitten aus dem Gebet heraus mischt er sich in das Gespräch ein:
Für wen halten mich die Leute? (Lukas 9,18c)
Das ist eine kluge Frage, wenn man um die Begrenztheit der eigenen Selbstwahrnehmung weiß. Für wen halten die Leute die Kirche – das wäre eine gute Frage, bei der eine zeitgemäße Pastoralstrategie ansetzen könnte.
Die Antwort der Jünger ist wenig überraschend. Sie reflektiert die gängigen Vorurteile der Zeit. Das Volk ist selten kreativ. Die Masse ist zu träge. Jede Beteiligung der Basis orientiert sich deshalb an dem allgemein Bewährten:
Sie antworteten: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elija; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden. (Lukas 9,19)
Das ist das, was das Volk kannte. Johannes der Täufer, Elija, die Altvorderen. Eine Prominente der Gegenwart, ein Idol der Vergangenheit und die Ahnen – diese Antworten sind zu allen Zeiten erwartbar und mehrheitstauglich. Die Trägheit der Masse interpretiert alles Neue auf dem Hintergrund des Gewöhnlichen. Die Banalität des Schönen befördert jene Trägheit. Am Glanz der Idole kann man sich ergötzen ohne selbst betroffen zu sein. Das waren noch Zeiten!
Jesus aber reizt zum entscheidenden Gedankenfortschritt. Er wechselt erneut die Perspektive. Aus dem Blick nach außen wir ein Blick nach innen. Der Blick nach innen fordert nun der Jünger Lippen zum Bekenntnis heraus.
Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich (Lukas 9,20a)
Stellvertretend für die anderen antwortet Petrus:
Für den Messias Gottes. (Lukas 9,20b)
Das ist so neu, dass es für viele zu viel sein dürfte. Die Menschen könnten das Neue noch nicht fassen – und die Jünger auch nicht. Deshalb verbietet Jesus ihnen streng, anderen zu diesem Zeitpunkt davon zu erzählen (vgl. Lukas 9,21). Die Gefahr ist zu groß, dass es beim Lippenbekenntnis bleibt. Wahre Erkenntnis aber drängt in die Welt. Das Innere drängt nach außen. Wovon das Herz voll ist, davon soll der Mund überfließen. Eine bewegte Zunge ohne rege Hände und Füße aber macht bloß das Maul groß. Bevor ihre Lippenbekenntnisse Herpes bekommen, müssen die Jünger noch lernen, dass Gott keine Leisetreterei mag. Das Bekenntnis der Jünger, stellvertretend durch Petrus zum Ausdruck gebracht, hat Konsequenzen. Es bedarf daher einer dringenden Ergänzung durch Jesus:
Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er wird getötet werden, aber am dritten Tag wird er auferstehen. Zu allen sagte er: Wer mein Jünger sein will, der verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten. (Lukas 9,22-24)
Man kann den Namen Jesu nicht ohne Konsequenzen im Munde führen. Man kann Gott nicht nur im Geiste anrufen, jenen Gott, dem es gefallen hat, Menschengestalt anzunehmen, sich zu verweltlichen, weil die Welt immer schon aus ihm war.
Wer Jesus nachfolgt, so die Quintessenz der Mahnung Jesu, kann das nicht nur ein bisschen tun. Wer Jesus nachfolgt, hat nicht nur nichts davon. Wer Jesus wirklich nachfolgt, muss nicht nur bereit sein, seine Habe und seine Zeit einzusetzen, sondern auch sein Leben.
Leben – der griechische Text verwendet hier das Wort ψυχή (gesprochen: psyché). Ψυχή kann sowohl mit „Seele“ als auch mit „Leben“ übersetzt werden. Das zeigt den engen Zusammenhang an zwischen dem, was die deutsche Sprache als „Seele“ und „Leben“ bezeichnet. Die Seele ist in diesem Sinn die Trägerin des des Lebens. Das gilt auch und insbesondere für das äußerliche, irdische Leben, das nicht vom inneren Lebensprinzip der ψυχή zu trennen ist. Sie bildet in gewisser Weise das innerpersonale Gegenüber zum göttlichen Geist, der als göttlicher Hauch Leben überhaupt erst ermöglicht. So schreibt Paulus im ersten Brief an die Thessalonicher:
Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar und bewahre euren Geist (πνεῦμα) und eure Seele (ψυχή) und euren Leib (σῶμα) unversehrt, damit ihr ohne Tadel seid, wenn Jesus Christus, unser Herr, kommt. (1 Thessalonicher 5,23)
Geist (πνεῦμα – gesprochen: pneûma), Seele (ψυχή) und Leib (σῶμα – gesprochen: sôma) bilden die Grundlagen der Existenz. Der Geist verleiht Leben, die ψυχή ist das Lebensprinzip und der Leib die Gestalt des Lebens. Niemand kann ohne den Geist leben. Er ist der Lebensspender, der göttliche Lebensatem. Niemand kann ohne Leib sein. Es ist der Leib, der Identität verschafft. Die Seele, die ψυχή aber macht die Individualität aus. Für Paulus ist sie nicht mit dem Geist identisch. Sie steht dem Geist gegenüber. Es ist die ψυχή, die dem Menschen Freiheit ermöglicht, ja sogar die Freiheit, sich gegen Gott und sein πνεῦμα zu stellen. Seele und Geist können deshalb nicht identisch sein, weil Freiheit sonst nicht möglich wäre. Aus diesem Grund finden sich im Schreiben an die Hebräer auch folgende mahnende Worte:
Lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele (ψυχή) und Geist (πνεῦμα), von Gelenk und Mark; er richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens. (Hebräer 9,12)
Wer vorschnell ψυχή und Geist (πνεῦμα) in eins setzt, wer also vorschnell die eigenen Bedürfnisse für die Stimme Gottes hält, erliegt nicht nur einem Irrtum; er setzt sich auch dem Gericht aus.
Jesus fordert also seine Jünger ein, die eigenen Bedürfnisse aufs Spiel zu setzen. Sie sollen nicht das, was sie für die Schönheit des Glaubens halten, mit der Härte des Glaubens verwechseln – eben jenes Glaubens, der auf nichts Schönem aufbaut, sondern auf der Grausamkeit des Kreuzestodes, dessen Male auch der Auferstandene noch am Leibe trägt. In der Fortführung der Gedanken, mit denen das Evangelium vom 12. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C zu enden scheint, werden deshalb auch hier die Konsequenzen aufgezeigt:
Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sich selbst verliert und Schaden nimmt? Denn wer sich meiner und meiner Worte schämt, dessen wird sich der Menschensohn schämen, wenn er in seiner Hoheit kommt und in der Hoheit des Vaters und der heiligen Engel. (Lukas 9,25f)
Wer den Namen Jesu im Munde führt, darf sich nicht schämen. Er darf sie nicht leise flüstern oder still bekennen. Er muss sie ausrufen in die Welt, sonst nimmt er selbst Schaden, weil er das Eigengemachte für eine göttliche Botschaft hält. Die Welt aber ist aus Gott, und Gott ist in der Welt. Seine Stimme muss laut erschallen im Jubel derer, die von ihm ergriffen sind.
Die Jünger Jesu aber haben noch zu lernen; viel zu lernen haben sie. Alle die bisherigen Erfahrungen, all die Belehrungen, ja selbst das unmittelbare Erleben der Herrlichkeit Gottes, wie es in der unmittelbar anschließenden Erzählung von der Verklärung Jesu geschildert wird (vgl. Lukas 9,28-36) führt doch wieder zu dem Altbewährten. Nachdem Jesus mit Mose und Elija gesprochen hat, wollen die Petrus, Jakobus und Johannes nur eins: Hütten bauen, kleine Hüttchen, so wie man heute mit Vorliebe Räume einrichtet, in denen das lebendige Wort Gottes gezähmt werden kann, bis es niemandem mehr wehtut, keinen berührt, und niemand vor dem lauten Donnerwort Gottes erschrickt:
Als die beiden sich von ihm trennen wollten, sagte Petrus zu Jesus: Meister, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. Er wusste aber nicht, was er sagte. (Lukas 9,33)
Gott aber lässt sich nicht zähmen:
Während er noch redete, kam eine Wolke und warf ihren Schatten auf sie. Sie gerieten in die Wolke hinein und bekamen Angst. Da rief eine Stimme aus der Wolke: Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören. (Lukas 9,24f)
Die Jünger schwiegen zuerst. Aber es werden Zeiten kommen, da werden sie ihr Schweigen endlich brechen. Als der Geist ihre Seelen entzündet, werden sie die Türen ihres Raumes aufbrechen und das Wort Gottes verkünden. An diesem ersten Pfingsten werden sie die ersten Menschen für Jesus gewinnen – draußen in der Welt.
Heute aber sitzen sie wieder in den Räumen und warten, dass etwas passiert. Dabei ist der Geist doch längst schon in sie eingegossen. Ihre Seelen aber lieben halt Mauern und warme weiche Tücher in sanftem Licht …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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