Dies Domini – Zweiter Fastensonntag, Lesejahr A
Ecken und Kanten sind es, die Halt geben. Man mag sich an ihnen stoßen, ja bisweilen gar verletzen. Aber man kann sich an ihnen eben auch festhalten. Wo hingegen aalige Glätte herrscht, ist kein Fortkommen in die Höhe möglich. Jeder Verkreisung einer kantigen Ecke mag die unmittelbare Verletzungsgefahr mildern, wie man es für Kinder tut, deren Unachtsamkeit man in Rechnung stellt. Erwachsene hingegen darf man nicht wie Unmündige behandeln, denn die Schleifung jedweder Unebenheit mindert nicht nur den Halt; sie zerstört auch immer das Original. Wenn das Eckige rundgemacht wird, ist es eben nicht mehr eckig. Es hat sein eigentliches Wesen eingebüßt und ist in ein anderes überführt worden. Das, was einst in seiner kantigen Schärfe herausforderte, ist nun gefällig, irgendwie aber eben auch belanglos geworden. Die Verkreisung des Eckigen gleicht einer Demenz des Ursprungs. Das Eigentliche gerät so nicht nur in Vergessenheit; wer Erwachsenen den harten Halt von Ecken und Kanten nicht mehr zumuten möchte, senilisiert und entmündigt sie.
Nun teilen gerade biblische Texte nicht selten das Schicksal radikaler Bescherungen. In der Regel begegnen viele Menschen dem biblisch beurkundeten Wort Gottes gerade in liturgischen Zusammenhängen. In jeder sonntäglichen Eucharistiefeier werden – den Antwortpsalm eingeschlossen – vier biblische Texte verkündet. Nicht immer erschließt sich dem Kundigen die Intention derer, die die Texte für die Leseordnung zusammengestellt haben. Selten gelingt es, Kontext und innere Dramaturgie der Textausschnitte zu erahnen. Nicht selten hingegen bringen Auslassungen und die eigentliche Perikopierung sogar völlig neue Sinnzusammenhänge zustande, die die Texte in ihren ursprünglichen Kontexten gar nicht hatten. Dabei weist schon das Wort „Perikope“ an sich auf die eigentliche Gefahr hin. Es geht auf das griechische περιϰοπή (gesprochen: perikopé), das ursprünglich ein „rings umhauenes Stück“ bezeichnet (von περί/perí – um herum und κόπτειν/kóptein – schneiden).
Als Perikope bezeichnet man in diesem Sinne Textabschnitte, die gottesdienstgerecht beschnitten sind. Die römisch-katholische Leseordnung berücksichtigt in der Regel die inneren Sinnzusammenhänge der Textabschnitte, auch wenn durch die Perikopierung häufig der Gesamtzusammenhang verloren geht. Hin und wieder aber fragt sich die kundige Leserin bzw. der kundige Leser, was die Herausgeber der Perikopenordnung zu eben dieser Abschnittswahl getrieben hat. Ein gutes Beispiel für eine solche Beschneidung kontextualer Zusammenhänge stellt die zweite Lesung vom 2. Fastensonntag im Lesejahr A dar:
Mein Sohn! Leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft: Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde; jetzt aber wurde sie durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus offenbart. Er hat dem Tod die Macht genommen und uns das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium. (2 Timotheus 1,8b-10)
In der vorliegenden Form wirkt allein schon die Anrede „Mein Sohn!“ unvertraut. Die Gottesdienstbesucherinnen und –besucher dürften als Briefanrede gemeinhin das vertraute „Brüder“ bzw. „Brüder und Schwestern“ gewohnt sein. Diese Anrede macht nicht nur die besondere kommunikative Qualität des verkündeten Textes deutlich, der als Brief eben auf eine unmittelbare und direkte Kommunikation zwischen einem Absender und einem Adressaten zurückgeht; indem die gottesdienstfeiernde Gemeinde nun direkt als „Schwestern und Brüder“ angesprochen wird, wird sie selbst in die Kommunikation einbezogen. Die alte Botschaft gilt nun ihr. Das Wort Gottes wird jetzt vergegenwärtigt. Der alte Text wird aktual verkündet und nimmt im hier und jetzt durch die Verkündigung der Lektorinnen und Lektoren Gestalt an.
All dem widersetzt sich die Anrede „Mein Sohn!“. Sie signalisiert, dass der Text eine andere kommunikative Situation voraussetzt. In der Tat ist der 2. Timotheusbrief auch kein Brief, der eine Gemeinde als Adressatin intendiert. Adressat ist ein Timotheus, der bereits in 2 Timotheus 1,2 vom Absender, der in 2 Timotheus 1,1 als Paulus angegeben wird, von diesem als „mein Sohn“ angeredet wird.
Tatsächlich kann es sich bei dem Absender des Schreibens nicht wirklich um Paulus, den Heidenapostel handeln. Paulus ist Mitte der 60er Jahre des ersten christlichen Jahrhunderts unter Kaiser Nero hingerichtet worden. Die Tatsache aber, dass der Absender des 2. Timotheusbriefes in 2 Timotheus 1,5 den adressierten Timotheus an den Glauben seiner Großmutter Lois und seiner Mutter Eunike erinnert, deutet darauf hin, dass das Schreiben in einer Zeit verfasst wurde, in der der christliche Glaube schon mindestens in die dritte Generation weitergegeben wurde. Die Abfassungszeit wird daher eher im auslaufenden ersten Jahrhundert – also rund 30 Jahre nach dem Tod des Paulus zu veranschlagen sein. Dass trotzdem Paulus als Absender aufgeführt wird, entspricht einer damals weit verbreiteten Praxis, dass man sich auf ehrwürdige Autoritäten berief, in deren Tradition sich der Absender stellte.
Allein die in 2 Timotheus 1,2 verwendete Anrede „Mein Sohn“, die die Leseordnung an den Beginn der zweiten Lesung vom 2. Fastensonntag im Lesejahr A stellt, die sich aber auch im weiteren Verlauf des Schreibens in 1 Timotheus 2,1 findet, zeigt die besondere Qualität der Beziehung zwischen Absender und Adressat an. Wie intensiv die Beziehung ist, kann man auch aus der Aufforderung in 2 Timotheus 4,9 ahnen, wenn der Absender geradezu sehnsüchtig fleht:
Beeil dich, komm bald zu mir! (2 Timotheus 4,9)
Die besondere Bedeutung der Beziehung zwischen Absender und Adressat hat einen Grund. Sie sind durch einen besonderen Akt auf das Engste miteinander verbunden, an den der insinuierte Paulus dem Timotheus eindringlich erinnert:
Darum rufe ich dir ins Gedächtnis: Entfache die Gnade Gottes wieder, die dir durch die Auflegung meiner Hände zuteil geworden ist. (2 Timotheus 1,6)
Die Handauflegung ist ein uraltes, bereits in den Schriften des Alten Bundes zu findendes Zeichen, mit dem der Segen weitergegeben wird. So wird etwa von der Erschleichung des Segens Isaaks durch Jakob Folgendes erzählt:
Jakob trat zu seinem Vater Isaak hin. Isaak betastete ihn und sagte: Die Stimme ist zwar Jakobs Stimme, die Hände aber sind Esaus Hände. Er erkannte ihn nicht, denn Jakobs Hände waren behaart wie die seines Bruders Esau, und so segnete er ihn. Er fragte: Bist du es, mein Sohn Esau? Ja, entgegnete er. Da sagte Isaak: Bring es mir! Ich will von dem Wildbret meines Sohnes essen und dich dann segnen. Jakob brachte es ihm und Isaak aß. Dann reichte er ihm auch Wein und Isaak trank. Nun sagte sein Vater Isaak zu ihm: Komm näher und küss mich, mein Sohn! Er trat näher und küsste ihn. Isaak roch den Duft seiner Kleider, er segnete ihn und sagte: Ja, mein Sohn duftet wie das Feld, das der Herr gesegnet hat. Gott gebe dir vom Tau des Himmels, vom Fett der Erde, viel Korn und Most. Dienen sollen dir die Völker, Stämme sich vor dir niederwerfen, Herr sollst du über deine Brüder sein. Die Söhne deiner Mutter sollen dir huldigen. Verflucht, wer dich verflucht. Gesegnet, wer dich segnet. (Genesis 27,22-29)
Gleich mehrfach ist in dieser Perikope vom Segen die Rede – vom Segen und vom Essen. Die Aussage:
Ich will von dem Wildbret meines Sohnes essen und dich dann segnen. (Genesis 27,25)
scheint sogar einen besonderen Zusammenhang zwischen Segen und Essen zu insinuieren. Es scheint fast so, als müsse sich Isaak rein physisch mit Energie aufladen, die er dann im Segen handfest weitergibt. Dabei wohnt dem Segen gleichzeitig eine besondere Dimension inne: Mit dem Segen ist die Weitergabe von Vollmacht verbunden:
Dienen sollen dir die Völker, Stämme sich vor dir niederwerfen, Herr sollst du über deine Brüder sein. Die Söhne deiner Mutter sollen dir huldigen. Verflucht, wer dich verflucht. Gesegnet, wer dich segnet. (Genesis 27,29)
Die Formulierung erinnert an die Worte aus der ersten Lesung vom 2. Fastensonntag im Lesejahr A, wenn Gott zu Abram spricht:
Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. (Genesis 12,2f)
Die Vollmacht, diesen Segen Abrahams zu tragen, wird bei Isaak nun aber erweitert um die Aussage, er solle Herr über seinen Bruder sein. Herr kann aber immer nur einer sein. Deshalb gibt es keinen zweiten Segen dieser Art, den Isaak zu vergeben hätte – und der betrogene Esau geht leer aus. Jemanden zu segnen, hat also seine ganz eigenen Ecken und Kanten, die verletzen, aber auch Halt geben können.
In jedem Fall verdeutlicht das Beispiel des Segens Isaaks die physische Dimension des Segens. Dem Segen in sich eignet eine physische Dimension. Er ist nicht nur gutes Wort, sondern auch zeichenhafter Vollzug, physisch vermittelt Kommunikation, die sich in der zeichenhaften Berührung ereignet. In der Berührung – wahrscheinlich der Handauflegung – verschmelzen die Personen, Energie kann fließen, Vollmacht wird weitergegeben. So ereignet sich Segen.
Ähnliches intendiert auch die in 2 Timotheus 1,6 erwähnte Handauflegung, in der Timotheus durch den so genannten Paulus eine besondere Gnade Gottes erhalten hat. Diese Gnade wird im Weiteren so beschrieben:
Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. (2 Timotheus 1,7)
Die mit der Handauflegung vermittelte Vollmacht, die in besonderer Weise der Verkündigung des Evangeliums (vgl. 2 Timotheus 2,1-13) und dessen Verteidigung gegen Irrlehrer (vgl. 2 Timotheus 2,14-26) gilt – Aufgaben, die eines ἐπίσκοπος (gesprochen: epískopos) gebühren, eines Bischofs, der eine Gemeinde leitet.
Die Handauflegung vermittelt aber nicht nur Vollmacht. Sie schafft auch eine geradezu intime Beziehung zwischen dem, der die Hände auflegt, und dem, dem die Hände aufgelegt werden. Das zeigt sich nicht nur in der Anrede „mein Sohn“, die ein familiär-autoritatives Beziehungsgefüge impliziert. Der so Bevollmächtigte soll sich auch am Vorbild des Vollmachtgebers orientieren – eben wie Söhne sich an Vätern orientieren sollen:
Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin. (2 Timotheus 1,8a)
An diese Aufforderung schließt sich nun die zweite Lesung vom 2. Fastensonntag im Lesejahr A an – und zwar vermittelt durch die Partikel ἀλλά (gesprochen: allá – „sondern“), so dass das Satzganze eigentlich lautet:
Schäme dich also nicht, dich zu unserem Herrn zu bekennen; schäme dich auch meiner nicht, der ich seinetwegen im Gefängnis bin, sondern leide mit mir für das Evangelium. (2 Timotheus 1,8)
Genau diesen Zusammenhang unterschlägt die Zuschneidung der Leseordnung. Das Leiden für das Evangelium ist kein Selbstzweck. Es ergibt sich aus der besonderen Situation. Jede Situation hat ihre eigenen Herausforderungen, Ecken und Kanten. Das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem, der vom Kreuzestod auferstanden ist, erfordert bisweilen aber eben auch Standhaftigkeit. Es ist alternativlos. Falsche Kompromisse sind nicht möglich. Gerade das zeigt der intendierte Paulus an seinem eigenen Lebensbeispiel: Ihn hat der Glaube ins Gefängnis gebracht – und er ermahnt den, dem er durch Handauflegung wie zum Vater geworden ist, sich seiner nicht zu schämen.
Die zweite Lesung vom 2. Fastensonntag im Lesejahr A erzählt primär von dieser besonderen Beziehung zwischen dem Absender und dem Empfänger des Schreibens. Diese Beziehung ist in Gott selbst begründet – und das mit Kraft und Dynamik (δύναμις – gesprochen: dynamis):
Gott gibt dazu die Kraft (δύναμις). (2 Timotheus 1,8c)
Worin sich diese Kraft erwiesen hat, zeigt der Fortgang des Textes:
Er hat uns gerettet; mit einem heiligen Ruf hat er uns gerufen, nicht aufgrund unserer Werke, sondern aus eigenem Entschluss und aus Gnade, die uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt wurde; jetzt aber wurde sie durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus offenbart. Er hat dem Tod die Macht genommen und uns das Licht des unvergänglichen Lebens gebracht durch das Evangelium. (2 Timotheus 1,9f)
Auch hier beschneidet die Perikopenordnung den Text, der in V. 11 eigentlich mit
als dessen Verkünder, Apostel und Lehrer ich eingesetzt bin. (2 Timotheus 1,11)
weitergeführt wird. Das verkündete Evangelium ist gleichzeitig physische Energie, Kraft und Dynamik, die den Verkünder porentief durchdringt, sein Leben und Handeln prägt und das bis zur letzten Konsequenz. Verkünder ist man – das zeigt das Beispiels des Absenders des 2. Timotheusbriefes – nur ganz oder gar nicht sein; Verkünder ist man mit Haut und Haaren, vor allem aber mit Ecken und Kanten, an denen sich manche stoßen mögen, die aber eben auch Halt und Orientierung geben.
Wie unmittelbar diese Kräfte der Bevollmächtigung wirken, wird zu Beginn des Verses 10 deutlich:
Jetzt aber wurde sie durch das Erscheinen unsere Retters Christus Jesus offenbart. (2 Timotheus 1,10)
Gemeinde ist die Gnade Gottes, die in Jesus Christus offenbar geworden ist. Das hier verwendete Verb φανερωθεῖσαν (gesprochen: fanerotheîsan – ist offenbar geworden) ist grammatikalisch ein Aorist. Der Aorist ist eine altgriechische Aktionsart, die in der deutschen Sprache nur schwer nachzubilden ist. Sie bezeichnet kein eigentliches Tempus, sondern eine punktuelle, einmalige Handlung: Das Erscheinen der Gnade Gottes im Retter Christus Jesus – vor allem in seiner Auferstehung vom Kreuzestod – ist einmalig, aber eben auch ein für allemal gültig. Es bedarf keiner Erneuerung. Die Gnade gilt! Und sie gilt – was der Text betont – jetzt!
Jetzt ist immer. Jetzt ist in jedem Moment. Die einmalig bewirkte Gnade wirkt seit ihrer Offenbarwerdung in jedem Jetzt. Und das Jetzt ereignet sich in der Tätigkeit der Verkünder. Die Verkündigung ist in sich damit sakramental, denn sie vergegenwärtigt die in Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi offenbar gewordene Gnade Gottes.
Gerade hierin ereignet sich die durch die Handauflegung mit Kraft und Dynamik übertragene Vollmacht zur Verkündigung. Auf den Verkündern liegt der Segen Gottes, der den Menschen mit Leib und Seele und mit Seele und Leib erfasst. Es ist dieser Segen, mit dem jede und jeder Getaufte und Gefirmte beschert ist, denn auch die Firmung geschieht mit einer Handauflegung. Der Auftrag zur Verkündigung ist jedem Gefirmten erteilt – mit Brief und Siegel des Heiligen Geistes selbst. Getaufte und Gefirmte müssen deshalb die Botschaft vom Offenbarwerden der Gnade Gottes in Christus Jesus verkünden – mit Ecken und Kanten, anstößig und haltgebend. Dazu bedarf es keines besonderen Auftrages, denn der Auftrag ist längst erteilt. Er gilt, unbeschnitten und unbeschneidbar. Jetzt!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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