Dies Domini – 3. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Zeit kennt kein Comeback. Sie ist nicht reproduzierbar. Vergangene Zeit ist unwiederbringlich verloren. Zeit ist deshalb ein mehr als wertvolles Gut. Zeit ist Leben und Leben ist Zeit. Jemandem die Zeit zu stehlen ist zwar nicht justiziabel; gleichwohl wird dem so betrogenen Menschen ein Stück seines Lebens genommen. Der scheinbare Überfluss an Zeit ist da nur ein Täuschung.
Einmal verlebte Zeit ist verbraucht. Es ist gerade die Gewissheit des Todes, die früheren Generationen den Wert der Zeit vor Augen führt: Carpe diem – Hüte den Tag, das erweist der Zeit in dem Bewusstsein des memento mori, des „Bedenke, dass du sterben wirst“, eine besondere Ehre. Was jetzt verlebt wird, ist unwiederholbar gelebt, verlebt, genutzt oder verloren. Wer sich dessen bewusst ist, hat keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt (!) muss gehandelt, geliebt und gelebt werden. Die Zeit ist jenes Paradigma, das der Freiheit die Grenze der Beliebigkeit setzt.
Vielleicht sind gerade die in Gefahr, die in ständigem Kontakt mit dem Ewigen sind, zu denken, sie hätten alle Zeit der Welt. Wie sonst redeten gerade die Verantwortlichen der Kirche permanent von Zukunftsprozessen, selten bis nie aber vom heute. Die Zukunft liegt ja immer voraus. Wenn sie kommt, ist sie schon wieder vorbei. Die Zukunft ist unkonkret, das Jetzt aber der Ort des Lebens.
Deshalb wird, wer nur auf die Zukunft schaut, das Leben heute verpassen. Hier liegt doch der tiefere Sinn der Verheißung Jesu:
Sucht zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage. (Matthäus 6,33f)
Aus genau dieser Haltung heraus lebt auch Paulus. Für ihn war die Erwartung der Wiederkunft Christi kein Lippenbekenntnis, sondern eine Hoffnung von vitaler Realität, die auch in der zweiten Lesung vom 3. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B zum Ausdruck kommt:
Ich sage euch, Schwestern und Brüder: Die Zeit ist kurz. (1 Korinther 7,29a)
Das hier zu findenden Verb συστέλλειν (gesprochen: systéllein), das in der Einheitsübersetzung mit. „kurz“ wiedergegeben wird, bedeutet eigentlich: „zusammendrängen“, „beschränken“, „verkleinern“. Wörtlich übersetzt müsste es deshalb heißen:
Ich sage euch, Schwestern und Brüder: Die Zeit ist verkleinert worden.
Sie ist beschränkt. Es steht nicht mehr beliebig viel zur Verfügung. Angesichts der von Paulus als unmittelbar bevorstehend erwarteten Wiederkunft Christi heißt das, sich genau auf diese erwartete Ankunft zu konzentrieren und alles andere, was ablenken könnte, beiseite zu lassen:
Daher soll, wer eine Frau hat, sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht. (1 Korinther 7,29b-31)
Auf diesem Hintergrund erklärt sich auch die Mahnung zum allzeitigen Gebet im 1. Thessalonicherbrief, die eingewoben ist in eine Reihe von Mahnungen:
Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus. Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt! (1 Thessalonicher 5,17-22)
Das Heil ereignet sich stets im Jetzt. Aus dieser Haltung heraus sollen die Glaubenden leben. Wer aus dieser Haltung lebt, betet quasi im Leben selbst. Spiritualität ist dann nichts, was man macht, sondern eine Haltung, aus der man lebt. Gebet ist nichts Gemachtes, keine gefalteten Hände oder gebeugten Knie, keine fromm gemurmelten Worte, die im Angesicht des Höchsten doch nur plappernde Stammelei sind; ein solches Gebet ist das Leben selbst, die Haltung, dass der Alltag des Lebens die Sphäre ist, die Gott sich sucht, um dem menschen zu begegnen, so wie es auch im Evangelium vom 3. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B aufscheint:
Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm. Als er ein Stück weiterging, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und seinen Bruder Johannes; sie waren im Boot und richteten ihre Netze her. Sofort rief er sie, und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit seinen Tagelöhnern im Boot zurück und folgten Jesus nach. (Markus 1,16-20)
Der Text schildert zwei parallele Szenen. Jesus begegnet den Fischern, ruft sie an, sie folgen ihm. Zweimal wird die Dringlichkeit hervorgehoben: Sie ließen sogleich ihre Netze liegen und Jesus rief sie sofort an. In beiden Fällen verwendet Markus das griechische Wort ἐυθύς (gesprochen: euthys) – sofort!
Der Text atmet das Drängende. Es ist kaum vorstellbar, dass erfahrene Fischer mal so eben ihre Netze liegen lassen, um einem Fremden zu folgen, selbst wenn dieser Fremde Jesus ist. Historisch mag dem einiges vorangegangen sein. Möglicherweise bestehen die Kontakte zwischen Jesus und den so angesprochenen Jüngern schon länger. Möglicherweise hatte man schon länger den Plan, dass etwas geschehen muss in Israel. Und tatsächlich geschieht die Anrufung der Jünger ja nicht anlasslos. Das Signal war die Verhaftung Johannes des Täufers, jenes charismatischen Bußpredigers, dessen Ruf vom unteren Jordangraben bis hinauf nach Galiläa gehallt sein muss und dessen Predigt wohl auch den Mächtigen ein Dorn im Auge gewesen sein muss. Nicht ohne Grund schreibt Markus deshalb:
Nachdem man Johannes den Täufer ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Markus 1,14f)
Die Verhaftung Johannes des Täufers ist das Fanal für Jesus aus dem Dunkel der Geschichte in das Licht der Öffentlichkeit zu treten und seiner Verkündigung Gestalt zu geben. Und die Form dieser Verkündigung ist bemerkenswert:
Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! (Markus 1,15)
Ein Vers, zwei parallel gebaute Sätze, appellativ, kompakt – und im Mittelpunkt: Die Zeit!
Die Zeit ist erfüllt, sie ist voll, so voll, dass die Botschaft auf den Punkt gebracht werden muss: Kehrt um und glaubt, denn Gott ist nahe!
Keine Frage: Auch Jesus weiß, dass seine Worte der Erläuterung bedürfen. Er wird sie in Wort und Tat erläutern; mit seinem ganzen Leben wird er ihnen Gestalt geben – immer im Hier und Jetzt!
Wie sehr haben die Jüngerinnen und Jünger der Gegenwart doch verlernt, im Hier und Jetzt zu leben. Heute ist die Zeit, im Paradies zu sein! Wäre das nicht ein Ansatzpunkt, um das Verkünden neu zu lernen, statt die Zeit mit jahrelangen Zukunftsprozessen zu vertun, die sich schon im Prozess selbst überholt haben? Wo aber bleibt die Verkündigung heute? Wo geschieht heute der Trost der Trauernden, die Stärkung der Armen, die Zurechtweisung der Mächtigen, der Ruf in der Wüste? – ein Ruf, so kompakt und prägnant, dass er im Vorübergehen aufhorchen lässt: Kehrt um, glaubt, Gott ist da!
Statt jahrelanger, zeitvergessener und -vergeudender Strukturdebatten könnte eine Übung helfen, ohne die keine Verantwortliche und kein Verantwortlicher zu kirchlichen Sitzungen oder Stuhlkreisen einladen sollte: Folgen Sie dem Beispiel Jesu. Benennen Sie in maximal zwei Sätzen ohne Nebensätze das Ziel der Kirche! Danach sehen wir weiter …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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