Dies Domini. Erster Adventssonntag, Lesejahr C
Man kann es kaum glauben, wenn man in diesen Tagen durch die hell erleuchteten Straßen und Gassen der Städte läuft. Ein Lichtermeer bannt die Dunkelheit, die Nacht leuchtet hell wie der Tag. Es besteht kein Zweifel: Weihnachten naht. Der Mensch der Gegenwart setzt wieder einmal neue Maßstäbe – so wie Menschen es Generationen vor ihm gemacht haben. Ehedem war die Adventszeit eine Fastenzeit, die vierzig Tage vor der Weihnacht begann – am Tag nach dem 11.11., dem Martinstag. Fasten war damals eine Selbstverständlichkeit. In Zeiten, in denen der Kühlschrank noch nicht erfunden war und die vom Anfang des 15. Jahrhunderts bin in das 19. Jahrhundert währende sogenannte „kleine Eiszeit“ die Ernten witterungsbedingt nicht üppig ausfielen ließ, war Fasten geradezu eine Maßgabe der Vernunft: Nach der Herbsternte sparte man für den langen Winter Vorräte auf; am Ende des Winters waren die Vorräte dann aufgebraucht – man fastete erneut, weil einfach nichts mehr da war, diesmal allerdings vierzig Tage vor Ostern. Es fastet sich halt leichter, wenn man dem Unausweichlichen einen Sinn gibt. Transzendierter Hunger macht zwar immer noch nicht satt, aber man erträgt den Hunger möglicherweise leichter, wenn man ihn um Gottes willen auf sich zu nehmen glaubt.
Heutzutage sind die Regale in mitteleuropäischen Landen ganzjährig gefüllt. Zimt, Kardamom und andere Gewürze, die in früheren Jahrhunderten die Speisen haltbar machten, kitzeln die Gaumen jetzt durchgehend. Das kleineiszeitlich geprägte kollektive Gedächtnis germanischer Prägung sieht in Spekulatius deshalb immer noch ein weihnachtliches Gebäck, während andere Länder, wie etwa die Niederlande den kulinarischen Horizont längst geweitet haben und spekulatiusgefüllte Hähnchen eine Delikatesse sind, die man auch zu Ostern, Pfingsten oder am Konigsdag zu sich nehmen kann. Wo steht eigentlich geschrieben, was man nur im Advent essen darf und was nicht?
Der christliche Kulturpessimist der Gegenwart weiß in Deutschland jedenfalls, was sich gehört. So empört man sich, wenn bereits im September die ersten Dominosteine in den Regalen auftauchen, während freilich fromme Verlage den echten Schokonikolaus, der statt der orthodoxen Stola eine römisch-katholische Mitra trägt, obschon er doch ein ostkirchlicher Bischof war, bisweilen schon im August in Katalogen anpreisen – weil man sich ja für Advent rüsten muss. Für die, die mit der Ewigkeit handeln, gelten halt andere Maßstäbe als für die der schnöden Zeitlichkeit Unterworfenen.
Die Adventszeit als Fastenzeit ist aber längst aus dem Blick geraten. Spätestens seit der Erfindung des Adventskranzes durch den evangelisch-lutherischen Erzieher Johann Hinrich Wichern Mitte des 19. Jahrhunderts trat der Advent als Zeit der Erwartung stärker in den Vordergrund – vor allem aber auch die Lichtsymbolik. „Licht in der Finsternis“ ist eine der wichtigen biblischen Metaphern, mit der die Ankunft des Gottessohnes auf Erden gedeutet wird, eine andere ist die der blühenden Wüste, des aufsprießenden Lebens aus Totem, wie es sich auch in der ersten Lesung vom 1. Advents des Lesejahres C andeutet:
In jenen Tagen und zu jener Zeit werde ich für David einen gerechten Spross aufsprießen lassen. Er wird Recht und Gerechtigkeit wirken im Land. Jeremia 33,15
Zweifellos liegt in mitteleuropäischen und selbst nach einem Jahrhundertsommer immer noch vergleichsweise wasserreichen Breiten, in denen im Winter die Dunkelheit bereits am frühen Nachmittag über die Lande hereinbricht, die Lichtmetaphorik näher als die der Wüste. Und so illuminieren mit dem Ende der Sommerzeit gefühlt Myriaden von Lämpchen, Lichtern und Lichterketten die Fenster und Straßen der Städte und Dörfer. Man merkt es unmittelbar: Bald muss Weihnachten sein – so ungefähr in vierzig Tagen.
Spätestens jetzt sollte auch den Kulturfrommen, die so gerne den Zeitgeist bekritteln, deutlich werden, dass da durch die Straßen und Gassen bereits im November immer noch derselbe weihnachtliche Geist weht, der einst die adventliche Fastenzeit am 11.11. beginnen ließ. Wo man früher das dunkle Loch im Bauch durch frommes Fasten Gott widmete, sehnt sich offenkundig auch heute noch das Volk, das in der Dunkelheit lebt, nach Licht. Und es ist allemal besser, Lichterketten zu entzünden, als über die Dunkelheit zu klagen.
Das Volk jedenfalls hat die Adventszeit längst von einer Buß- und Fastenzeit zur Vorweihnachtszeit erklärt. Der vorbereitende Charakter ist geblieben – aber in einer anderen Bedeutung. Deshalb stellt man jetzt schon Weihnachtsbäume auf und aus den Lautsprechern erklingen weihnachtliche Lieder. Advent – das ist jetzt Vorweihnachtszeit; eine Zeit, die auf den Höhepunkt am 24.12., dem Heiligen Abend zustrebt. Richtig: auf den 24.12.!
Klar, dass die kundigen Leser jetzt zusammenzucken. Das Hochfest der Geburt des Herrn ist schließlich erst am 25.12. Die Kirche aber goutiert das Empfinden des Volkes selbst durch zahlreiche Gottesdienste für Kinder und Erwachsene, mit und ohne Chor, mit und ohne Orchester, die selbst dann den eigentlich den einen nächtlichen Gottesdienst meinenden Namen „Christmette“ tragen. Kaum eine Stadt, wo nicht am 24.12., dem Heiligen Abend, um 15 Uhr in vollem Tageslicht eine Kinderchristmette mit liebevoll einstudiertem Krippenspiel begangen wird.
Mit dem Weihnachtsfest am 25.12. erreicht die Vorweihnachtszeit der Gegenwart ihr Ziel. Wer sich nahezu vier Woche festiv auf das Fest vorbereitet hat, lässt jetzt ebenso die Flügel hängen, wie die Zweige der Tannenbäume, die nach vier Wochen adventlichem Zimmeraufenthaltes in Ehren vertrocknet sind.
Ist das alles ein Grund zur ekklesialen Klage, zu einem Wehgesang über den Verfall vermeintlich christlicher Traditionen? Wohl kaum, denn die christlichen Traditionen entstanden ja selbst aus dem Alltag der Menschen heraus und gaben ihm eine Bedeutung. Ist es wirklich eklatant, wenn aus der alten adventlichen Fastenzeit eine von Vorfreude geprägt Vorweihnachtszeit wird? Der Ahnung, dass da an Weihnachten etwas geschieht, dass die Zeit mit der Ewigkeit konfrontiert, scheinen sich selbst selbsternannte Atheisten nicht entziehen zu können, wenn sie am Weihnachtsabend im Kreise der Familien unterm Tannenbaum sitzen, wenn selbst Grinch und Scrooge sich eines Besseren belehren ließen …
Aber halt: die Weihnachtsnörgler gibt es ja tatsächlich. Wenn man manch einen christlichen Kritiker in diesen Tagen über die vorweihnachtliche Freude klagen hört, mag man den Eindruck gewinnen, Grinch und Scrooge seien Patrone des christlichen Abendlandes, die mit Vorweihnachtsfreude so gar nichts anfangen können. Der Advent ist schließlich eine Bußzeit. Gibt es da etwas zu lachen?
Tatsächlich ist die Liturgie von bußfertigem Violett geprägt. Buße – das ist das kirchliche Thema auch der diesjährigen Fastenzeit. Da kann es doch kein Zufall sein, dass die Leseordnung der römisch-katholischen Kirche als zweite Lesung vom 1. Advent im Lesejahr C ausgerechnet ein kleines Textstück aus dem 1. Thessalonicherbrief präsentiert, dass in diesem Jahr manchem Violettträger besonders unter die Haut gehen dürfte:
Euch aber lasse der Herr wachsen und reich werden in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir euch lieben, damit eure Herzen gestärkt werden und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, bei der Ankunft Jesu, unseres Herrn, mit allen seinen Heiligen. Amen. Im Übrigen, Brüder und Schwestern, bitten und ermahnen wir euch im Namen Jesu, des Herrn: Ihr habt von uns gelernt, wie ihr leben müsst, um Gott zu gefallen, und ihr lebt auch so; werdet darin noch vollkommener! Ihr wisst ja, welche Ermahnungen wir euch im Auftrag Jesu, des Herrn, gegeben haben. 1 Thessalonicher 3,12-4,2
Die Gemeinde hat von Paulus, ihrem Gründer, den man heute als Apostel verehrt, gelernt, wie sie leben soll, um Gott zu gefallen. Ob dieser Satz den violetttragenden Nachfolgern der Apostel in diesem Jahr nach der Missbrauchsstudie und den ganzen klerikal geprägten Diskussionen und Abwiegelungen immer noch flüssig über die Lippen geht? Wahrlich: Das Violett als Farbe der Buße bekommt da eine ganz besondere Bedeutung. Es bleibt zu hoffen, dass die Bußfertigkeit keine fromme Äußerlichkeit bleibt.
Allen anderen aber, die sich jetzt schon in vorweihnachtlicher Herzlichkeit auf Weihnachten freuen, sei ein froher, fröhlicher und friedvoller Advent gewünscht! Die Weihnacht naht! Gott sei Dank!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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