Dies Domini – 5. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Die Zunge ist ein sensibles Organ. Nirgendwo ist die sensorische Dichte im menschlichen Leib höher als hier. Deshalb ist sie in der Lage, auch kleineste Unebenheiten aufzuspüren. Allein neun einzelne Muskeln verleihen ihr darüber hinaus eine große Beweglichkeit. Die Zunge ist ein flinkes Organ. Bei manchem übersteigt die Schnelligkeit die des eigenen Denkvermögens. Mit flotter Zunge ist schnell etwas gesagt, was nachgedacht oft bereut wird. Die Zunge zu zügeln ist eine echte Aufgabe – eine Herausforderung, die offenkundig auch der Autor des Jakobusbriefes kennt:
Wisset, meine geliebten Brüder und Schwestern: Jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn; denn der Zorn eines Mannes schafft keine Gerechtigkeit vor Gott. (Jakobus 1,19f)
Wer also zu schnell mit der Rede bei der Zunge ist, anstatt die Worte erst in Herz und Hirn abzuwägen, kommt ebenso flink ins Stolpern. Wenn er anders handelt, als das, was er sagt, wird er als Heuchler entlarvt; handelt sie gar nicht trotz aller großen Worte, erweist sie sich als Schwätzerin. Redet die Zunge gar bewusst Unwahres, ist ihr Träger schlicht ein Lügner. Falsche Zungen sind zwar zum Meineid, nicht aber zur Meinung fähig. Und trotzdem ist die Macht falscher Zungen groß, wie man auch in der Gegenwart immer wieder erfahren kann. Trotz erdrückender Beweise wird ein amerikanischer Präsident, der gerade als Herr der Lüge viele in seine Gefolgschaft bringt, die den falschen und alternativen Wirklichkeiten nur zu gern glauben schenken, weil sie sich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen möchten, von seinen Anhängern „freigesprochen“. Und im Thüringer Landtag bringt eine Partei mit Fallenstellertricks die Grundfesten der Demokratie ins Wanken – sind da wirklich Ehrenmänner und -frauen am Werk, wenn sie im Thüringer Landtag am 5.2.2020 zwar im dritten Wahlgang, in dem die Mehrheit der Stimmen zur Wahl als Ministerpräsident reicht, ins Rennen schickt, ihm dann aber keine Stimmen gibt, sondern den FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich wählt, der trotz großspuriger Versprechen, sich nicht von der AfD wählen zu lassen, die Wahl flugs annimmt anstatt sie abzulehnen. Wer sie verspricht, hat sich wohl versprochen. Kann man einem Menschen glauben, dessen Lippenbekenntnisse schon beim kleinsten Zungenschlag Ausschlag und Herpes bekommen? Mit dem Psalmisten möchte man in diesen Tagen mehr als einmal flehend rufen:
HERR, rette doch mein Leben vor lügnerischen Lippen und vor der falschen Zunge! Was soll er dir geben und was dir noch antun, du falsche Zunge? (Psalm 120,2f)
Die Zunge ist ein feines Organ. Die Zunge ist ein gefährliches Organ. Wer mit gespaltener Zunge spricht, sagt jedem, was er hören will. So überredet tappen viele in die Fallen. Influencer infizieren Anfällig mit flotten Sprüchen. Sie gerieren sich als Usurpatoren, die Herzen und Hirne besetzen, sie manipulieren, Wünsche schaffen, die nach Befriedigung lechzen, die aber Luftschlössern näher sind, als echtem Leben. Wahrlich: die Macht der Zunge ist groß; so groß, dass sie es schafft, die Hände anderer zu treiben, ja zu manipulieren, ihre Taschen zu öffnen und den großen Transfer in Gang zu bringen – Tand für Traum, Glück gegen Geld, Schein für Sein. Der Grat zwischen emotionaler Überredung und informierter Überzeugung ist schmal. Paulus jedenfalls baut darauf zu überzeugen, und nicht bloß zu überreden. So stellt er in der zweiten Lesung vom fünften Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A fest:
Auch ich kam nicht zu euch, Brüder und Schwestern, um glänzende Reden oder gelehrte Weisheit vorzutragen, sondern um euch das Geheimnis Gottes zu verkünden. Denn ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Zudem kam ich in Schwäche und in Furcht, zitternd und bebend zu euch. Meine Botschaft und Verkündigung war nicht Überredung durch gewandte und kluge Worte, sondern war mit dem Erweis von Geist und Kraft verbunden, damit sich euer Glaube nicht auf Menschenweisheit stützte, sondern auf die Kraft Gottes. (1 Korinther 2,1-5)
Andere konnten wohl besser und glänzender reden als er. Von Apollos, einem seiner Mitarbeiter, etwa heißt es in der Apostelgeschichte:
Ein Jude namens Apollos kam nach Ephesus. Er stammte aus Alexandria, war redekundig und in der Schrift bewandert. Er war unterwiesen im Weg des Herrn. Er sprach mit glühendem Geist und trug die Lehre von Jesus genau vor; doch kannte er nur die Taufe des Johannes. Er begann, mit Freimut in der Synagoge zu sprechen. (Apostelgeschichte 18,24-26)
Paulus teilt offenkundig diese praktischen rhetorischen Fähigkeiten des Apollos nicht, wie er selbst im 2. Korintherbrief zugibt:
Im Reden mag ich ein Stümper sein, aber nicht in der Erkenntnis; wir haben es euch in jeder Weise gezeigt. (2 Korinther 11,6)
Genau das aber ist wohl auch seine Stärke gewesen. Seine Zunge war nicht so flink wie die des Apollos, sein Geist war es wohl umso mehr. Hinzu kommt aber vor allem, dass er seinen Worten Taten folgen lässt. Er setzt sein Leben für die Botschaft des vom Kreuzestod Auferstandenen ein. Um nicht in den Verdacht falscher Selbstüberhöhung zu geraten, verkleidet er seine Worte als „Narrenrede“ (vgl. 2 Korinther 11,16-2,14), denn der Narr sagt die Wahrheit, auch wenn sie unangenehm ist. So redet Paulus im Narrenstil:
Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr. Fünfmal erhielt ich von Juden die vierzig Hiebe weniger einen; 25 dreimal wurde ich ausgepeitscht, einmal gesteinigt, dreimal erlitt ich Schiffbruch, eine Nacht und einen Tag trieb ich auf hoher See. Ich war oft auf Reisen, gefährdet durch Flüsse, gefährdet durch Räuber, gefährdet durch das eigene Volk, gefährdet durch Heiden, gefährdet in der Stadt, gefährdet in der Wüste, gefährdet auf dem Meer, gefährdet durch falsche Brüder. Ich erduldete Mühsal und Plage, viele durchwachte Nächte, Hunger und Durst, häufiges Fasten, Kälte und Nacktheit. Um von allem andern zu schweigen, dem täglichen Andrang zu mir und der Sorge für alle Gemeinden: Wer ist schwach und ich bin nicht schwach? Wer kommt zu Fall und ich werde nicht von brennender Sorge verzehrt? Wenn schon geprahlt sein muss, will ich mit meiner Schwachheit prahlen. (2 Korinther 11,23-30)
Worte werden erst durch Taten wahr. Die Taten wirken, was Worte bloß wagen. Erst wenn Wort und Tat in eins kommen, wirken Hände, was Zungen reden. Wer bloß überredet, will anderer Hände bewegen, sie manipulieren. Wer überzeugt, bewegt die eigenen Hände.
Nicht nur in der Welt sind viele Zungen flink, die Hände aber schwach. Auch in der Kirche sitzen viele gerne und reden – oft mit großem und von vielen bewundertem Freimut. Entscheidend ist aber nicht, was hinten rauskommt, sondern was getan wird. Solange sie nur um sich selbst und autoempathisch um ihre eigenen Befindlichkeiten kreist, werden alle synodalen Wege, Dialogforen und Zukunftsprozesse die Menschen nicht zu Christus führen. Solange die Kirche sitzt, kann sie den Auftrag des Auferstandenen wohl kaum erfüllen, hinaus (!) in alle Welt zu gehen (!) und allen Geschöpfen das Evangelium zu verkünden (vgl. Markus 16,15). Solange es um die Kirche und nicht um die Menschen an sich geht, wird es wohl bei mehr oder weniger offenen Lippenbekenntnissen bleiben. Kann eine so sitzende Kirche wirklich Salz der Erde und Licht der Welt sein, wie es Jesus im Evangelium vom fünften Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A fordert?
Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf dem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. (Matthäus 5,13f)
Erweisen sich die vielen wohl geordneten Sitzungsräume nicht eher als Gefäß, das über das Licht gestülpt wird? Sie sind es wohl so lange, bis die Türen offen sind und Christinnen und Christen erkennen, dass die Welt keine Ständekirche braucht, sondern Verkünderinnen und Verkünder, die das Wort machen und es halten, die nicht bloß reden, sondern ihren Worten Taten folgen lassen:
So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. (Matthäus 5,16)
Letzten Endes sind es die Werke, die zählen, nicht die Worte. Macht also die Hände flink, ihr Frommen. Der Heilige Geist jedenfalls ist ein Erkenntnisgeber, ein Lebendigmacher, ein Antreiber. Beten können ja schon viele, aber können sie auch tun? Um Gottes willen: Reden ist Silber, Handeln ist Gold!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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