Dies domini – 30. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A
Gott ist parteiisch. Er ist eben kein unbewegter Beweger. Ganz im Gegenteil. Er ist ein bewegter Beweger, eine Dynamik in höchster Potenz, die nicht für sich sein kann. Die Existenz der Schöpfung ist deshalb weder Zufall noch Ausfluss eines willkürlichen Aktes des Schöpfers. Sie ist Folge jenes göttlichen Seins, das selbst Päpste gerne mit dem allzu inflationär verwendeten Wort „Liebe“ bezeichnen. Dabei gleiten die in höchst theologischen Sphären formulierten Gedanken leider allzu oft in jene blutleere Sentimentalität ab, die dem Jubel des Hohenliedes fremd zu sein scheint, wenn der Liebende dort der Geliebten bekennt:
Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein Siegel auf deinen Arm, denn stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt! Ihre Gluten sind Feuergluten, gewaltige Flammen. Mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen, auch Ströme schwemmen sie nicht hinweg. Böte einer für die Liebe den ganzen Reichtum seines Hauses, nur verachten würde man ihn. Hoheslied 8,6f
Eine Leidenschaft, hart wie die Unterwelt, glutvoll wie Feuer, ja wie gewaltige Flammen, stärker als mächtige Wasserströme – diese Liebe ist gewaltig, vielleicht sogar gewaltvoll; wie sonst könnte sie stärker als der Tod sein? Keine Liebe à la Rosamunde Pilcher ist dazu in der Lage. Die ist zu süß und klebrig, zu kitschig und selbstverliebt, schön anzuschauen, etwas zum Träumen, nichts für das wahre Leben. Kein Wunder: In diesen märchenhaften Liebesgeschichten werden zwar veraschte Puttel zu Prinzessinnen, die den Prinzen bekommen, mit der Hochzeit ist dann aber auch Schluss. Bevor der graue Alltag in den Blick gerät, in dem die ehemals bloß Verliebte als Liebende das graue Einerlei mühsam kolorieren müssen, heißt es: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute … sie leben! Noch! Aber wie? Das würde man doch gerne als Mensch, der im Alltag lebt, wissen … einem Alltag, in dem die Puttel viel zu oft verascht werden von Typen, die vorgaben Prinzen zu sein; der Ernst des Lebens aber entlarvt eben die wahren Gesichter. Auf dem Spielfeld des Alltags erweist sich, wer Prinz und wer Prunz ist und manche, die Prinzessin sein wollte, ist eben doch nur die böse Stieftochter … Schmetterlinge fliegen eben nur einen Sommer lang. Erst, wer auch die Raupen des Alltags lieben kann, begreift, was Liebe ist: Hart wie der Alltag, stärker als die Unterwelt, gewaltig wie Feuergluten! Dahin aber muss man erst einmal kommen, den nächsten zu lieben, wie er ist und nicht, wie man ihn haben möchte …
Das nämlich ist die eigentliche Aufgabe, die in jener vielzitierten Sentenz Jesu aufscheint, die im Evangelium vom 30. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A zu hören ist:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Matthäus 22,39
Dieses Gebot der Nächstenliebe ist prominent. Es ist fordern: Man soll den Nächsten lieben, wie sich selbst! Also genau so wie man sich selbst liebt! Der Nächste ist wie man selbst! Wo bleibt man denn da selbst, bei so viel Hingabe … das ist eine harte Forderung, stark im Anspruch und eine gewaltige Zumutung. Kann es da verwundern, dass man sie pilcheresk verseichtet und verascht, in dem man betont, dass man, um zu Nächstenliebe bereit zu sein, sich nun mal erst selbst lieben müsse? Und wer hat beim morgendlichen Blick in den Spiegel nicht schon die größten Probleme, sich selbst anzunehmen, als der man ist. In Zeiten von Instagram und gepimpten Selfies, bei denen Photoshop ganze Arbeit geleistet hat, kann man diese Person, die einem da entgegenblickt, nur mit Mühe lieben. Diese ganzen Sehnsüchte in einem, diese Unzufriedenheit mit einem selbst, dieser Neid auf die Fähigkeiten und das Aussehen anderer – man ist doch mit sich selbst viel zu sehr beschäftigt … da hat man doch so einiges zu tun, bis man sich selbst lieben kann, bevor man dann den Nächsten so liebt, wie sich selbst …
Das Problem dieser eitlen Selbstbeschäftigung ist freilich, dass die Selbstliebe da schon viel zu groß ist. Der Blick in den Spiegel verrät es: Das Selbst ist sich selbst am Nächsten. Die Selbstliebe ist hier viel zu groß, dass der oder die Nächste gar nicht in den Blick kommt. Wer nur daran denkt, wie er sich selbst (noch mehr) lieben könnte, hat zwar ein großes Ich, aber ein kleines Herz … Deshalb gebietet die Nächstenliebe, den Blick endlich vom Spiegel weg auf den oder die Nächste zu lenken und ihr die Aufmerksamkeit angedeihen zu lassen, die man sich selbst und seinen kleinen oder großen Problemen schon widmet. Das Gebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, sagt eben nicht: Lerne zuerst, dich selbst zu lieben, und liebe dann deinen Nächsten. Es geht von einem Status quo einer Selbstliebe aus und lenkt den Blick auf den Nächsten.
Hier nämlich liegt das Problem vieler scheiternder Beziehungen und Kommunikationen. Wo etwa in Partnerschaften jeder nur darum bemüht ist, selbst den Himmel zu finden, ist das Ende nah. Die Veränderung der Perspektive hin zu Nächstenliebe aber würde fragen: Was muss geschehen, damit Du den Himmel hast? Und was für die große Liebe zwischen Menschen gilt, gilt auch für die Hinwendung zum Nächsten im Alltag …
Man muss wahrhaftig kein Prophet sein, um in der Gegenwart die Zumutung zu entdecken, die im Gebot der Nächstenliebe aufscheint. Ob es die bleibenden Herausforderungen und Fragen sind, die sich aus den Fluchtbewegungen in der Welt ergeben, die Aufgaben, die sich den modernen Zeitgenossen in den Zeiten der Corona-Pandemie stellen, oder die grundsätzlichen Fragen nach sozialer Solidarität: Wo immer jemand sagt, es müsse jetzt mal genug sein, hat das Spiegelbild gewonnen. Da obsiegt die selbstverliebte Sucht nach Besitzstandwahrung. Im eigenen Himmel eingesperrt bleibt der wahre Himmel verschlossen, jener Himmel, in dem Gott den Selbstverliebten wie in der 1. Lesung vom 30. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres A zürnt:
So spricht der Herr: Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, sodass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden. Exodus 22,20-23
Spricht hier nicht wieder dieser alttestamentarische Rächergott, wie voreilig fromme Christen bibelunkundig beflissen eilfertig beschwichtigen? Wer so redet, dem oder der möchte man zurufen: Blättert doch mal weiter – etwa in den Römerbrief. Da lest und hört ihr:
Denn der Zorn Gottes wird vom Himmel herab offenbart wider alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. Denn es ist ihnen offenbar, was man von Gott erkennen kann; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird nämlich seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar. Römer 1,18-20
Auch im Neuen Testament ist Gott zornig. Er ist zornig, wenn die Ungerechtigkeit überhandnimmt. Ungerechtigkeit entsteht, wenn Menschen nur ihr eigenes Heil und den eigenen Vorteil suchen und Nächste aus dem Blick gerät oder zum Gehilfen für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse degradiert wird. Dann wird Gott zornig. Anders als die blanke Wut ist Zorn nämlich kein Affekt. Er ist eine Haltung, eine Emotion der Parteinahme. Wut entsteht, wenn man selbst ungerecht behandelt wird; Zorn entsteht aus der Parteinahme für die ungerecht Behandelten, für die Witwen und Waisen, für die Klagenden, deren Schrei niemand hört, für die Flüchtenden, die vor den Grenzen eines ebenso saturierten und satten Europas ertrinken, für die, die durch den SARS-CoV-2 infiziert wurden, weil irgendjemand meinte, die Regeln, Abstand zu halte und Alltagsmaske zu tragen, würden für ihn nicht gelten. Bei soviel selbstverliebtem Unverstand kann man nur zornig werden!
Gott ist parteiisch. Weil er parteiisch ist, entbrennt sein Zorn angesichts des Unrechts, das geschieht. Kann man den Zorn Gottes besänftigen? Man kann:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Matthäus 22,39
Du brauchst nicht bei Dir anzufangen. Fang beim Nächsten an! Liebe ihn so, wie Du Dich selbst schon liebst? Du glaubst, Du könntest Dich nicht lieben? Allein diese Frage zeigt schon, dass Du Dich schon genug selbst im Blick hast. Wenn Dir das immer noch nicht reicht und Du meinst, Du wärest nicht gut genug, dann wende den Blick erst recht auf Deinen Nächsten. Wenn er so handelt wie Du es dann tust, blickst Du in die Augen eines Menschen, der Dich als Nächsten liebt … so wie Du bist! Und Gott wird zufrieden lächeln …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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