Die Pandemie ist abstrakt. Sie erscheint als Spiel von Zahlen und Variablen. R-Werte, Exponentielles Wachstum, Inzidenzen, Viruslasten, Übersterblichkeiten – die Pandemie ereignet sich in Zahlen, Tabellen und Statistiken. Bereits in den Frühnachrichten im Radio wird man mit den neuesten Tageswerten der lokalen Pandemiesituation geweckt. Zahlen machen eine Pandemie begreifbar – glauben jedenfalls manche. Was glauben Sie denn?
In der Corona-Pandemie ist mathematisches Wissen hilfreich, um das Infektionsgeschehen erfassen und bewerten zu können. Sinkende Werte der Virusreproduktion (der R-Wert) sind an sich gut, aber nicht immer positiv. Alles, was über „1“ ist, ist eigentlich negativ, weil das ein exponentielles Wachstum bedeuten würde. Wenn ein Infizierter mehr als eine Person ansteckt, steigt die Infektion. Erst wenn der Wert unter „1“ ist, kann sich die Situation entspannen – und das um so schneller, je weiter der Wert unter „1“ ist.
Im Dickicht der Zahlen hat sich aber so mancher Zeitgenosse schon in der Schule verirrt. Das geschieht auch heute noch. Und aus dieser Schulzeit rührt vielleicht diese numinose Ehrfurcht denen gegenüber, die mit Zahlen zu jonglieren wissen. Die Macht der Zahl nutzen deshalb heute noch viele von allen Seiten. Kaum jemand hinterfragt den numerischen Dschungel, jede und jeder sucht sich dafür die Statistik heraus, die gefällt. Dabei sind manche Zahlen sogar absolut, wie die Zahl derer, die an, mit oder durch Corona gestorben sind. Sie steht jeden Morgen in der Zeitung. Es ist eine Zahl, die nur wachsen kann. Weniger werden es nicht werden. Es ist eine nackte Zahl, nüchtern, emotionslos, abstrakt. Dabei stehen hinter dieser Zahl eine Menge Leben, die erloschen sind. Und es stehen Leben dahinter, die um dieses erloschene Leben trauern, denen ein Loch gerissen wurde: Wo „1“ war ist jetzt „0“. Hinter der Zahl der Corona-Toten steht eine viel größere Zahl an Partner, Kindern, Enkeln, Freundinnen und Freunden, Nachbarn, Kolleginnen und Kollegen, für die dieser Mensch, der an, mit oder durch Corona gestorben ist, mehr als eine Zahl war. Deren Zahl wächst mit jedem Corona-Toten exponentiell.
In der Öffentlichkeit aber gerinnt der Tod zur Zahl. Gestorben wird intensiv und stationär. Es sind Leben von Menschen, die ohne Virusbefall noch mehr Tage hätten haben können, die die Kinder ihrer Kinder hätten sehen können, die noch lieben, lachen, weinen könnten.
Es wird Zeit, die Corona-Toten sichtbar zu machen. Nicht nur einmal mit einer Kerze am Fenster, sondern als Teil unserer Gesellschaft, als Menschen, die mit uns mitten in der Stadt gelebt haben und – so zumindest mein Glaube – weiter leben. Ich bin dankbar, dass ich von Wolfgang Rosenbaum angesprochen wurde, der die Idee hatte, die Initiative „Corona-Tote sichtbar machen“ des Berliner Künstlers Christian Y. Schmidt nach Wuppertal zu holen. Dort hat man begonnen, am Stierbrunnen am Prenzlauer Berg öffentlich Kerzen für die Corona-Toten aufzustellen. So soll es ab kommenden Sonntag auch in Wuppertal sein. Es werden vier Gedenkorte sein: Am Laurentiusplatz (am Ort der Künstler-Krippe), an der evangelischen Citykirche Elberfeld, im Innenhof von St. Antonius in Barmen und voraussichtlich auch an der Utopia-Stadt am Mirker Bahnhof. Eine Stadt macht die Corona-Toten sichtbar. Sie sind weiter bei uns. Es sind Menschen, die ein Leben hatten. Ihr Leben blühte, der Wind fuhr über sie hinweg. Wird der Ort, wo sie standen, sie vergessen? Oder werden ihre Geschichten weitererzählt von Kindern, Enkeln, anderen Menschen?
Kommen Sie deshalb vorbei. Entzünden Sie eine Kerze. Machen wir die Corona-Toten sichtbar. Geben wir ihnen die Ehre. Menschen dürfen nie zur Zahl werden. Es sind Leben, deren Geschichten weitererzählt werden …
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 29. Januar 2021
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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