Dies domini – 4. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Michael Hüther leitet das Institut der Deutschen Wirtschaft, also ein hochkarätiger Volkswirt, und war dieser Tage bei Anne Will zu Gast, wo es um das Zero-Covid Ziel einer Gruppe von Wissenschaftlern ging. Ihm war dies nicht realistisch erreichbar, aber eine junge Onlinejournalistin, Vanessa Vu, griff ihn recht derb als jemanden an, der „zynisch Menschenleben in Kauf nehme“, und der „den Angehörigen, die gerade wegen Corona jemanden verloren haben, ins Gesicht schlage“. Wenige Tage später schrieb Hüther in der FAZ, es sei ein Trend der Moralisierung in der Gesellschaft zu bemerken. Kein Wunder, dass ihm dies als bedrohlich erscheint.
Ganz anders, aber vom moralisierenden Allgemeingültigkeitsanspruch her genauso wie Frau Vu argumentiert Kardinal Müller, der Joe Biden nur von seiner Position zur Abtreibungsgesetzgebung her beurteilt und feststellt: „Wer das klare Bekenntnis zur Heiligkeit jedes Menschenlebens aufgrund politischer Präferenzen mit taktischen Spielen und sophistischen Verschleierungen relativiert, stellt sich offen gegen den katholischen Glauben.“
Man ist, ganz unabhängig von dem eigenen Standpunkt, gezwungen, die Absolutheit, mit der jede abweichende Auffassung des Zynismus oder des Glaubensabfalls geziehen wird, als Grundlage der Verrohung des gesellschaftlichen Diskurses anzusehen, der schließlich in die Ereignisse am Kapitol geführt hat: wem der andere nicht mehr selbständiger Denker mit Anspruch auf eigene Argumente, sondern nur noch zynischer Menschenverächter oder Apostat ist, der entzieht sich selbst dem Diskurs, sei es eine junge Onlineredakteurin oder ein Ruhestandskardinal. Wenn wir genau lesen, dann können wir diesen Ungeist, dem andern nur Bosheit, Unglaube oder Ignoranz zu unterstellen, als den unreinen Geist erkennen, der den Mann aus der Synagoge aus unserm heutigen Evangelium besessen hat.
„Der unreine Geist zerrte den Mann hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei.“ (Mk 1,26)
Wollen wir hoffen, dass dieser Ungeist auch unsere Debatten verlässt. Wäre das nicht ein schönes Erkennungsmerkmal von uns Christen, wenn wir in den Gesprächen in der Öffentlichkeit den anderen wahrnehmen, als ob er – wie wir – nur das Beste wolle? Der, vielleicht auf anderem Wege, aber doch auch guten Willens, wenn auch nur in sterblicher Unvollkommenheit, die nun einmal unser Dasein kennzeichnet, auf der Suche nach der Wahrheit ist? Und der in Jesus Christus keinen Katalog satzhafter Feststellungen – oder gar moralischer Gesetze –, sondern wahrhaft „den Heiligen Gottes“ erkennt?
Dann müssen wir freilich auch den goldenen Hirtenstab unserer Bischöfe relativieren, denn auch diese sind ja, wie wir immer wieder schmerzhaft erfahren müssen, nur unvollkommen auf dem Pfad der Offenheit und Transparenz zur Wahrheit unterwegs. Vielleicht ginge es mit etwas – persönlicher und institutioneller – Demut besser. Die Gelegenheit wünsche ich Ihnen auch in diesen schwierigen Tagen, dass Ihnen Situationen begegnen, in denen es Ihnen möglich ist, den Ruf des Psalmisten aufzugreifen:
„Kommt, wir wollen uns niederwerfen, uns vor ihm verneigen, lasst uns niederknien vor dem Herrn, unserm Schöpfer. Denn er ist unser Gott, wir sind das Volk seiner Weide, die Herde, von seiner Hand geführt.“ (Ps 95,6f.)
Katharina Nowak
Author: Katharina Nowak
Katharina Nowak ist Diplom Theologin. Sie studierte in Bonn und arbeitet seit 2009 als theologische Assistentin bei der Katholischen Citykirche Wuppertal.
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