Dies Domini – 10. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Ein Kardinal bietet dem Papst seinen Rücktritt an. Mit „persönlichem und vertraulichem“ Schreiben vom 21. Mai 2021 an Papst Franziskus begründet der Münchener Erzbischof Reinhard Kardinal Marx nicht nur seine Entscheidung, sondern bittet sogar ausdrücklich darum, dass sein Verzicht angenommen wird. Sollte der Papst dieser Bitte nicht folgen, so scheint es, müssen wohl sehr gut begründete Motivationen für ein Weiterwirken des noch amtierenden Erzbischofs von München und Freising gefunden werden. Sicher würde Kardinal Marx einer solche Bitte gehorsam folgen – zumindest wird im Schlussgruß gleich zweimal auf den Gehorsam abgehoben: Oboedientia et Pax (Gehorsam und Friede) grüßt ein gehorsamer Erzbischof.
Es ist noch nicht allzu lange her, da antwortete der Münchener Erzbischof – weiland noch in der Rolle eines Vorsitzenden der Deutschen Bischofkonferenz – auf die Frage der Journalistin Christiane Florin nach möglichen Rücktritten angesichts des in der sogenannten MHG-Studie vom September 2018 offenbar gewordenen Missbrauchs mit einem flotten „Nein!“. Neben ihm saß das purpurne „Nein!“ kopfschüttelnd verstärkend der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz Bischof Stephan Ackermann. Beide fassten sich – wohl in einer Art Übersprunghandlung – unmittelbar danach physisch an die eigene Nase. Nun, gut drei Jahre später, zieht mit Erzbischof Reinhard Kardinal Marx ein erster Bischof in Deutschland scheinbar aus freien Stücken die Konsequenzen und bietet dem Papst seinen Rücktritt an. Die anderen Bischöfe vor ihm – die Kölner Weihbischöfe Dominik Schwaderlapp und Ansgar Puff sowie der Hamburger Erzbischof Stefan Heße – entschieden sich zu diesem Schritt erst, als die Vorwürfe der Vertuschung nicht mehr zu leugnen waren. Kommt damit der noch amtierende Münchener Erzbischof jenem Getriebenwerden zuvor? Möglichweise, sind doch aus seiner Zeit als Trier Vorwürfe der Vertuschung offenbar geworden, die nicht einfach aus dem Weg zu räumen sind. Auch liegt in München wohl ein Missbrauchsgutachten der Kanzlei Westphal, Spilker und Wachtl vor, dessen Inhalt noch nicht bekannt ist. Zu vermuten ist, dass wenigstens die Verantwortung früherer Erzbischöfe von München und Freising – unter ihnen auch Joseph Ratzinger und Friedrich Wetter – aufgedeckt werden könnte. Wie auch immer: Ganz freiwillig ist der Schritt von Kardinal Marx möglichweise nicht, wie der Zeit-Journalist Raoul Löbbert meint:
„Ganz so selbstbestimmt und selbstlos wie Marx tut, ist seine Entscheidung nicht.“ (Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-06/katholische-bischoefe-kardinal-marx-ruecktritt-sexueller-missbrauch [Stand: 4. Juni 2021])
Konsequent fragt Raoul Löbbert deshalb:
„Ist es nur ein taktisches Manöver?“ (a.a.O.)
stellt aber auch fest:
„Marx‘ Reue jedenfalls klingt echt. Er spricht nicht allgemein von Verantwortung, sondern von eigener Schuld, nicht von zu treffenden Maßnahmen, sondern von persönlichen Konsequenzen. Das ist sie, die erste Person Singular, die Bischöfe in der Vergangenheit tunlichst vermieden. Früher wurde die Schuld höchstens kollektiv geschultert.“ (a.a.O.)
In jedem Fall ist der Marx’sche Schritt außergewöhnlich, bemerkenswert, für manchen sogar aufrüttelnd – in jedem Fall aber nicht geeignet, das Volk wie mit Opium zu sedieren …
Erstaunlich sind auch die ersten Reaktionen vieler ekklesialer Kaffeesatzleser. Die sprachen weniger von Kardinal Marx, sondern eher von Kardinal Woelki. Mal hieß es, der Falsche sei gegangen (als würde Kardinal Marx sich nicht mit jenen Vorwürfen aus seiner Trier Zeit konfrontiert sehen), mal hieß es, Kardinal Marx hätte damit Kardinal Woelki unverhohlen unter Druck gesetzt. Mit Verlaub: Der Mann aus München ist ein gebürtiger Westfale, geboren in Geseke im Erzbistum Paderborn – ein gradliniger Mann ohne taktische Hintergedanken. Man kann sicher viel an ihm kritisieren – etwa das Ablegen des bischöflichen Kreuzes auf dem Tempelberg, vielleicht sogar der Rückzug aus dem von ihm initiieren „synodalen Weg“, der so doch irgendwie noch mehr in der Luft hängt. Eines aber kann man ihm nicht vorwerfen: einen Hang zur Intrige. Ganz im Gegenteil: Wenn er etwas zu sagen hat, dann sagt er es auch.
Die kirchlichen Wahrsager, die nun aus den purpurnen Innereien die nähere wie fernere Zukunft ableiten wollen, sind Symptom eines schon länger zerrütteten Zustandes der Kirche, die sich – wie damals die sich selbst immer weiter korrumpierende Gemeinde zu Korinth – in Parteien aufspaltet: Ich zu Marx, ich zu Woelki, ich zu Overbeck, ich zu, wer weiß wem … nur zu Christus scheint sich keiner mehr zu bekennen. Die Kirche selbst scheint sich nur noch um sich selbst zu drehen. Wen wundert das in Zeiten, wo die Pastoraltheologie in Zentren angewandter Pastoral immer mehr zu Marketinginstituten mutiert, die die Marke „Kirche“ bewerben und dabei übersehen, dass die Kirche nicht selbst der Zweck, sondern Medium, also Mittel der Verkündigung des Evangeliums ist.
Das wiederum erkennt Kardinal Marx glasklar, wenn er feststellt:
„Ohne Zweifel geht die Kirche in Deutschland durch krisenhafte Zeiten. Natürlich gibt es dafür – auch über Deutschland hinaus weltweit – viele Gründe, die ich hier nicht im Einzelnen ausführen muss. Aber die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘, der aber auch, das ist meine österliche Hoffnung, zu einem ‚Wendepunkt‘ werden kann. Der ‚österliche Glaube‘ gilt doch auch für uns Bischöfe in unserer Hirtensorge: Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer es verliert, wird es gewinnen!“ (Brief von Reinhard Kardinal Marx an Papst Franziskus, 21. Mai 2021 – Quelle: https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-55270120.PDF [Stand: 4. Juni 2021]).
Nun ist die Hoffnung von Kardinal Marx, der „tote Punkt“ sein ein Wendepunkt zum Guten, einigermaßen optimistisch, zumal er ihn österlich verbrämt. „Tote Punkte“ aber sind in mathematischen Kurvendiskussionen Punkte, deren Ableitung „0“ beträgt. Man weiß nicht, ob es Wende- oder Sattelpunkte sind. Bei Parabeln ändert sich danach die Steigung: Wo es vorher aufwärts ging, geht es danach abwärts; wo es vorher abwärts ging, geht es danach aufwärts. Allerdings könnte es sich auch um einen Sattelpunkt handeln, bei dem ein vorheriger Trend danach nur um so rasanter fortgesetzt wird. Um das zu erkennen, müsste man eine weitere Ableitung vollziehen. Dazu aber gehörten weitere Offenlegungen. Davor aber scheinen sich allzu viele Vertreter in der Kirche – und auch Vertreterinnen – so zu fürchten, wie die ersten Menschen, nachdem sie erkannten, dass sie nackt sind. Davon berichtet die erste Lesung vom 10. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B. Nachdem die der Mensch und seine Gefährtin vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten und so verständig geworden sind, tritt Gott selbst auf den Plan und ruft nach dem Menschen:
Wo bist du? Er antwortete: Ich habe deine Schritte gehört im Garten; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem ich dir geboten habe, davon nicht zu essen? (Genesis 3,9-11)
Die Antwort auf diese Frage könnte man mit einem einfach bekennenden „Ja!“ beantworten. So aber ist der Mensch nicht – zumindest nicht, wenn ihm noch die notwendige Reife erwachsener Mündigkeit fehlt. Pubertierenden gleich, die zu allem fähig sind, aber für nichts verantwortlich sein wollen, wird die Verantwortung weitergeschoben:
Adam antwortete: Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen. Gott, der Herr, sprach zu der Frau: Was hast du getan? Die Frau antwortete: Die Schlange hat mich verführt. So habe ich gegessen. Genesis 3,12f
Kardinal Marx hat es mit seinem Rücktrittsangebot nun anders gemacht. Das kommt vielleicht spät. Die Reifung aber ist unverkennbar. Egal, was letztlich die Motivation für diesen Schritt war – er kommt, anders als andere Bischöfe, die erst handeln, wenn sie die eigenen Verfehlungen auch nicht mehr mit juristischem Beistand leugnen können, der Entscheidung von außen, die ihm keine Wahl mehr lässt, zuvor. Das ist sicher nicht selbstlos – und schon gar nicht taktisch – sondern einfach nur: ehrlich und erwachsen. Endlich!
Gott jedenfalls wird den Menschen und seine Gefährtin, die sich als Erwachsene Adam und Eva nennen werden, aus dem behüteten Garten ins Leben treiben. Sie sind erwachsen genug, um die Herausforderungen, die das Leben ihnen stellt, zu bewältigen. Gott rüstet die beiden, mit allem, was sie brauchen aus; die Erkenntnis von Gut und Böse haben sie selbst erlang. Nun müssen sie sich um das Leben selbst kümmern. Das ist vielleicht noch ein kleiner Unterschied zum hohen oder niederen Klerus: Die bleiben versorgt – vielleicht ohne Bischofssitz, aber doch mit dem Recht, die edlen Gewänder weiter zu tragen. Einmal Krummstab, immer Krummstab … und unter dem lässt es sich leben … Aber vielleicht kommt die Kirche auch hier irgendwann in der Wirklichkeit des Lebens jener Vielen an, die doch die eigentliche Schöpfung Gottes ist und wo man das Brot im Schweiße seines Angesichtes erwerben muss …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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