Dies domini – 24. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr B
Es wird anders werden. Am 26. September 2021 wird in Deutschland gewählt. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stellt sich eine amtierende Kanzlerin bzw. ein amtierender Kanzler nicht zur Wiederwahl. Sicher – das Volk wählt ohnehin nicht den Kanzler, sondern den Bundestag. Der wiederum wählt dann den Kanzler oder die Kanzlerin. Trotzdem ist es üblich geworden, dass die Parteien, die sich ausrechnen, beeinflussen zu können, wer im Kanzleramt regiert, entsprechende Kandidatinnen und Kandidaten aufstellen. In diesem Jahr sind es mit Annalena Baerbock von der Partei Bündnis90/Die Grünen, Armin Laschet von der CDU und Olaf Scholz von der SPD sogar drei Kandidaten, die um die Aufmerksamkeit des gemeinen Wahlvolkes buhlen, als ginge es am 26. September 2021 schon um ihre Personalie. Dabei könnte es durchaus – allen Umfragen und Prognosen zum Trotz – ganz anders kommen. Was, wenn die CDU mit einem im Vergleich zur letzten Bundestagswahl verheerenden Ergebnis doch noch die (relative) Mehrheit der Stimmen, knapp vor SPD und Bündenis90/Die Grünen, erringen würde, beide möglichen Koalitionspartner aber abwinken, weil sich der CDU-Kanzlerkandidat durch Bemerkungen, wie
„In allen Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite – in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.“ (Quelle: Tweet von Paul Ziemiak, zitiert in FAZ online, Schlagabtausch zwischen SPD und Union nach Laschet-Rede, 12.9.2021 – Quelle: https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/schlagabtausch-zwischen-spd-und-union-nach-laschet-rede-17533347.html [Stand: 13. September 2021])
nicht gerade die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit gelegt hat. Nichts ist unmöglich in diesem Jahr, sogar die Wahl eines Kanzlers durch den neu konstituierten Bundestag, der jetzt noch gar nicht auf der Rechnung steht …
In einem bemerkenswerten Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“ stellt der Autor Roman Pletter fest, dass viele Berufspolitiker zwar nach politischen Posten streben, aber eigentlich nicht zur Politik berufen sind. Der Schein geht da vor dem Sein. Dabei unterscheidet er zwischen den englischen Begriffen „Policy“ und „Politics“. Beide werden im Deutschen mit „Politik“ übersetzt, beschreiben aber im Englischen differenzierter verschiedene Dimensionen der Politik. Politics etwa meint die Prozesse der Meinungsbildung und Machtausübung, während Policy die inhaltliche Dimension beschreibt. Daneben gibt es noch die Dimension der „Polity“, die ebenfalls mit „Politik“ übersetzt wird und die Frage der institutionellen Organisation der Politik umfasst. Roman Pletter stellt fest, dass es vielen Politikern (und sicher auch Politikerinnen) reicht, einen Posten errungen zu haben. Sie machen Politics. Die Inhalte sind da völlig sekundär. Andere hingegen, die möglicherweise gar kein politisches Amt innehaben, betätigen sich hingegen im Feld der Policy: sie organisieren Mittel und Ressourcen, möglicherweise sogar politische Mehrheiten – was im Fall der Nichtmandatierung eine Leistung eigener Art ist – um, wir Roman Pletter schreibt,
„das Leben für eine Gruppe Menschen besser zu machen“. (Roman Pletter, Schluss mit der Selbstbespiegelung, Zeit online, 9.9.2021 – Quelle: https://www.zeit.de/2021/37/bundestagswahlkampf-kanzlerkandidat-olaf-scholz-marcus-grotian [Stand: 11. September 2021])
Im Fall des Bundestagswahlkampfes 2021 scheint sich nun ein Trend fortzusetzen, der schon länger zu beobachten ist: Den Kandidatinnen und Kandidaten geht es um Politics und Posten. Die Wahlprogramme sorgen zwar für einen Hauch Policy. Die Dissonanz zwischen Worten und Taten ist allerdings schon ein altes Phänomen, heißt es doch in der zweiten Lesung vom 24. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B:
Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung sind und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen – was nützt das? Jakobus 2,15f
Für den Autor des Jakobusbriefes steht fest:
So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat. Jakobus 2,17
Worte machen ist ein Leichtes, den Worten aber Taten folgen zu lassen, ist das Eigentliche. Dafür muss man sich mitunter die Finger schmutzig machen, ja, man muss zur Selbstüberwindung bereit sein. Wer etwa in der Gegenwart angesichts des Dramas von Afghanistan und der verleumdeten Solidarität den sogenannten Ortskräften gegenüber wohlfeil davon spricht, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe, mag zwar die vorgartenverliebten Claqueure auf seiner Seite haben. Er verrät trotzdem die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde, ist durch solche gratismutigen Parolen keiner Frau und keinem ehemaligen Unterstützer in Afghanistan, die um Leib, Leben und Würde fürchten, geholfen. Bierzeltselig rühmt man sich einer Mystik des christlichen Abendlandes, während man die christlichen Werte mit einem großen Schluck aus dem Krug herunterspült. Aber auch das ist nicht neu. Im Evangelium vom 24. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres B stellt Jesus fast nüchtern fest, dass sein Weg wohl nicht friedlich und problemlos verlaufen wird:
Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete mit Freimut darüber. Markus 8,31f
Zuvor hatte Petrus ihn noch als „den Christus“, also den Gesalbten, den Messias bekannt. Die Unbilden, die die klare Vision Jesu bezüglich seines Schicksals zeichnen, will er allerdings nicht wahrhaben:
Da nahm ihn Petrus beiseite und begann, ihn zurechtzuweisen. Markus 8,32
Es ist klar: Jesus macht Policy, Petrus reichen die Politics. Nur: Der Stoff, aus dem Helden gemacht sind, ist die Policy. Es sind die Taten, die zählen. Frohe Botschaften alleine reichen nicht, wenn ihnen keine Taten folgen. Im Gegenteil: Wohlfeiler Wortreichtum mit Hang zu teuflischer Tatenträgheit muss sich zurecht als das tadeln lassen, was sie ist – als diabolisch! Ob Petrus da schon geahnt hat, was er nach Jahren des Lebenlernen endlich erkennen wird, als Jesus ihn zurechtweist:
Tritt hinter mich, du Satan! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen. Markus 8,33
Für Christen und die, die das Christliche im Namen tragen, sollte das Wort aus dem Munde des fleischgewordenen Gottes mehr als eine wohlfeile Mahnung sein:
Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten. Markus 8,35
Das ist Politics, zur Tat drängende Politik. An die Wortemacher wird sich niemand mehr erinnern. An die Tatentreiberinnen schon. Was wirklich zählt ist nämlich nicht:
„Gut, dass wir mal darüber geredet haben.“
Sondern:
„Wir schaffen das!“
Das ist der Stoff, aus dem Heldinnen und Helden gemacht sind. Policy – das darf, nein, das muss sich wiederholen!
Dr. Werner Kleine
Edit: Eine frühere Version des Textes enthielt das Zitat von Armin Laschet in einer verkürzten Form aus dem Tagesspiegel. Die aktuelle Fassung gibt um der Korrektheit willen das vollständige Zitat nach einem Tweet von Paul Ziemiak – zitiert aus der FAZ – wieder.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
Lieber Herr Dr. Kleine,
das Zitat von Herrn Laschet haben Sie verkürzt wiedergegeben, es lautet vollständig:
„In all den Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte standen Sozialdemokraten immer auf der falschen Seite – in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.“
Nicht nur in der FAZ von heute morgen (Seite 1), auch unter dem von Ihnen bereitgestellten Link zum Tagesspiegel ist dieser wichtige Nachsatz bzgl. der Wirtschaftspolitik enthalten, den Sie aber weggelassen haben. Dadurch erhält die Bemerkung natürlich einen anderen Charakter, was jetzt unnötigerweise zum Hochschaukeln der Diskussion führt.
Es ist ja völlig in Ordnung, wenn Sie tagesaktuelles Politikerverhalten in Ihrem öffentlichen Newsletter verarbeiten, aber gerade in dieser Phase des emotionalen Hochlaufens des Wahlkampfes ist es meines Erachtens besonders wichtig, genau zu bleiben.
Viele Grüße
Daniel Offermann
Lieber Herr Offermann, vielen Dank für den Hinweis. In der mir kurzfristig und von mir ursprünglich zitierten Quelle aus dem Tagesspiegel war das Zitat verkürzt wiedergegeben worden. Sie haben natürlich völlig Recht, dass man hier exakt bleiben muss. Deshalb habe ich das entsprechende Zitat angepasst und entsprechend die neue Quelle angegeben. In der Sache meine ich allerdings, dass die Äußerung von Armin Laschet damit nicht wirklich besser wird. Auch die Einschränkung auf Finanz- und Wirtschaftspolitik bleibt letztlich im Duktus generalisierend; damit bleibt m.E. weiter die Frage, wie man denn da möglicherweise zusammenarbeiten will – zumal in der aktuellen unionsgeführten Regierung (Stand: 13.9.2021) der Finanzminister eben auch ein Sozialdemokrat ist. Die Aussage Laschets bleibt – so oder so – mindestens gewagt.
Mit bestem Gruß,
Werner Kleine