Die Freiheit ist billig geworden. Wenigstens scheint es so, wenn man die Diskussion um die Corona-Pandemie verfolgt. Deren Ende wird mit „Freedom Days“ gefeiert. Dann fallen die Masken, man verzichtet wieder auf Abstand (hoffentlich nicht auch auf den Anstand) und braucht endlich nicht mehr Hände waschen. Für manch einen scheinen das der bisher größte Freiheitsentzug des Lebens gewesen zu sein. Sicher: die Lockdowns haben vor allem für die Kreativen und Gastronomen herbe Einschränkungen und Verluste mit sich gebracht. Trotzdem konnte man sich frei bewegen, reden, seine Meinung äußern und sich – gerichtlich festgestellt – frei versammeln. Schon die kleinste Vorschrift, die zum gegenseitigen Schutz erlassen wurde, brachte aber bei manchen ein großes Protestbedürfnis zum Vorschein, das freilich frei und ungezwungen zum Ausdruck gebracht wurde. Was glauben Sie denn?
Viele erwarten jedenfalls die viel beschworene „Rückkehr zur Normalität“. Zwar weiß niemand so genau, wie „Normalität“ definiert ist. Sicher ist nur, dass man seine Freiheit wiederhaben möchte. Die Freiheit scheint eine Art Besitz geworden zu sein. Deshalb monieren ja viele, man hätte ihnen in den pandemischen Zeiten etwas gestohlen, was jetzt wieder restituiert, also wiederhergestellt werden soll. Dabei wird gerne übersehen, dass Vergangenes nicht wiederkommt. Wir können die Vergangenheit nicht wiederherstellen. Die, die am lautesten nach der Wiederherstellung ihrer geraubten Freiheit rufen, vergessen, dass etwas, das in den Dimensionen von Raum und Zeit im wahrsten Sinn des Wortes vergangen ist, nicht wiedererlangt werden kann. Es wird nicht mehr werden, wie früher. Nie mehr. Ist also alles verloren? Wurde die alte Freiheit wirklich geraubt?
Tatsächlich war die Freiheit nicht in Gefahr – wenigstens nicht in unserem Land. Dikaturen sehen jedenfalls anders aus. Wir durften in den vergangenen Monaten der Pandemie vieles, fast alles. Die eingeführten Regeln halfen vielen, gesund zu bleiben. Sie wurden stets überprüft. Manch überschießende Regel – und die gab es – musste revidiert werden. Wir leben eben doch in einem freien Land, in dem die Freiheit rechtlich bewehrt ist. Trotzdem empfanden und empfinden manche selbst die maßvollsten Regeln zum Gesundheitsschutz als unerhörte Freiheitsberaubung. Das mag an jenem Missverständnis liegen, das darin besteht, Freiheit als persönlichen Besitz zu verstehen. Vielleicht müssen wir hier wieder umdenken lernen und Freiheit als Gemeinbesitz, als Allmende sehen. Freiheit hat eben keine bloß räumliche Dimension, die sich in Bewegungs- oder Reisefreiheit erschöpft. Sie ist nicht bloß ein Handlungsspielraum. Sie hat vielmehr auch eine zeitliche Dimension, wenn man bedenkt, dass gegenwärtiges Handeln immer die Bedingungen für die Zukunft setzt: Wie weit darf ich jetzt gehen, um meinen Handlungsspielraum für die Zukunft zu gestalten? Einfacher gesagt: Was bedeutet die Freiheit, jetzt in den Club gehen zu können, wenn die dortige Infektionsgefahr bedeutet, in drei Monaten wieder vor geschlossenen Restaurants zu stehen? Ist es da nicht der größere Erweis freiheitlichen Handelns, mit Blick auf einen größeren Freiheitsgewinn in der Zukunft gegenwärtig maßvolle Einschränkungen hinzunehmen?
„Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!“
heißt es schon bei Paulus (Galater 5,13). Darin kommt das Bewusstsein um die Gemeinschaftsdimension der Freiheit zum Ausdruck. Hast Du also bloß Freiheit oder bist Du schon so frei? Es sollte uns zukünftig tatsächlich etwas wert sein, aufeinander Rücksicht zu nehmen. So frei sollten wir schon sein …
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 22. Oktober 2021.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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