Dies domini – Zweiter Fastensonntag, Lesejahr C
Wie fragil die Illusion des Friedens ist, zeigt sich in diesen Tagen. Es braucht nur wenig, um einen Krieg mit all seinen Grausamkeiten, Vergewaltigungen, Plünderungen, Leiden und Tod zu entfesseln. Die Sprache ist dabei verräterisch: Wenn ein Krieg entfesselt wird, bedeutet Frieden, dass der Krieg in Ketten gelegt werden muss. Ungefesselt erscheint der Krieg – so jedenfalls die der vertrauten Sprachwendung zugrundeliegende Auffassung – als existentieller Normalzustand. Der Krieg ist triebhaft. Frieden ist nicht einfach die Abwesenheit von Krieg, sondern dessen Zähmung. Zähmung aber ist ein mühsames Unterfangen, eine Haltung, die der steten Wachsamkeit bedarf. Nun aber wurde in der Ukraine wieder einmal ein Krieg entfesselt. Oder waren die Fesseln morsch geworden, weil es denen, nein, weil es auch uns an Wachsamkeit mangelte, die wir uns an den Frieden gewöhnt hatten?
Dem Krieg zu eigen ist das Unverschämte, das stets Fordernde. Hat man je Menschen gesehen, die als Aggressoren Krieg führten und nach dem Sieg zufrieden waren? Die Geschichte ist voll von Feldherren – meist waren es jedenfalls Feldherren und weniger Feldherrinnen –, deren Kriegslüsternheit nicht zu stillen war. Nach dem Sieg ist vor der nächsten Schlacht. Niemand von denen, deren Selbstverständnis vom Siegen abhängt, kann mit dem Frieden leben. Niemand von jenen, die nur im Sieg den Sinn des Seins sehen, will Brücken bauen. Siegen heißt dann Leben. Weil aber der Frieden vom Ausgleich lebt, vom Geben und Nehmen, von der demütigen Selbstbeschränkung um des Respektes dem anderen gegenüber willen, ist er gerade keine Option. Der Krieg verlang nach mehr, nach mehr Siegen, nach mehr Unterwerfung. Der Krieg ist eine Droge. Er macht abhängig. Es gibt keine Zustand der Zufriedenheit. Der Krieg schafft Hass. Wer unterliegt, sinnt auf Rache, wer gewinnt, auf Unterwerfung. So wird es immer weitergehen in Aggression und Satisfaktion bis der Tod die letzte Herrschaft übernimmt – oder jemand kommt, der in der Lage ist, den Krieg wieder in Ketten zu legen. Unschädlich gemacht ist der Krieg auch dann nicht. Er ist nur gefesselt. Um den Krieg zu fesseln, helfen Kerzen und Gebete allein ebenso wenig wie die Beschwörung von Eisen und Steinen, sie mögen von sich aus eine Brücke bauen. Wer den Frieden will, muss sich selbst ermächtigen, ihn auch zu schaffen – und den Krieg zu binden. Der Frieden ist wohl nicht zu haben ohne Schwielen an den Händen …
Nicht nur das Volk Israel hat in seiner Geschichte immer wieder lernen müssen, das Frieden nur möglich ist, wenn der Krieg gefesselt wird. In der Sprache des Alten Testamentes tritt der Friede ein, wenn sich das Volk Israel zu Gott wendet. Es ist genau der Gott, von dem es bei Paulus heißt:
Mein ist die Vergeltung, ich werde vergelten, spricht der Herr. Römer 12,19c
Damit ist für Paulus gerade nicht gesagt, dass er ein rachsüchtiger Gott sei. Im Gegenteil: Indem Gott das Vergeltungsrecht für sich allein in Anspruch nimmt, entzieht er den Menschen das Kriegsrecht. Für die nämlich gilt:
Übt nicht selbst Vergeltung, Geliebte, sondern lasst Raum für das Zorngericht Gottes. Römer 12,19a
Im Gegenteil: Die Glaubenden sollen nicht nur Gottes Exklusivrecht über Leben und Tod achten und selbst dem Feind nicht das Lebensrecht absprechen, sondern ihm sogar Leben ermöglichen:
Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute! Römer 12,20f
Wer den Feind nährt, statt ihn auszuhungern, wer ihm zu trinken gibt, statt seine Wasserleitungen zu zerstören, der zerstört nicht nur nicht, sondern der baut Brücken. Damit eine Brücke aber gebaut werden kann, braucht es an den Enden stabile Brückenköpfe. Es braucht die Bereitschaft, die Brücke an den Enden tragen zu wollen. Sicher: Es wird stabile Pfeiler brauchen, tragfähiges Material, über das man gehen kann – all das ist notwendig, keine Frage! Wo aber die Brückenköpfe am Anfang und am Ende fehlen, wird keine Brücke entstehen können. Das ist der Anfang für die Fesselung des Krieges und damit die Voraussetzung für Versöhnung – sei es im kleinen Bereich des Zwischenmenschlichen, sie es im Großen der Völkerverständigung. Was aber passiert, wenn Brücken zerstört werden, kann man im Buch des Propheten Jeremia lesen. Durch den Bund mit Gott hat sich Israel gebunden und so die Brücke mitgeschaffen, die Gott und sein Volk verbindet. Wo aber nur ein Brückenkopf abgebrochen wird, verliert die Brücke ihre Tragkraft. Das wird aus dem Wort des Herrn deutlich, das Jeremia Israel verkündet:
Aber ihr habt euch abgewandt und habt meinen Namen entweiht; denn jeder von euch hat seinen Sklaven und seine Sklavin zurückgeholt, die ihr doch völlig freigelassen hattet. Ihr habt sie mit Gewalt dazu gebracht, wieder eure Sklaven und Sklavinnen zu sein. Darum – so spricht der HERR: Ihr habt mir nicht gehorcht, jeder für seinen Stammesbruder und seinen Nächsten Freilassung auszurufen. – Siehe, ich rufe euch eine Freilassung aus – Spruch des HERRN – für Schwert, Pest und Hunger und ich mache euch zu einem Bild des Schreckens für alle Reiche der Erde. Ich mache die Männer, die meinen Bund verletzt und die Worte meines Bundes, den sie vor mir geschlossen hatten, nicht gehalten haben, dem Kalb gleich, das sie in zwei Hälften zerschnitten haben und zwischen dessen Stücken sie hindurchgegangen sind. Die Großen Judas und die Großen Jerusalems, die Höflinge, die Priester und das ganze Volk des Landes, die zwischen den Stücken des Kalbes hindurchgegangen sind, ich gebe sie in die Hand ihrer Feinde und in die Hand derer, die ihnen nach dem Leben trachten. Ihre Leichen sollen den Vögeln des Himmels und den Tieren des Feldes zum Fraß dienen. Jeremia 34,16-20
Der Krieg wird entfesselt, weil die Fragilität des Friedens den eigenen Bedürfnissen geopfert wurde. Es reicht schon einer, der den Frieden um des eigenen Ichs willen nicht mehr will …
Das Bild von den in Hälften geschnittenen Tieren, durch die die Männer, die den Bund mit Gott seinerzeit geschlossen haben, prägt auch die erste Lesung vom zweiten Fastensonntag im Lesejahr C. Dort wird Abram, der noch nicht Abraham heißt, zuerst die göttliche Verheißung zuteil, seine Nachkommen werden zahlreich sein. Abram verlangt ein Zeichen. So sind wir Menschen: Wir möchten nicht nur glauben, sondern den Glauben im wahrsten Sinn des begreifen. Das Zeichen wird von Gott gewährt:
Der Herr antwortete ihm: Hol mir ein dreijähriges Rind, eine dreijährige Ziege, einen dreijährigen Widder, eine Turteltaube und eine junge Taube! Abram brachte ihm alle diese Tiere, schnitt sie in der Mitte durch und legte je einen Teil dem andern gegenüber; die Vögel aber zerschnitt er nicht. Genesis 15,9f
Das Zeichen, das an sich archaisch-verstörend ist, ist uns hier schon aus dem Buch Jeremia bekannt. Offenkundig dient das Zerteilen der Tiere und das durch sie Hindurchgehen die äußere Besiegelung eines Bundes. Die Tiere geben ihr Leben, um Frieden unter den Menschen zu schaffen – nichts anderem dient ja ein Vertrag. Es ist nicht bloß ein Handel. Es ist der Wert des Lebens, der in den toten Tierhälften sichtbar vor Augen liegt. Wenn keine Einigung möglich ist, wenn kein Friede wird, wird der Tod herrschen, der in den Tierhälften sichtbar vor Augen liegt. Deshalb müssen die Bundespartner auch durch die Tierhälften wandeln. Sie sind der Brückenkopf des Friedens: Die Erkenntnis des entfesselten Todes, wenn der Weg der Versöhnung nicht gegangen wird. Und genau dieses Schicksal stellt Gott dem Abram vor Augen, wenn man jene Verse mitliest, die in der ersten Lesung vom zweiten Fastensonntag im Lesejahr C leider ausgespart werden und so das vermeintliche Tieropfer merkwürdig in der Luft hängen lassen:
Da stießen Raubvögel auf die toten Tiere herab, doch Abram verscheuchte sie. Bei Sonnenuntergang fiel auf Abram ein tiefer Schlaf. Und siehe, Angst und großes Dunkel fielen auf ihn. Er sprach zu Abram: Du sollst wissen: Deine Nachkommen werden als Fremde in einem Land wohnen, das ihnen nicht gehört. Sie werden dort als Sklaven dienen und man wird sie vierhundert Jahre lang unterdrücken. Aber auch über das Volk, dem sie als Sklaven dienen, werde ich Gericht halten und nachher werden sie mit reicher Habe ausziehen. Du aber wirst in Frieden zu deinen Vätern heimgehen; im glücklichen Alter wirst du begraben werden. Erst die vierte Generation wird hierher zurückkehren; denn noch hat die Schuld der Amoriter nicht ihr volles Maß erreicht. Genesis 15,11-16
Wo der Krieg entfesselt wird, wird es Generationen dauern, bis Frieden wieder möglich wird. Menschen allein ist das – so jedenfalls die erste Lesung vom zweiten Fastensonntag im Lesejahr C – kaum möglich:
Die Sonne war untergegangen und es war dunkel geworden. Und siehe, ein rauchender Ofen und eine lodernde Fackel waren da; sie fuhren zwischen jenen Fleischstücken hindurch. An diesem Tag schloss der HERR mit Abram folgenden Bund: Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Strom Ägyptens bis zum großen Strom, dem Eufrat-Strom. Genesis 15,17f
Hier ist es Gott, der einseitig den Bund anbietet. Er geht allein durch die Fleischstücke hindurch. Das ist ein Zeichen: Wer den Frieden gewinnen und den Krieg fesseln will, darf nicht auf den ersten Schritt des Feindes warten – er muss den ersten Schritt tun. Auch der geliebte Feind wird Feind bleiben; aber er wird leben.
Wer das Leben wählt, muss Brücken bauen. Beten ist gut, hilft aber allein nicht. Erst wenn das Beten zur Ermächtigung vor Gott und von Gott her wird, dem Feind die Waffe aus der Hand zu nehmen, werden Brücken möglich werden. Das wird nicht ohne Kampf gehen. Der Krieg lässt sich nicht so einfach wieder fesseln. Dabei ist es naiv und illusorisch, den ersten Schritt vom anderen zu erwarten – zumal, wenn der andere als Aggressor auftritt. Auch der Friede muss wohl errungen werden – freilich wohl kaum mit den Waffen der Finsternis (vgl. Römer 13,12) – und zu denen gehören Mäßigung und die Zähmung der eigenen Begierden. Die Vergeltung ist allein Gottes Sache, wehrhafte Friedfertigkeit des Menschen Aufgabe, um den Krieg wieder in Ketten zu legen. Frieden für die Ukraine! Frieden auf Erden!
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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